BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Privaten (1): Über das Mobilphon»
von Henriette Orheim
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Das Telefon ist ja eine segensreiche Einrichtung. Und das Mobilfon potenziert diesen Segen. Nur zwei Beispiele: Stellt euch vor, ihr übernachtet in einem kleinen Zelt im Dovrefjell-Nationalpark. Und des Morgens steckt ihr recht früh den Kopf aus dem Zelteingang – da euch ein seltsam mahlend-schmatzend-schwitziges Geräusch aus dem Schlaf wiegte - und seht rings um euch herum eine große Herde von Moschusochsen, liegend und friedlich wiederkäuend. Nur einer steht direkt vor euch: Der Chef, der Leitbulle, und er sieht nicht freundlich aus. Wenn dieses Szenario am nächsten Morgen noch Bestand haben sollte, ist das Vorhandensein eines Mobilfons ein wahrer Segen. Ein Anruf bei der Landpolizei, und die regeln das. Die können das.

Ein anderes Beispiel: Zwei Liebesleute, die für Minuten, Stunden oder gar Tage durch die Macht des Schicksals getrennt wurden, können sich mit Hilfe eines Mobilfons zu jeder Zeit und von jedem Ort aus schön klingende Nichtigkeiten erzählen und sich ihrer wechselseitigen Liebe vergewissern, ohne auf das Festnetz (wie das schon klingt!) angewiesen zu sein.

Mit dem Mobilfon haben wir also endlich die Möglichkeit, anderen zu jeder Tages- und Nachtzeit mitteilen zu können, wo wir gerade sind, ganz egal, wo wir gerade sind. So weit so gut. Was mir aber nun äußerst unangenehm aufstößt, ist die ständig zunehmende Belästigung ruhiger und ausgeglichener Mitbürger durch jederzeit und an jedem Ort hereinbrechbares Telefongeklingel und die anschließend damit verbundenen laut vorgebrachten Einlassungen aller Art. Was ist daran so faszinierend, andere am ehemals Privaten teilhaben zu lassen, das Private also öffentlich zu machen?

Hören wir rein, in das Öffentliche, das Unvermeidbare, draußen, im Laden, im Foyer, im Intercity, im Bus, im Restaurant, im Café. Da redet plötzlich jemand ganz laut, direkt neben dir, ja gestikuliert dazu, und alle dürfen mithören, zusehen. Müssen mithören. Denn das geht jeden etwas an: «Meier, ich sage Ihnen nur, die 23er sollen sie fallenlassen, ratzeputz, sonst kriegen Sie Ärger mit mir. War das deutlich genug, Meier?» Wir finden: Geht so! Oder: «Ja, Mausi, ich bring' eine große Flasche Cooola mit! Wie? Und zwei Döner, klar! Tüschüüüüs!» Oder: «Ich bin jetzt am Bahnhof und wahrscheinlich in 20 Minuten bei Dir!» Oder: «Ich bin jetzt bei ALDI, dann gehe ich rüber und bin später bei Werner!» Kaum zu glauben. Aber, wir wissen das jetzt auch. Denn das geht uns alle an. Oder im Café: «Ach, Ronny, das ist so süß, daß du anrufst. Echt super. Ja, Ronny. Nein, Ronny. Doch, Ronny. Ja, Ronny, Supersüß, Ronny. Wie? Oh, ja! Super! Ja, Ronny! Echt?» Müssen wir uns das anhören? Ja.

Eine Szene: Mitten in der Fußgängerzone einer westdeutschen Großstadt kommt mir ein Hetero-Paar entgegen. Es trägt Streetware mit hypertrophen Sportschuhen. Sie essen gemeinsam eine Pizza, die in Stücke zerlegt auf einer großen Pappverpackung liegt, die er trägt. Beide blicken mit diesem typischen postmodernen Ausdruck in die Welt, der sich als gelangweilt, cool, wissend, selbstgewiß, sich-habend, aber auch genervt beschreiben läßt. Da, plötzlich, als ich direkt vor ihnen bin, klingelt es am Mann. Beide (?) stopfen sich noch schnell ein Stück Pizza in den Mund, er läßt die sehr große Pappverpackung mit zwei Reststücken Pizza auf den Boden fallen, steigt hinüber, angelt das Mobilphon aus seiner Hosentasche und sagt «Mmähm!?» Wie sich jetzt parallel dazu sein Gesicht verändert, wie es plötzlich einen freudigen, glücklichen, verschmitzten, stolzen, gleichzeitig weiterhin lässig-coolen Ausdruck annimmt, wie es so ostentativ wechselt aus dem Abgeschaltet-Sein des Essens in Zweierbeziehung hinein in den erwartungsfrohen, Neugier andeutenden Online-Zustand der Nicht-Langeweile, dies hat schon Darwin beschrieben, und Ekman sowieso. Nur nebenbei: Ihr Gesicht verändert sich nach dem ersten Klingeln auch, sie blickt allerdings zusehends genervter, gereizter als vorher. Warum? Das ist eine andere Geschichte.

Angesichts dieses Müllwegwerfers und Draußen-Telefonierers hatte ich zum ersten Mal den Gedanken, daß postmoderne Menschen glücklich sind, wenn sie öffentlich zeigen können, daß sie angerufen werden, und sie selbst jemand anrufen können, und daß sie sogar überglücklich sind, ehemals Privates, Persönliches zeigen und vorführen dürfen. Was ist geschehen?

Noch eine Szene, wieder im Café: Ein junger Mann spielt seiner Liebsten (?) alle 48 Tonruf-Melodien seines Mobilfons hintereinander vor. Öffentlich. Schmerzunempfindlich. Offensive Autopoiese! Muß doch jeder selbst am besten wissen, was er macht und ob sie da zuhört. Genau. Ich habe zugehört und vor allem habe ich ihr zugezwinkert, von Frau zu Frau. Und zu meiner ganz großen Überraschung zwinkerte sie zurück: Großes Einverständnis, klarer Gleichklang, wie ihn nur Frauen zu Stande bringen. Worin das Gemeinsame bestand? Nur für Männer: Wir haben uns ins tröstende Einvernehmen gesetzt, daß es auch noch andere Männer gibt. Die andere Melodien finden. Aber ich schweife ab.

Was ist geschehen? Was ist los mit denen, die ihr Mobilfon zur Selbstwertverlängerung, Selbstwertspreizung, ja als Pfauenfeder gebrauchen und brauchen? Ach Du liebe Güte, gibt es denn nichts Wichtigeres als die eigene Wichtigkeit? In der Postmoderne: Nein (vgl. «So viel ‹Ich› war nie»).

Da fällt mir noch was ein: Junge Mädchen haben neuerdings eine neue besondere Körperhaltung und Gangart. Wenn sie durch die Fußgängerzone flanieren, gehen sie mit gesenktem Kopf, auf ein Mobilfon blickend, in welches sie mit dem Daumen einer Hand flugs Short Messages eintippen. Angenehm daran ist, daß diese neue Verhaltensform keinerlei Lärm verursacht, daß niemand gezwungen wird, diesem Kommunikationsprozeß beizuwohnen (von gelegentlichen Zusammenstößen mit anderen Passanten einmal abgesehen), und daß keinerlei Aufsehen erregt wird. Wir müssen uns aber als Freundinnen der Mythographie, der Mythoanatomie, der Kulturphysiognomie, der Ethnologie und der Völkerpsychologie doch ernsthaft fragen, wohin das führen wird? Medizinisch gesehen: Zu einer neuen Form des Morbus Bechterew? Zu Nackenaberrationen? Zu Sehnenscheidenentzündungen am Daumen mit anschließenden Partiallähmungen? Und psychologisch gesehen: Zur Vernachlässigung allfälliger Pflichten? Zur Verwahrlosung also? Zur nächsten ICD-Kategorie? Demnächst mehr! Ich bleibe dran!



Erstellt: 12. August 2000 – letzte Überarbeitung: 12. August 2000
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