BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Gruppenwahn, ein fach-psychiatrisches Gutachten»
von Kommune 80
Als PDF-Datei laden

Ich freue mich, Ihnen heute erstmalig eine neue Spielart einer psychischen Deformation vorstellen zu können, die sich hochsprachlich als «Methoden der Bochumer Arbeitsgruppe» bezeichnen läßt. Dem Laien erscheint sie als eine gelungene Produktionsform sprachlicher Erzeugnisse, dem Kundigen jedoch offenbart sich hier gleich eine besondere Variante eines trizyklischen Gruppenwahns. Wie der Fachname bereits andeutet, ist dieser Gruppenwahn gekennzeichnet durch einen zweifachen Wechsel seiner Manifestationsart, der am Anfang romantischer, dann moderner und schließlich postmoderner Natur ist. Zu Beginn dieses Wahnzyklusses zeigen die Betroffenen im wesentlichen drei verschiedene Symptome. Die Heimtücke dieser psychischen Deformation besteht allerdings darin, daß gerade am Anfang die Symptome wegen ihrer romantischen Verspieltheit und Leichtigkeit allzu oft übersehen bzw. für eine relativ normale Art der psychologischen Forschung gehalten werden können. Die bemitleidenswerten Personen – die sich im übrigen selbst selten für bemitleidenswert halten und ihr Handeln tatsächlich als psychologische Forschung, ja sogar die einzig wahre Art der psychologischen Forschung wahrnehmen und es – in schlimmen Fällen – sogar für möglich halten, sie seien näher dran als die etablierte Mainstreampsychologie – diese bemitleidenswerten Personen zeigen also bei genauer und fachkundiger Betrachtung folgende Auffälligkeiten:

a) Die Personen kehren in sich und betrachten ihre eigenen Vorurteile, ihre Verhaltens- und Gedankenspiele selbst, mit dem wahnwitzigen Anspruch, zu sich selbst eine BeobachterInnenperspektive einnehmen zu können.

b) Die Betroffenen lassen sich zu fixen und periodisch wiederkehrenden Zeiten, meist donnerstags, verzaubern von literarischen Ausflügen, faseln redundant über immer dieselben Theateraufführungen, Lieblingsideen und Kinofilme. Sie verfallen in den sogenannten Lebensgenußwahn.

c) Die Wahnsinnigen glauben in den Lebensgeschichten anderer Personen gedanklich rumwuseln zu können, laufen wie Falschgeld durch die Welt, um den Lebensäußerungen ihrer Mitmenschen zu lauschen und erzählen sich dann dauernd, wie aufregend nah dran sie doch am Leben sind.

Der Übergang zum zweiten Teil des trizyklischen Gruppenwahns, der die Personen von der harmlosen romantischen Phase in die manische moderne Phase treibt, sieht typischerweise so aus: Jemand erzählt z.B. eine Geschichte über ein befreundetes Pärchen und wie sie ihn aufgegabelt hat und schon nimmt das Wahngebäude mehr und mehr Gestalt an. Sätze wie: «Ah, ja, das ist eine spannende Sache, damit müßte man sich eigentlich mal näher beschäftigen, das ist im Grunde ja ein ganz typisches Muster, da ließe sich sicher viel drüber erzählen…» fallen. Letzteres wird dann auch ausgiebig getan, eine Anekdote reiht sich an die nächste, es werden zunächst frisch und munter – dann zunehmend manisch und zwanghaft – bis zum Exzeß Sprachspiele und Verhaltensmuster erfunden. Beim nächsten gemeinsamen Treffen hat dann die eine oder andere den Faden weitergesponnen (nicht alle an der Gruppe teilnehmenden fallen dem Wahn in gleich starker Weise zum Opfer), Kühne steuern autobiografische, Kluge literarische Geschichten bei, Weise bzw. nur geringgradig Betroffene verkaufen die autobiografischen Geschichten als biografische. So steht denn das Beziehungsleben eines Peter Altenberg neben dem einzelner Gruppenwahnmitglieder und so manche Geschichte, die dem bei dieser Wahnform typischerweise auftretenden «Freund meiner Freundin» passiert, wird wohl auch einfach frei erfunden sein. In diesem Stadium wird stets betont, wie interessant und überaus spannend dieses ganze Thema doch sei, aber schließlich wolle es man sich ja – so das an gedankliches Haften erinnernde Mantra – einfach mal ein bißchen schön machen. Typisch für diese Übergangsperiode ist auch der Satz: Schließlich muß man ja nicht aus allem ein Arbeitspapier machen, oder?

Doch nur in seltenen Fällen gelingt es, den Wahnsinn an dieser Stelle bereits aufzuhalten. Meist rutschen die Betroffenen ohne Vorwarnung und ohne eine realistische Chance des Entrinnens in die zweite, die moderne Wahnphase. Wie bereits erläutert verläuft der Beginn dieses Gruppenwahns meist unbemerkt, die Wahnentwicklung ist zunächst schleichend, verbunden mit einer Negation sämtlicher Symptome. Beim ersten deutlich erkennbaren Anzeichen – meist der Satz «Laßt uns das doch einfach mal aufschreiben» – ist dann in aller Regel auch schon alles zu spät. Von da an breitet sich die sogenannte Sammel- und Systematisiersucht epiedemieartig aus, Geschichten werden erinnert, erzählt, erfunden, nur um dann analysiert, kategorisiert und systematisiert in ein Protokoll aufgenommen zu werden… Vor allem für die hochgradig Betroffenen ist diese Wahnphase geprägt von großer, sozusagen ataristischer Anstrengung, oft genug verbunden mit dem Verlangen nach dem Genuß alkoholhaltiger Getränke. Die Armen machen selbst vor hochkomplexer wissenschaftlicher Literatur selten Halt, ihre Sammel- und Archiviermotivation kennt keine Grenzen. Selbst Orte, die ein vernünftig denkender Mensch stets meiden würde wie die Pest, ich denke da beispielsweise an den Fakultätsrat, werden aktiv aufgesucht und nach «Lebensäußerungen», wie die bedauernswerten IllusionistInnen das nennen, abgegrast. Die Tatsache, daß sie sich regelmäßig zusammenrotten, hängt auch damit zusammen, daß die Außenwelt zunehmend zum reinen Objekt von Betrachtungen wird, die unter oft monatelang andauernden Beobachtungsperspektiven beäugt wird. Kommunikation ohne Meta-Ebene wird nahezu unmöglich, alles scheint für die Wahnsinnigen irgendwie zusammenzuhängen, schon bald erkennen sie überall Muster, die doch nur in ihren Köpfen existieren. Weist man sie im ärztlichen Gespräch darauf hin, gehen sie sogar so weit, zu behaupten, daß das doch ohnehin klar sei und man selbst da auch keine Ausnahme mache. Aber davon nimmt man sich natürlich als erfahrener Psychiater nichts an.

Der Übergang zum letzten, zum postmodernen Stadium geht mit einem eindeutigen Stimmungsaufschwung einher. Die Betroffenen überschlagen sich vor Ideen und Vorschlägen, wie ihr sprachliches Wahnprodukt umgesetzt werden könnte. Nie zeigt sich deutlicher, wie nah Genie und Wahnsinn tatsächlich zusammenliegen. In immer wieder auftretenden selbstreferentiellen Schleifen werden aktuelle Anekdoten und Anspielungen erzählt, die unter Nutzung von multimedialen Konzepten wie Leserbriefen oder Musikstücken in die Produktion der sogenannten Arbeitspapiere integriert werden. Kennzeichnend für diese Phase ist die Verknüpfung von unterschiedlichen Lebenswelten, zwischen denen munter hin und her gewechselt wird. Unterstützt wird dies durch eine starke Interdisziplinarität innerhalb der Gruppe, PhysikerInnen, PhilosophInnen, SozialwissenschaftlerInnen, MedizinerInnen und anderes Volk wurde in der Gruppe schon bei Teamarbeit beobachtet. Dabei entstehen bei den Betroffenen – intrapsychisch betrachtet – permanente Perturbationen, denen sich die Betroffenen aktiv hingeben. Dieses auch als Oszillationssucht bekannte Phänomen führt letztlich zur Auflösung, ja gar Ablehnung einer stabilen eigenschaftsorientierten Persönlichkeitsstruktur, zugunsten einer multiplen Persönlichkeit, von den Betroffenen als Personenpersonenkonzept bezeichnet, die ihren Gipfel im Verzicht auf jegliche personengebundene AutorInnenschaft findet.

Ein abschließendes Urteil über diese seit zehn Jahren in der Wissenschaft zu beobachtende Form des Gruppenwahns möchte ich als Experte an dieser Stelle nicht fällen, aber wenn sie mich privat fragen, so würde ich mit Karl Kraus antworten:

«Wahnverpflichtet durchs Leben wanken, das könnte immer noch ein aufrechterer Gang sein als der eines Wissenschaftlers, der sich an den Abgründen entlang tastet.»



Erstellt: 8. August 2000 – letzte Überarbeitung: 8. August 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.