BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die Geschichte der drei nicht gehaltenen Eröffnungsvorträge»
von Artus P. Feldmann
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Gedanken zur Eröffnung des 1. Bochumer Symposions für Konstruktivismus und Psychologie am 23. 5. 1991

Wenn eine «Bochumer Arbeitsgruppe für sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung» zu einem «1. Bochumer Symposion für Konstruktivismus und Psychologie» einlädt, könnte ein ganz naheliegender erster Gedanke zu einem Eröffnungsvortrag darin bestehen, etwas über die Geschichte, die Entwicklung, die Traditionen dieser Arbeitsgruppe zu erzählen. Das wäre für viele TeilnehmerInnen, die uns nicht kennen, vermutlich auch ziemlich interessant, aber, ich kann es nicht. Es ist mir nicht nur schwer möglich, die letzten 5 Jahre der Entwicklung unseres Denkens in der Bochumer Arbeitsgruppe zu rekonstruieren oder gar zu dekonstruieren, ihr eine Entwicklungslinie, einen bestimmten Sinn zu geben, nein, ich habe auch eine Abneigung gegen das Wort Geschichte: Wenn in letzter Zeit jemand über den Tellerrand der Geschichte blickt, oder wenn gar der Mantel der Geschichte weht, bekomme ich regelmäßig ein eiskaltes Gefühl im Rücken, da ich ahne, daß die Karawane unbeirrt weiter zieht. Egal, was passiert oder passieren wird. Keine gute Vorstellung.

Ein zweiter naheliegender Gedanke zu einem Eröffnungsvortrag wäre, zu erzählen, womit sich die Bochumer Arbeitsgruppe zur Zeit beschäftigt. Nun, das ist schnell gesagt, das reicht leider kaum für einen Eröffnungsvortrag: Wir interessieren uns als soziale KonstruktivistInnen für Sprachfiguren, für Gestenfiguren, für kommunale, soziale Diskurse und Spiele, für kommunale Plausibilitäten und Selbstverständlichkeiten, wir interessieren uns für die aus kommunalen Traditionen erwachsenen Mythen und Wirklichkeitskonstruktionen. Kurz: wir interessieren uns für das, was in verschiedenen kommunalen Systemen sagbar und zeigbar ist, wohlwissend, wie wenig wir damit über das Nicht-Sagbare, das Nicht-Zeigbare erfahren.

Ein dritter naheliegender und plausibler Gedanke zu einem Eröffnungsvortrag wäre, unser soeben skizziertes allgemeines Forschungsinteresse auf eben diesen Eröffnungsvortrag eines Symposions zu beziehen. Auch hier gibt es ja ein Feld des Sagbaren und Nicht-Sagbaren, hier gibt es Zwänge, Vorbilder, Muster, Rahmen und Spielregeln, in denen ich mich bewegen kann. So bringen sich vor allem gut sozialisierte Männer – wie ich – leicht in die Bedrängnis, kommunale Mythen, Vorbilder, sagbare Plausibilitäten und Standardgeschichten unbedingt abstreifen und damit besonders originell sein zu wollen. Dazu kommt bei mir noch hinzu, daß ich denke, bei diesem Vortrag erwarten meine Freunde und Freundinnen aus der Bochumer Arbeitsgruppe von mir zu Recht etwas ganz besonderes. O.k.: Ich versuche im folgenden erst gar nicht originell zu sein, es ist auch sinnlos es zu versuchen, ich bin es. So folgt nun endlich der Eröffnungsvortrag. Hier ist er: Die Geschichte der drei nicht gehaltenen Eröffnungsvorträge.

Als wir vor einiger Zeit in der Bochumer Arbeitsgruppe dieses Symposion planten, hatte ich gleich den flammenden Gedanken, den Eröffnungsvortrag zu halten. Ich war in meiner wissenschaftlichen Jugendzeit gelegentlich mal auf Kongressen gewesen, habe dort gar Vorträge gehalten, ich glaube in Regensburg, das liegt an Böhmens Strand, und diese Abläufe und Darstellungsformen hatten mich seinerzeit sehr enttäuscht, um mich vorsichtig auszudrücken. Denn wie wirkte die auf üblichen Kongressen gepflegte Wissenschaftsprosa auf mich? Wie syntaktische Diaspora und semantisches Niemandsland!

Und nun war also unser 1. Symposion ante portas und ich stellte mir in meiner unbekümmerten Jugendlichkeit vor, den Eröffnungsvortrag zu halten: Das war wunderbar! Dieser Vortrag sollte natürlich ein Kracher, ein Wirker werden, ich wollte ein Leuchtfeuer setzen, ja ich wollte die brennende Fackel der Erkenntnis in das zaudernde Publikum werfen. Und der Titel dieses geplanten Vortrages sollte sein: Die Psychologie ist tot, es lebe die … nein, eben nicht die Psychologie, sondern die Lebenswissenschaft. An diesem Titel ist der Vortrag gescheitert, ich gebe es zu. Wie klingt das? Es lebe die Lebenswissenschaft!? Das klingt unmöglich. Ich weiß, daß ich damit alle Vorwürfe, die Karl Kraus auf Heinrich Heine häufte, nun auch auf mich lenke, aber, leider, es geht nicht.

Aber folgendes geht: Was ich in diesem Vortrag erzählen wollte, war, daß ich denke, daß das Wort «Psychologie» eigentlich falsch gewählt ist, weil es voraussetzt und nahelegt, daß irgendetwas in den Menschen sei, was es zu entdecken gelte. Nur, was soll in den Menschen sein? Der Mensch wird durch das Wort «Psychologie», durch die Wortwahl «Psychologie» zu einem psychischen Homunculus, der in seine psychologistischen Tatbestände und Zuständlichkeiten zerfällt. Wobei die angeblichen Tatbestände ja erst durch Substantivierungen, Ontologisierungen und Reifikationen in der Sprache entstehen. Ja, was sollen wir mit dem Wort Psychologie anfangen? Ich weiß es nicht. Nebenbei bemerkt: Das Wort Soziologie erscheint mir nicht falsch gewählt, da zwischen den Menschen die Sprache oder andere Gestenfiguren sind und nur dort, zwischen ihnen, Sinn machen. Aber in der Psychologie? Ich denke, unser Fach scheitert bereits an diesem Wort. Das einzige, was wir sagen können, ist, daß Menschen sich in einer ökologischen und sozio-kulturellen Nährlösung bewegen, quasi in ihr schwimmen, aber was soll in ihnen sein, außer bestimmte Mengen der Nährlösung, die sie beim ungeschickten Schwimmen geschluckt haben. Menschen leben also und sie zeigen Lebensäußerungen. Wie sollen wir Aussagen über Innereien machen?

So ungefähr sollte der erste nicht gehaltene Vortrag aussehen. Nun ja, und als die Zeit verging, als das Symposion immer näher rückte, genauer, vor etwa sechs Wochen, erschienen mir diese flammenden Gedanken fürchterlich selbstverständlich und wenig mitteilenswert. Ich konnte mir gar nicht mehr vorstellen, überhaupt einen Eröffnungsvortrag zu halten und teilte dies meinen Freunden und Freundinnen der Bochumer Arbeitsgruppe mit. Die guckten etwas skeptisch und verwundert und meinten, das müßte ich mit mir ausmachen. Oh, Männer können ja so einsam sein! Zu meinem Unglück produzierte mein Gehirn kurz danach die kommunal sinnvolle und plausible Sprachfigur: «Wenn ein Mann etwas anfängt, dann führt er es auch zu Ende!» und ich mußte mich weiter auf die Suche nach einem schönen Gedanken für einen Eröffnungsvortrag machen.

So komme ich schon zum 2. nicht gehaltenen Vortrag. Das Thema fiel mir vor etwa 3–4 Wochen ein, aber ich werde, wie sich gleich plausibel ergeben wird, auch diesen Vortrag nicht halten können. Der Titel war: Post-konstruktivistische Reflexionen. Eine Wahnsinns-Überschrift. Wirklich! Ich bin Meister im Entwerfen von Überschriften. Ein merkwürdiger, denkwürdiger, ein aufregender Titel! Doch, hier das 1. Symposion für Konstruktivismus und Psychologie, und dort gleich die post- konstruktivistischen Reflexionen, das hätte es sein können! Das wäre wirklich gut gewesen. Aber, es ging nicht.

Was wollte ich in diesem 2. nicht-gehaltenen Vortrag sagen? Ich hatte zuerst daran gedacht, in diesem Vortrag auf die Gefahren hinzuweisen, die sich für uns ergeben, wenn wir beginnen, an unsere Begriffe zu glauben. Natürlich gibt es Autopoiese zum Beispiel nicht wirklich, wir können uns Autopoiese als Prozeß vorstellen, um Lebendes besser zu verstehen. Mehr ist nicht drin, das sollten wir angesichts der derzeitigen Popularisierung, Medialisierung, ja Profanisierung dieses Wortes nicht vergessen. Danach hatte ich den Gedanken, in diesem 2. Vortrag einmal zu skizzieren, was eigentlich übrig bleibt, was festhaltenswert, was unvergänglich ist, nachdem man/ frau sich mit Konstruktivismus beschäftigt hat. Was bleibt übrig? Ja was?

1. Der Systemgedanke: Psychologie als Wissenschaft von lebenden Systemen innerhalb sozialer und ökologischer Systeme. Ich denke, dahinter können wir nie mehr zurück. 2. Die Kybernetik 2. Ordnung: Es gibt keine Beobachtungen ohne BeobachterInnen, oder im Sinne Maturanas: Alles was gesagt wird, wird von jemand gesagt. Dahinter können wir nie mehr zurück! 3. Als Konsequenz: Unser zweigeteilter Gedanke des sozialen Konstruktivismus, daß Menschen aus verschiedenen kommunalen Systemen zum einen verschiedene Wirklichkeitsgrammatiken haben und somit als lebende Systeme (im Sinne von Bateson) epistemologische Systeme sind. Zur Definition einer Person, ja zur Definition dessen, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmachen könnte, würde somit die Frage nach der persönlichen Epistemologie gehören: Wie siehst Du die Welt? Welche Wirklichkeitsgrammatik hast Du? Und: Das bist Du! Bis auf weiteres! Und der zweite Teil unseres Gedankens besteht darin, daß die Wirklichkeitsgrammatiken, die Epistemologien von Einzelwesen auf der einen Seite zwar von ihnen selbst hergestellt werden (Autopoiese, Selbstreferentialität, operationale Geschlossenheit), auf der anderen Seite aber eben nicht von ihnen selbst hergestellt werden (trotz Autopoiese, trotz Selbstreferentialität, trotz operationaler Geschlossenheit). Das ist das soziale am Sozialen Konstruktivismus, das ist die Aporie, mit der wir uns als Systembeteiligte und als Forscherinnen herumschleppen, das ist das unendliche, in sich selbst zurückkehrende Band, auf das wir immer wieder geschleudert werden, sobald wir es wagen, über diese Aporie nachzudenken. Wir sind, und im Sinne von Autopoiese haben wir uns auch, aber gleichzeitig haben wir uns nicht, sondern andere haben uns!

Wir leben in, von und mit kommunalen Mythen und transportieren diese während unseres Lebens ständig weiter. Wirklichkeitsgrammatiken zu haben heißt, kommunale Mythen zu leben, heißt in unserer Kultur, in Sprachfiguren Sinn zu sehen. Und, jetzt kommt es: der Sinn ist vorher da! Der Sinn liegt fest, bevor wir schauen und dann sehen, bevor wir lauschen und dann hören, bevor wir probieren und dann schmecken! Das ist es! Friedrich Hölderlin, sagte das in der letzten Fassung des «Patmos», etwa so um 1803, kurz bevor er wahnsinnig wurde und die letzten 36 Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung, also vermutlich in der Wahrheit und im Licht lebte: «Schauen, müssen wir mit Schlüssen, der Erfindung, vorher!» Und Otto Weininger, der vielgeschmähte, der nur 23 Jahre alt geworden ist, hat es im Jahre 1900 so gesagt: «Wir erwehren uns der Welt durch unsere Begriffe!» Und Oswald Wiener, der vielgerühmte, hat es im Jahre 1969 so gesagt: «Populationen leben den Stil der Zitate, derer sie mächtig sind!» Alle drei Aphorismen sind so unglaublich präzise. Und Oswald Wiener sollten wir aufgrund seines Aphorismus als Begründer des sozialen Konstruktivismus feiern!

Diese drei Punkte (Systemgedanke, Kybernetik 2. Ordnung und den zweigeteilten Grundgedanken des sozialen Konstruktivismus) könnten also transportiert werden in alles, was nach der Aufstellung dieser Punkte noch kommen mag. Diese drei Punkte bleiben. Nur, was kommt danach? Wie geht es weiter? Wo sind die neuen Gedanken, wo sind die neuen Fackeln der Erkenntnis, die auf mich geschleudert werden? Das genau ist die Frage, denn das weiß ich auch nicht. Also noch einmal, was kommt nach der Konstatierung der drei transportfähigen Gedanken, wo sind die post-konstruktivistischen Reflexionen? Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gefunden! So bin ich im Moment ohne Perspektive und Ihnen und euch ist vermutlich klar, daß damit dieser 2. Vortrag auch gescheitert war. Ich konnte ihn nicht halten, weil mir der Schluß fehlte.

Schon komme ich zum 3. nicht gehaltenen Vortrag. Vor etwa zwei Wochen hatte ich wieder mal eine Begegnung der vierten Art mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiter unserer Fakultät, die es sich zur schönen Gewohnheit haben werden lassen, sich in die offene Türe meines Dienstzimmers zu stellen und eine Portion Sprachmüll herein zu werfen (Vom Niveau her, als Vergleich: «Na, du Idealist!»). Diesmal hörte ich folgendes: «Hömma, Sozialer Konstruktivismus, ist das nicht einfach Marxismus?» Ich wollte mich schon gleich in gewohnter Weise schaudernd abwenden, als mir einfiel: Holla, das hast Du doch auch schon mal gedacht: Das Sein bestimmt das Bewußtsein! Und das Bewußtsein bestimmt das Sein! Die Zugehörigkeit zu einem kommunalen System wird ziemlich stark festlegen, welche Sprachfiguren für sinnvoll gehalten werden und welche nicht, und diese Sprachfiguren wieder werden … Holla! Meine Gedanken kreißten! Und sofort fiel mir das Thema eines neuen Eröffnungsvortrages ein: Konstruktivismus und Marxismus! Oder: Konstruktivismus als Marxismus! Oder Marxismus: Der 2. Blick! Oder: Constructivism: revisited! (Ich sage nur Überschriften!) Das war die Rettung! Der horizontale Silberstreifen! Das war die Fackel, die ich zu schleudern gedachte!

In den wenigen noch verbleibenden Tagen stürzte ich mich auf die einschlägige Literatur. Nun, der Duktus dieser Geschichte über die drei nicht gehaltenen Vorträge nimmt ja bereits vorweg, daß aus diesem 3. Vortrag auch nichts werden konnte. Warum? Die Analogie zwischen Konstruktivismus und Marxismus ist zu schwach. Es gibt extreme Unterschiede zwischen beiden Lagern, vor allem im epistemologischen Bereich. Und da sind wir sensibel. Da lassen wir nicht mit uns reden. Denn Marxisten lieben es insbesondere mit all dem radikal abzurechnen, was sie für den deutschen philosophischen Idealismus halten. Und: Idealismus in diesem alten Sinne, und Konstruktivismus im postmodernen Sinn, liegen ganz nahe beieinander! So ist es.

Erstaunlich ist, daß MaterialistInnen und MarxistInnen entsetzlich naive RealistInnen sind, die epistemologische Denkfehler machen, über die wir, als soziale KonstruktivistInnen, nur den Kopf schütteln können. Es ist kaum glaublich, aber in materialistischen und marxistischen Büchern werden ununterbrochen Behauptungen über die wirkliche Wirklichkeit aufgestellt, die auch nicht im Ansatz als Behauptungen aufgefaßt werden. Oder anders: Die Kybernetik 2. Ordnung gibt es im marxistischen Denken nicht. Was als Ähnlichkeit aber bleibt und bemerkenswert ist, ist der eben schon zitierte Gedanke: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Und aus eben diesem Bewußtsein erwächst eben dieses Sein. Und so weiter. Obwohl dies im Marxismus ja eher historisch gesehen wird, indem eben auf zwangsläufige gesellschaftliche Entwicklungen aufmerksam gemacht werden soll, hat dieser Gedanke in meinen Augen doch eine Sinnkomponente, die mir sehr gefällt. Denn diese Komponente, diesen Teil-Gedanken haben wir als soziale KonstruktivistInnen ja ziemlich strapaziert, wenn wir, wie ich das oben geschildert habe, vom Einfluß kommunaler Mythen sprechen.

Letztlich erschienen mir, vier Tage vor dem Symposion, die Parallelen zwischen Konstruktivismus und Marxismus doch zu dürftig zu sein, um daraus eine Gleichung Konstruktivismus gleich Marxismus, geschweige denn einen schönen Vortrag machen zu können. So endete ich damit, nicht zu wissen, was ich denn heute erzählen könnte. Und so nahm ich mir vor, zu erzählen, was nicht erzählbar war. Und so wurde es erzählbar. Und schon ist mein Eröffnungsvortrag, meine Geschichte der drei nicht gehaltenen Vorträge zu Ende: Sie sehen, ihr seht, was ich alles nicht weiß und worüber ich nicht sprechen konnte. Aber eins weiß ich, ich freue mich auf dieses Symposion!



Erstellt: 30. August 2000 – letzte Überarbeitung: 30. August 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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