BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Privaten (2): Über das Privatfernsehen»
von Henriette Orheim
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Tja, gibt es noch das, was früher einmal die private Sphäre hieß? Gibt es noch den Wunsch, im tatsächlichen und im übertragenen Sinn nicht «nackt» erscheinen zu wollen? Gibt es noch Rückzugspunkte, die nicht beleuchtet werden und werden dürfen? Was ist aus dem romantischen «my home is my castle!» geworden? Kennt das noch jemand von denen, die ihr Home in einer Home-Story präsentieren? Und was ist mit denen, die in einer Talk- oder Realityshow vorgeführt und ausgelacht werden? Ist das Private zum Öffentlichen geworden, seit es das Privatfernsehen gibt? Ja, hat das Privatfernsehen das Private abgeschafft, indem es es öffentlich machte? Es steht zu befürchten. Abschied vom Privaten. Hier sind die Gründe.

Fangen wir oben an, wie es sich in einer «klassenlosen Gesellschaft» gehört. Jeder Promi (ob Minister, Schausteller, Fußball-Darsteller, Opfer, Täter oder Trash-Idol) freut sich darauf, alle allfälligen Lebensdaten (Ende oder Anfang einer Beziehung, Konsumgewohnheiten, Hobbys, Erkrankungen) zu jeder Zeit via Medien der Öffentlichkeit mitteilen zu dürfen.

An die Öffentlichkeit gehen also! Den privaten Meinungsbauch umstülpen und auswürgen. Hey, das können aber jetzt auch die Leute, die früher mal das Proletariat gebildet haben und stolz darauf waren. Dazu gehen sie in eine Talkshow. Dort sagen sie ihrer Angetrauten: «Ich verlasse Dich heute, weil Du zu häßlich bist und nicht ficken kannst! Und sieh' mal, hier neben mir sitzt meine Neue!» Ja, da darf jeder zusehen und teilhaben. Und die Menschen, die früher mal das Proletariat gebildet hatten (vgl. «Abschied von der Arbeiterklasse») und stolz darauf waren, sehen zu. Weil es so authentisch ist, das Private. Das Geschrei.

An die Öffentlichkeit gehen also! Ein junger «Reporter» fragt eine weinende Frau, die in einem ärmlichen Zimmer an einem sauberen Küchentisch sitzt: «Ihr Sohn, der Willi, hat ja nun diese zwei Mädchen umgebracht und aufgeschnitten. Wie fühlen Sie sich jetzt?» Oder: «Ihr Mann ist ja mit diesem Flugzeug abgestürzt. Seine verstümmelten Reste konnten leider noch nicht geborgen werden. Wie fühlen sie sich jetzt?» Ja, das ist schon toll, verwirrte, verzweifelte, verstörte, blutende Menschen zu fragen, wie sie sich fühlen. Denn es geht nur noch darum: Um die authentische Vorführung von Gefühlen als privater Lebensäußerung. Natürlich müssen es gewöhnliche Gefühle sein, die jeder kennt. Gefühle in Standardsituationen also. Sonst bringt es keine Quote. Und derjenige, der die Kamera bedient, hält selbstverständlich voll auf das Gesicht der Befragten, um den ganzen Schrecken dieser Welt einzufangen.

Warum ist unsere Zeit so geil auf private Bilder? Warum wollen die Endverbraucher der Privatglotze Gesichter glotzen, die ein Gefühl ausdrücken (sollen)? Warum dieser unheimliche Run, dieser Aufwand, private Gesten und Zeichen den «Anderen» zur Verfügung zu stellen? Warum werden hilflose Menschen regelrecht belagert und abgezockt, um Bilder ihres Entsetzens einfangen zu können? Und warum lassen sich entsetzte Menschen mit einem meist nur Sekunden währenden öffentlichen Auftritt in einem von 30 Fernsehkanälen bestechen, sich bloßstellen zu lassen? Oder, empfindet das niemand mehr als Bloßstellung, sondern als ein «Dazugehören»? So wird es sein.

Und jeder kann es! Denn wenn das Private zum Öffentlichen wird, hat jeder eine Chance, ein Medienstar zu werden. Da in den Talksshows und in den Daily Soaps und in den Reportagen ja alle so aussehen wie ich und ebenfalls alles Private öffentlich machen, kann ich das auch. Jeder schafft es heute, für 5 Sekunden ins TV zu kommen. O.k., könnte es schaffen. Das ist voll demokratisch. Chancengleichheit. Endlich. Man kann sich ausziehen, Kinder umbringen, oder eben einfach nur da sein. Denn wenn das Private zum Öffentlichen wird, erhöht das die Wichtigkeit der Wichtigkeits-Wichtel, die ihr Privates zeigen! Hallo, hier bin ich! Und das TV ist der Multiplikator.

Das Private als Mittel, um in der Öffentlichkeit wichtig zu werden. Das ist ein Selbstläufer. Insbesondere für schlichte Menschen, die hier ihre einzige Chance wittern, einmal im Leben auf der Sonnenseite stehen zu dürfen. Sich privat geben. Das ist authentisch. Das reicht. Das kann jeder. Die sich Vorführenden sollen so sein, wie sie sind. Reality eben. Und sie sollen möglichst nichts «können» oder «wissen»! Das nervt doch nur (vgl. das 3. Kapitel des Essays «Im Auge des Spektakels»). Und es könnte die Formatbetrachter abstoßen, da die Ähnlichkeiten zwischen Vorgeführten und Glotzern abnehmen. In der Postmoderne will man niemanden sehen, der etwas «kann»? Drei Gesichtsausdrücke genügen, um im Privatfernsehen Erfolg zu haben: Grübel, Schmoll, Laß die Zähne strahlen!

Das allseits – insbesondere von den christlichen und konservativen Kräften unseres Landes – herbeigesehnte und «natürlich» monopolistisch implementierte Privatfernsehen war der Beginn der Schamlosigkeit. Was ist Schamlosigkeit? Ganz einfach: Seine Scham zu zeigen. Metaebene? Moral? Auch nur ein einziger Gedanke dazu? Gibt es nicht. Nur Meinungen. Alles ist auf den Einzelnen zurückgeworfen worden: Denn jeder kann ja nur für sich sprechen und ganz persönlich sagen, daß das jeder für sich selbst entscheiden muß, denn schließlich muß ja jeder selbst am besten wissen, was er tut. Weiß er, was er tut?

Fazit: Es gibt nichts Privates mehr. Alles ehemals Private muß in der Postmoderne sofort allen mitgeteilt werden, um sich als «Individuum» (sic!) zu fühlen, um seine Identität erleben zu können. In der Postmoderne erhält das Private erst in dem Moment das Gütesiegel des Privaten, wenn es mit der nötigen Authentizität in der Öffentlichkeit vorgeführt wurde. Und über die Authentizität befindet natürlich die Öffentlichkeit, gelenkt von Medien-Regisseuren. 14-jährige Mädchen halten kreischend eine Papptafel hoch, auf der «Manu, Du Schlampe, Hau ab!» steht. Diese zunächst nur als diffuser Drang erlebte private Meinungsäußerung wird erst dadurch zu einer ernst zu nehmenden Meinungsäußerung, indem sie via Schild via TV via Authentizitätssiegel öffentlich gemacht wurde. Alles klar?

Was ist zu erwarten? Ziel kann nur sein, mit jeder ehemals privaten Lebensäußerung sofort, das heißt unmittelbar an die Öffentlichkeit (TV oder Zeitung) zu gehen, um sich der privaten Lebensäußerung überhaupt zu versichern und um sich als Mensch empfinden zu können. Muß ich mich öffentlich und multipliziert nackt zeigen, um zu empfinden, daß ich einen Körper habe? Ich bin öffentlich, also bin ich. Bin ich drin? Ich bin drin!

Es fing irgendwann an im Privatfernsehen, und jedes einzelne Format führte zu einem Mehr-Desselben. Die Endverbraucher gewöhnten sich daran, am ehemals Intimen teilhaben zu dürfen. Sie habituierten. So müssen immer neue Formate erfunden werden, die Dosis muß erhöht werden, um immer deutlicher an das Private, an die Nacktheit, an die Scham heranzukommen. Und wer sich für nichts schämt, wird der Star des Tages! Aus der Schreinemakerisierung unserer Medienwelt (so der sehr schöne Titel des erst 1997 erschienenen und schon längst überholten schönen Buches von Siegfried Weischenberg) ist im Rahmen der totalen Verfeldbuschung endgültig die Zlatkoisierung geworden. Das wird uns noch beschäftigen. Denn Zlatko (Publikumsliebling und «Held» der ersten Big-Brother-Staffel) sagt: «Ich bin einfach der Zlatko. Ich laß mich nicht verbiegen. Ich verstelle mich nicht. Ich bin so wie ich bin!» Gott sagte damals: «Ich bin, der ich bin!» Ist heute jeder Gott? Ja.



Erstellt: 12. August 2000 – letzte Überarbeitung: 12. August 2000
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