BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Schmecken»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Henriette Orheim
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Über den Niedergang des Schmeckens ließe sich mancherlei sagen. Gehen wir zu einer beliebigen Tages- oder Nachtzeit durch die City, sehen wir allüberall an den Häuserspitzen, schöne essende und trinkende Menschen sitzen. Nein, falsch: Stehen; oder gehen. Während des Essens und Trinkens. Draußen. In der Öffentlichkeit. Es gibt keine Mahlzeiten mehr, denn gegessen und getrunken wird immer.

Aber was essen sie denn? Das Öffentliche. Das Offensichtliche. Die Zentralgerichte.

Aber was schmecken sie denn? Das Öffentliche. Das Offensichtliche. Den Zentralgeschmack.

Unsere Grabrede zum Tode des Schmeckens (langsam und erwartet) beginnt mit einer Szene:
Sie ist inmitten ihrer Welt, also in der ganzen Welt, in der Welt schlechthin. In der Wahrheit. In der Hand hält sie ein Glas kühlen Weißweins. Schon lange. Sie hält es mit der ganzen Hand umfaßt, das sieht gut aus, und der Weißwein wird dadurch schön warm. Das weiß sie aber nicht, denn sie ist bei sich. Ganz. Neben ihr auf dem Tisch steht noch ein Glas Fanta und eine Tasse Kaffee. Zu den vor ihr stehenden Nudeln mit Zucchinistreifen und Mozzarella trinkt sie wahlweise Wein, Limonade oder Kaffee. Sie trinkt das, wozu sie gerade Lust hat. Sie allein muß ja am besten wissen, was sie gerade will. Sie ist ja ihre Welt. Wenn sie nicht weiß, was sie schmeckt, also fühlt, wer dann? Jetzt will sie gerade den Wein trinken, nein ihn probieren. Sie hält das Glas ja schon eine Weile in der Hand. Eine zweite Sie sitzt mit am Tisch und hat ihr das Glas vor einiger Zeit gefüllt. Dazu sagte die zweite Sie etwas. Die erste Sie hatte aber nicht zugehört. Sie war bei sich. Aber jetzt, jetzt probiert sie den Wein aus dem Glas, das sie mit ihrer ganzen Hand umfangen hält und sagt: «Mmh, gut!» Das dauert nicht einmal eine Sekunde, da steht das Glas mit dem Wein schon wieder auf dem Tisch. Was hat sie geschmeckt? Jetzt nimmt sie eine Gabel von den Nudeln, die schon längere Zeit kalt geworden sind. Das merkt sie aber nicht, denn sie ist ganz bei sich. Außerdem muß jede selbst am besten wissen, was sie tut. Jetzt trinkt sie vom Kaffee, jetzt von der Limonade, jetzt nimmt sie eine Gabel Nudeln, jetzt kommt wieder der Wein. Die andere Sie sagt in dem Moment, als die erste Sie das Glas zum zweiten Mal mit der ganzen Hand umfangen an den Mund führt, das Wort: «Chardonnay!» Die erste Sie sagt: «Mmh, gut, Chardonnay!» Denn diesmal hat sie zugehört, das Wort aus dem ewig kreisenden Kurzzeitspeicher geladen und ausgesprochen. Den Wein hat sie nicht gekostet, sie nippte nur ein wenig, schluckte und sofort, also sofort, wirklich ganz sofort sagte sie das bewährte: «Mmh, gut!» Nein, stimmt nicht. Sie sagte ja: «Mmh, gut, Chardonnay!» Nun nimmt sie wieder einen Schluck Limonade, oder Kaffee, oder Wein, oder Nudeln. Falls es die soziale Situation erfordern würde, könnte sie natürlich auch sagen: «Brrrr, scheußlich, Chardonnay!». Das würde sie auf jeden Fall auch beherrschen. Hier sagt sie es aber nicht. (Ende der Szene)
Aber wann sagt sie was, wenn Sie den Wein schmeckt? Wann «Mmh!»? Wann «Brrr!»? Tja, kommt drauf an. Worauf? Nun, zunächst einmal spielt der soziale Raum eine Rolle, in dem sie schmeckt, und vor allem der Kontext des Schmeckens. Dazu kommen die signifikanten Anderen und ihre momentane Laune. Es kommt also nicht auf den Wein an? Nein. Überhaupt nicht.

Nur: Was schmeckt sie denn dann? Ganz einfach: Nichts: Sie spielt Schmecken! Sie spielt Luftschmeckerin! Wie jemand, der die schwierige Disziplin Luftgitarre beherrscht, übt sie sich als Luftschmeckerin. Ein Luftgitarrist glaubt zu wissen, wie es aussieht, wenn jemand Gitarre spielen kann, aber er selbst kann nicht Gitarre spielen. Ist auch nicht nötig. Eine Luftschmeckerin glaubt zu wissen, wie es aussieht, wenn jemand «Chardonnay» schmeckt, also sagt, aber sie selbst kann nicht «Chardonnay» schmecken. Ist auch nicht nötig. Sie tut so, als ob sie etwas schmecken würde. Sie spielt Schmecken. Sie sagt «Chardonnay».

Angesagte Worte wie «Chardonnay» oder «Pinot Grigio» regen weder Geschmacksspuren an noch hinterlassen sie irgendwelche Geschmackserinnerungen. Sie haben nur etwas mit sozialen Konstellationen in sozialen Räumen zu tun. Die meisten Menschen in der Spätmoderne haben keine Erfahrungen mehr mit dem Schmecken, sie wollen auch keine Erfahrungen machen, sie wollen zum Beispiel gar nichts über einen Wein wissen (außer dem Preis). Aber wenn sie schmecken, in einem sozialen Raum, dann wollen sie dazu gehören (oder sich auflehnen: «Brrr!»). Zentralrede. Zentralgeschmack.

Oder anders: Sie können es sich gar nicht leisten, das nicht zu schmecken, was in ihren sozialen Räumen im Wort «Chardonnay» zu schmecken steckt. Sie wissen nicht, daß die angesagten und in den nötigen Medien beworbenen Schmeckworte soziale Gesten sind, die das Schmecken nicht nur begleiten, sondern es ersetzen sollen. Spätmoderne Menschen sollen sich hinter diesen Worten mit den anderen Luftschmeckern versammeln. Und sie tun es. Wie schön. Die Menschen verwechseln also die Speisekarte mit den Speisen, den Namen des Weins mit dem Wein. Aber die Speisekarte schmeckt nicht. Und das Wort «Chardonnay» schmeckt auch nicht. Nur in einem ganz anderen Sinne, den heute überhaupt kein Mensch mehr versteht.

Aber, wirklich zum letzten Mal: Was schmecken denn die spätmodernen Menschen da draußen, die allüberall essen und trinken? Ich glaube, wir alle, die die obige Szene gelesen haben, müssen jetzt sehr stark sein: Sie schmecken nichts. So weit ist es gekommen. Abschied also von der sublimsten Form der Intelligenz (Evo Präkogler), Abschied vom Schmecken.

Um zu schmecken, müßten sie «aus sich herauskommen». Und sie bräuchten dafür Zeit, Bedachtsamkeit und – ganz besonders – Achtsamkeit. Aber das geht nicht, denn wer zu spät kommt, denn bestraft das Leben. Wir sagen: Den bestraft der Geschmack. Dabei könnte es so leicht sein:
Um zu schmecken muß man wissen.
Aber, ganz ehrlich, Wissen wirkt in der Spätmoderne doch irgendwo ein Stück weit wirklich lächerlich (vgl. das 3. Kapitel des Essays «Im Auge des Spektakels»). Man braucht doch kein Wissen, um erfolgreich zu sein! Also braucht man auch nichts zu wissen, um zu schmecken. Eben. Schade. Krass.



Erstellt: 8. August 2000 – letzte Überarbeitung: 2. Januar 2013
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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