BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von der Eigenbewegung»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Albertine Devilder
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«Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer,
sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten.
Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig,
sich seines eigenen Verstandes zu bedienen,
weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. [...]
Wer sie (die Unmündigkeit) auch abwürfe,
würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun,
weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist.»
(Immanuel Kant)

Ist das nicht paradox? Immer mehr Leute sagen heute immer öfter und zu immer mehr Gelegenheiten: «Muß doch jeder selbst am besten wissen, was er tut!», und wir beschwören einen ‹Abschied von der Eigenbewegung› herauf? Wie kann das sein? Worüber reden wir da?

Nun, im Jahr des Herrn 2013, nach zehn harten Nullerjahren, ist endgültig und zweifelsfrei von ganz oben entschieden worden, daß jeder einzelne Mensch selbst am besten wissen muß, was er zu entscheiden, was er zu tun oder zu lassen, kurz, was er ganz persönlich zu kaufen hat. Das gehört zum heutigen Grundwissen. Schön. Nur: Was setzt dies voraus? Eine Instanz in demjenigen, der ja schließlich selbst am besten wissen muß und so weiter. Eine Instanz, die eigene Entscheidungen fällt, die weiß, was sie tut. Eine Instanz, die überhaupt eigene Entscheidungen fällen kann. Eine Reflexionsinstanz. Ein Individuum.

Wo ist diese Instanz in den Personen? Wo sind die Individuen? Wer hat sie in den letzten Jahren gesehen oder gehört? Was wir in vivo hören und in den unsäglichen Foren lesen müssen, ist ein solipsistisches Geplärr voller Behauptungen, Rechtfertigungen und abstruser Be- und Entschuldigungen (vgl. dazu das Traktätchen «Falsche Empörung»).

Was aber sagen oder schreiben die Leute? Es ist unerheblich, denn es könnte jeder sagen. Jeder? Jeder. Wir hören und lesen in den immer und immer wieder gleichen Kontexten und Zusammenhängen immer und immer wieder die gleichen überdefinierten und ausgeleierten Floskeln. Ja, es gibt oft einhundertprozentige Übergangswahrscheinlichkeiten von Sprachfigur zu Sprachfigur. Berger & Luckmanns ‹Ratternde Konversationsmaschine› [1] Berger, P.L. & Luckmann, T. (1980). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer. Auf Seite 163 heißt es: «Das notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung ist die Unterhaltung. Das Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert.» rattert in einem doch arg engen ‹Sprachgefängnis›.

Aber das ist eigentlich noch gar nicht so wichtig. Wichtig ist, daß diejenigen, die an den Satz «Muß doch jeder selbst am besten wissen, was er tut!» glauben, nicht sehen und hören und verstehen, daß das, was der Einzelne da individuell wissen soll, mit Hilfe dessen er also Entscheidungen fällen soll, nicht aus ihm selbst herausgewachsen ist, sondern Zentralrede, soziale Mode, ja Konditionierung, Zurichtung, Domestizierung, Übertölpelung, Bestechung ist. Dieser wichtigste Satz der derzeitigen Spätmoderne täuscht also etwas vor, was keineswegs gegeben ist: Eigenbewegung.

Die konsumfixierten, spaßorientierten Jetztzeitmenschen vollführen keine Eigenbewegungen mehr, sie sind außengeleitet. Selbst ihre Binnenbewegungen, die sie dank der ununterbrochenen Anwesenheit medialer Souffleure «Gefühle» nennen, sind außengeleitet. Und ihre «Entscheidung», irgendetwas auf gar keinen Fall verpassen zu dürfen, ist schlicht gar nicht ihre Entscheidung. Sie sind anderen auf den Leim gegangen. Sie machen das, was andere von ihnen wollen. Sie glauben eine Beobachterperspektive zu haben, aber sie sind es, die beobachtet, ausgeforscht und studiert werden (vgl. dazu «Remix 2002: Forced Choice – Das Geheimnis des Großen Bruders»), um ihnen noch mehr von dem anbieten zu können, was andere wollen.

Sie sind in den Fängen derjenigen, die etwas verkaufen wollen, die um jeden Preis etwas verkaufen wollen, und sie kaufen, allerdings nicht um jeden Preis, schließlich souffliert man ihnen permanent, ähnlich wie bei den Gefühlen, sie seien nicht blöd! Der Trick ist also, den Leuten einzuhämmern, sie würden permanent Eigenbewegungen machen, und gleichzeitig unter allen Umständen alles zu versuchen, eben diese zu verhindern. Und, klar, je weniger Eigenbewegungen es gibt, desto drängender und andauernder müssen sie von den Fremdbewegten behauptet werden: «Also, ich persönlich sage jetzt mal dazu, ich meine, ich kann ja nur für mich sprechen…!» Gut dressiert!

Und falls sie mal wirklich nicht verhindert werden konnte, die Rarität Eigenbewegung, dann muß sie sofort denunziert und lächerlich gemacht werden. Fraktionszwang, auch hier. Stellen wir uns nur vor, jemand wende sich in einer Talkshow gegen die einfältigen Fragen eines ‹Sonnenhüters›. Na, da ist was los! Da fällt der TV-Pöbel aber über ihn her! Denn das wäre ja noch schöner, wenn da plötzlich jemand aus dem grandiosen Spektakel aussteigen würde, wenn da plötzlich und unvermutet jemand wirklich selbst am besten weiß, was er tut. Da zeigt sich nämlich, daß der Satz gar nicht ernst gemeint war. Es war nur Opium fürs Volk.

Und dies erinnert an einen sehr alten und sehr guten Witz, der in keinem Lehrbuch der Psychologie fehlt. Wir sehen auf einer Zeichnung eine Skinner-Box, innerhalb der sich zwei Labor-Ratten unterhalten. Und die eine sagt schmunzelnd zu der anderen: «Den Menschen da draußen habe ich ganz schön konditioniert. Immer wenn ich auf diese Taste hier drücke, wirft er mir Futter rein!»

Eigenbewegungen sind im erregten Informationszeitalter mittlerweile so weit geschrumpft, daß auch jeder Versuch, Menschen dazu zu bewegen, scheitern muß. Ein Schritt nach draußen, und es reißt sie wieder mit. Tausende von Gummibändern halten sie in der Kultur ihres sozialen Raumes fest. Es gibt nur noch wenige Nischen, in denen sich Eigenbewegungen entfalten könnten. Die wenigen Oasen, die es einst mal gab – etwa großartige universitäre Institute – sind ausgebombt. Aus dem Wasserfall der Dauerberieselung mit sinnlosen ‹Informationen› gibt es gerade auch durch die ‹Mitmach-Nachrichten› kein Entrinnen mehr. Und dies ist selbstverständlich auch gar nicht vorgesehen. Die Mächtigen möchten schon wissen, wie sich die Ohnmächtigen ihre Zeit vertreiben. Wer sich dem Zugriff des Kapitals entzieht und etwa seinen Fernseher wegschmeißt, wird sofort verhaftet! O.k., war nur Spaß. Erst nach der nächsten Bundestagswahl. Wenn Christen die Wahl gewinnen.

Was ist los? Gibt es keinen annehmbaren Raum mehr außerhalb des Spektakels, von dem aus mensch sich das Treiben anschauen könnte? Und wenn doch, wie wäre es, gemeinsam mit anderen Menschen «Im Auge des Spektakels» zu leben, zu überleben? Lassen sich denn wirklich kleine soziale Räume, Gärten der Befreundeten einrichten, in denen Eigenbewegungen behutsam angeregt und eingeübt werden könnten? Und wenn das möglich wäre, fände noch jemand in diese Freistätten hinein, oder ist die Zurichtung und die Domestizierung junger Menschen auf den Warencharakter des Seins mittlerweile so fortgeschritten, daß man ihnen kein anderes Leben mehr zeigen kann?



Ins Netz gestellt am 26. April 2013
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