BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Sterben»
von Albertine Devilder & Helmut Hansen
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1. Einführung

Wer die Menschen sterben lehrt,
lehrt sie leben.
(Michel de Montaigne)

In diesem Traktat sprechen wir vom Tod. Und von dem, was dem Tod vorausgeht: Dem Sterben. Von Unfällen und Unglücksfällen sprechen wir nicht. Auch nicht vom ‹Suizid›. Sondern vom Sterben. Und wir haben den Gedanken, daß sich das Sterben in den letzten Jahrzehnten so stark verändert hat, daß es kein Sterben mehr ist. Abschied vom Sterben?

Schauen wir uns die klassische Standardsituation an, das am häufigsten auftretende Szenarium, den Regelfall: Da ist ein Mensch von 50 bis 80 Jahren sterbenskrank, aber ‹natürlich› will er auf gar keinen Fall sterben. In diesem Wunsche wird er nun nicht nur von den ihn behandelnden Ärzten vehement bestärkt, sondern insbesondere auch von seinen Familienangehörigen. Alle zerren an ihm herum, er selbst auch, und alle drängen ihn zu immer weiteren «Behandlungen». Da er seinen Frieden mit sich und der Welt (noch) nicht gemacht hat, da er mit sich und der Welt (noch) nicht im Reinen ist, will er auf gar keinen Fall sterben, und die Ärzte und die Angehörigen lassen ihn auch nicht so schnell sterben. Was geschieht weiter? Ganz einfach: Irgendwann, eines Tages stirbt er dann doch, ganz «überraschend», ohne Abschied genommen zu haben von seinem Leben und von all dem, das mit seinem Leben verbunden war. Und in den darauf folgenden üblichen Todesanzeigen wird dies dann vom zurückgebliebenen und weiterhin gesunden Menschenverstand seiner Angehörigen stilsicher so zusammengefaßt: Nach «langer und schwerer Krankheit», jedoch «plötzlich und unerwartet», und für uns alle noch «unfaßbar», … ! Unfaßbar? Nach langer schwerer Krankheit? Was ist denn daran nicht zu fassen? Abschied vom Sterben?

Ein anderes, nur gelegentlich zu beobachtendes Szenarium beginnt ganz genau so, wie das oben skizzierte. Alle zerren an einem sterbenskranken Menschen herum, er selbst aber möchte gerne von einem bestimmten Zeitpunkt an den ‹Kampf› gegen seinen Körper beenden und in Frieden mit sich und der Welt sterben. Er wird aber eben nicht in Ruhe gelassen, es wird ihm nicht erlaubt, sich so ‹einfach› zu ‹verabschieden›, er darf eben nicht ‹so mir nichts dir nichts› von hinnen ziehen. Also wird er gequält bis zum letzten Tag. Gegen seinen Willen. Abschied vom Sterben? Könnte sein.


2. Sterben im Krieg
Gekämpft, gehofft
und doch verloren.
(Volkes Stimme)

Die eingangs geschilderte ‹Standardsituation›, in der jemand buchstäblich ‹alles› versucht, um bei einer schweren Krankheit zumindest mit dem Leben davon zu kommen, ja das ‹nackte Leben› zu retten, macht deutlich, wie das Kranksein heute ganz überwiegend nur in einer gewalttätigen Auseinandersetzung, also in einem mit allen Mitteln geführten Kampf gegen den eigenen Körper vorstellbar ist, und, daß ein Sterben – wenn überhaupt – vom Kranken, den Ärzten und seinen Angehörigen nur hingenommen werden kann, wenn dem ein unerbittlich geführten Krieg gegen den eigenen Körper vorausging. Im Alltag wird dies im Nachhinein in aller Regel als ein «gekämpft, gehofft, und doch verloren» euphemisiert.

Aber Kampf muß sein. Daß dieser Krieg – koste es, was es wolle – auch geführt wird, das wird in weiten Teilen unserer Gesellschaft unbedingt erwartet. Und deswegen ist das Sterben heute ein langwieriger, quälender, entsetzlicher Vorgang, weil der Sterbende – um das zu erfüllen, was ihm abverlangt wird – sich so lange wie möglich gegen seinen Tod wehren und auflehnen muß. Ja, er muß sich schlicht weigern, zu sterben. Warum? Weil er – und dies ist unsere wenig überraschende These – vielleicht noch gar nicht ‹gelebt› hat? Hm, ein schöner Gedanke. Denn, so überlegen wir weiter, wer nicht gelebt hat, will auch nicht sterben. Denn da wird immer etwas fehlen, da wird immer etwas Unerfülltes sein, ein Traum, ein Sehnen, eine Vision, ein Nachtlicht, eine Ahnung: «Da war doch noch was?!». Ja, aber was?

Helmut Hansen hat in seinem Essay über die Gesellschaft des Spektakels (vgl. «Im Auge des Spektakels») Menschen im finalen, globalisierten, ausweglosen Kapitalismus als ihres Lebens entfremdet skizziert und zu zeigen versucht, daß sie gleichzeitig – immer den miasmatischen Belustigungen und Sensationen des Spektakels hingegeben – das Bewußtsein für ihre Entfremdung verloren haben. Um die Metapher vom Regenschirm (vgl. «Unter dem Regenschirm der ‹eigenen Meinung›») aufzugreifen: Das Spektakel wirkt wie ein übergroßer Regenschirm, der die Menschen von all' dem, was sie angeht und um das sie sich ‹eigentlich› dringend kümmern müßten, fernhält, ja befreit. Die Kehrseite des Spektakels ist also die Agonie, ja der sich ständig beschleunigende Marasmus des ‹Bürgers›, denn die Gesellschaft des Spektakels verhindert nicht nur ein ‹Wissen› um das Leben, sondern eben auch ein ‹Wissen› um das Sterben. Wie sollte in einer Gesellschaft, in der allzeit, überall und unerbittlich ‹gute Laune› herrscht, Raum sein für Reflexionen über das eigene Sterben?

Kommen wir auf unseren Gedanken zurück: Vielleicht ahnen ja – gleichsam im letzten Moment – viele sterbenskranke Menschen, die sich gegen ihr Sterben auflehnen, daß ihnen in ihrem Leben immer etwas gefehlt hat? Vielleicht ‹klammern› sie sich deswegen an das bißchen Leben, das sie noch haben? Aber, noch einmal, was war es, was ihnen fehlte? Was könnte es nur gewesen sein? Ahnen die Sterbenskranken, die unter gar keinen Umständen sterben wollen, daß sie immer nur funktioniert haben, daß sie immer nur Anforderungen erfüllt haben, die die final-kapitalistische Gesellschaft ihnen ihr Leben lang vor die Nase gehalten hat? Ahnen die, die nicht sterben wollen, daß sie nie ihre Chancen nutzten, ein ‹Bewußtsein› für ihr Leben zu entwerfen und «Eigenbewegungen» zu entwickeln für das Leben, das doch immer da war, immer ‹bei ihnen›, immer ‹mit ihnen› war?

Und wie läßt sich das Funktionieren in unserer Gesellschaft beschreiben? Nun, es ist eingebettet in ehrgeizige ‹persönliche›, ja gar ‹individuelle› Pläne, die intensiv und kraftvoll verfolgt wurden und die immer etwas mit der Aneignung von Waren und Gütern zu tun hatten (sagen wir mal: Mobilien und Immobilien), niemals mit geistigen Entwicklungsaufgaben. Und alle Sterbenskranken, die jetzt nicht sterben wollen, haben sich ‹ihr Leben lang› gesagt: «Wenn ich erst einmal dies und das endlich erreicht habe (sagen wir mal: eine ‹Eigentums›wohnung), wenn aus diesem oder jenem Grund mein Leben endlich festgezurrt, einbetoniert und immobil geworden ist, dann, ja dann komme ich zur Ruhe und – lebe.» Tja, doch dann ist es meist zu spät.

Und wenn nun jemand sterbenskrank ist, dann möchte er nicht sterben, weil er bis dahin immer nur versucht hat, seine Lebensumstände zu versichern und seine Lebensbedingungen hieb- und stichfest zu machen, sie gleichsam auf Ewigkeit festzuschreiben. Denn es waren immer Pläne und Ziele, die in einer illusionären Zukunft angesiedelt waren. Es waren Pläne für ein Morgen, ein irgendwann, die, wurden sie wirklich erreicht, so wenig zufrieden stellten, daß man sofort neue Pläne, neue Ziele, eine neue illusorische Zukunft aus dem Zukunfts-Katalog seines sozialen Raumes übernehmen mußte. Und darüber haben die heute sterbenskranken Menschen den einzelnen Tag, die einzelne Stunde ihres Lebens übersehen, sie sind flüchtig darüber hinweg gehuscht, mit dem Blick auf ein Morgen. Wir denken, dies alles könnte bedeuten, nicht zu leben. Denn mit einem ‹carpe diem› hatte dieses Leben nichts zu tun. Wann wurde das ‹Heute› gelebt? [1] Eine überaus interessante Frage: Wie werden eines Tages die heute 15 bis 30 jährigen und dem Hedonismus frönenden Insassen der ‹Spaßkultur› sterben? Werden auch sie ‹alles› mit sich machen lassen? Werden auch sie sich selbst den Krieg erklären? Oder werden sie cool bleiben?

Dieses ständige konforme Streben nach der Aneignung von Gütern funktioniert in den sozialen Räumen unserer final-kapitalistischen Kultur nur, weil die strebsamen Kulturinsassen die Wirklichkeit der Endlichkeit ihres Lebens ausblenden und – unter dem Applaus ihres sozialen Raumes – ausgerichtet sind auf die Illusion einer endlosen und weder störbaren noch anfälligen Zukunft von Annehmlichkeiten aus der Warenwelt. Und genau dies ist nun ‹wirklich› unfaßbar, daß Menschen das einzige, was sie wirklich über ihr Leben wissen und auch sagen können, nämlich, daß sie ‹mit Sicherheit› sterben werden und somit dem eigenen Tod mit jedem Tag genau einen Tag näher rücken, eben nicht zu wissen scheinen und von dieser Erkenntnis offensichtlich – selbst noch im Angesicht des Todes – vehement überrascht werden. Und es auch dann noch nicht wissen wollen. Und wer nicht zu sterben bereit ist, wird ‹bis aufs Messer› gegen das Sterben kämpfen. Nur: Dieser Kampf, dieser Krieg gegen den eigenen Körper und gegen das Sterben ist letztendlich aussichtslos, denn bisher hat noch niemand das Leben überlebt.

Und wie sieht dieses ‹Nichts-vom-Tod-wissen-wollen› aus? Es ist nicht schön, darüber zu sprechen, aber es muß sein: Der Krieg gegen den eigenen Körper ist ein Krieg gegen das Leben, denn das Leben besteht aus Geburt und Tod und ein paar Jahren dazwischen. Und anstatt sich zu beugen, klammert sich der Sterbenskranke – unter den lächerlichsten Versprechungen der üblichen Verdächtigen – ans Leben. Es ist also der Krieg erklärt worden. Und da gibt es Opfer. Doch diese Opfer müssen die Sterbenskranken bringen, für alle Beteiligten: Verstümmelt, verletzt, vergiftet, verseucht, verstrahlt und ausgesogen bis auf das letzte Restchen Knochenmark nimmt der sterbenskranke Kriegsfürst, der Warlord in ureigenster Sache, auch noch die letzte und allerletzte Chance wahr: Arme ‹austherapierte› Leute suchen vor ihrem absehbaren Ende noch ein paar Heilpraktiker, Wunderheiler und Kartenlegerinnen auf, und ‹austherapierte› Reiche jetten schnell noch mal nach Zürich oder New York zu den berühmtesten und angesagtesten Heilern dieser Welt. Ein aussichtsloses Unterfangen, denn der Körper, das Schlachtfeld, war schon lange im Krieg und ist und bleibt verseucht und vermint.

Abschied vom Sterben? Oh, ja, denn das ‹Sterben im Krieg› ist kein Sterben mehr, sondern ein Verrecken. In Kriegszeiten gibt es keine Vorbereitung auf den Tod, keinen eigenen sozialen Raum, keine eigene Zeit, keine eigene Atmosphäre, keine Muße. Man verreckt eben. Und fertig. Krieg und Gewalt. Irgendwo im Krankenhaus, belogen von den Ärzten («Na, wie geht es uns heute?»), genervt von der ‹Familie› («Jetzt reiß dich doch zusammen und denk einfach mal positiv!»), zieht irgendjemand irgendwann den Stecker raus. Ende. Abschied vom Sterben? Oh ja, denn es ist ein Sterben ohne Abschied, ohne Wahrheit, ohne Würde, ohne Frieden.


3. Sterben im Frieden
Was kümmert uns etwas,
das sich nicht vermeiden läßt?
(Michel de Montaigne))

Alle Menschen sind sterblich. Aber kein Mensch müßte – von Unfällen und Unglücksfällen einmal abgesehen – gegen seinen Willen sterben. Denn er könnte das Unvermeidliche akzeptieren und so sein Sterben im Frieden und in Frieden ermöglichen.

Aber die Angelegenheit geht im Kreis, wie alles das, was ‹wahr› sein könnte. Zum einen: Wer zu leben versteht, wer beizeiten sich seine Wünsche – im Rahmen seiner Möglichkeiten – erfüllt hat, wer die Aufgaben-Trias aus Arbeit, Muße und Liebe in seinem Leben bewältigt hat, ja, wer für jeden einzelnen Tag gelebt hat, der versteht es auch zu sterben. Denn dann ist ein Abschied jederzeit möglich und – fällt vielleicht sogar leicht. Denn die Lebensaufgaben sind vollbracht.

Und wer so gelebt hat, denken wir, freut sich drauf, nach einem gelebten Leben in Würde, mit voller Absicht und mit vollem Bewußtsein Abschied zu nehmen von all dem, was ihm in eben seinem Leben von Bedeutung war. Denn zu einem ‹vollständigen› Leben gehört eben auch der Abschied vom Leben, ja dieser Abschied – so denken wir – rundet das Leben erst ab, macht es ganz, knüpft Anfang und Ende zusammen, schafft die ‹Gestalt› des Lebens, schreibt das Geschichtsbuch, flicht ein endloses Band. Und die notwendige und hinreichende Voraussetzung für ein Sterben im Frieden mit sich und der Welt ist nicht nur das ‹Hinnehmen› des ‹Unvermeidlichen›, sondern eben das Einverständnis mit dem Abschiednehmen.

Und zum anderen: Erst wer in seinem Leben das Sterben, die Möglichkeit des (baldigen) Sterbens immer und zu jeder Zeit einbezieht, kann ‹wirklich› leben. Und wer jetzt, also heute, gerade eben, nicht bereit ist, zu akzeptieren, daß er jederzeit sterben kann, das heißt, wer nicht bereit ist, täglich im Bewußtsein seines unvermeidlichen Todes zu leben, der wird auch zu dem Zeitpunkt, wo der Tod ihn ereilt, nicht bereit sein. Denn der Zeitpunkt des eigenen Todes erscheint uns selten bis nie der richtige zu sein. Aber an diesem Eindruck läßt sich arbeiten. Machen wir, wenn es uns denn eines Tages – hoffentlich ‹mit Ansage› – trifft, einfach den ‹richtigen› Zeitpunkt daraus. Überzeugen wir uns davon, daß uns in unserem Leben nichts gefehlt hat!

Und wie könnte ein ‹Sterben mit Abschied› aussehen? Nun, wir besuchen die Menschen, die uns wichtig waren, wir laden die uns liebsten Leute ein, und essen und trinken und lachen und erzählen Geschichten, ja, vielleicht die Geschichte unseres Lebens. Und dann ist alles gut. Wir können gehen. Es ist nichts Unerledigtes zurückgeblieben.

Lieber Leser, liebe Leserin, Michel de Montaigne sagt in seinen Essais: «Wie ist es uns eigentlich möglich, angesichts des sicheren Todes Tag für Tag immer noch einen Schritt zu tun? Wegdenken? Umschreiben? Aufschieben? Vertröstung? Sorglosigkeit? Weisheit? Selbstbetrug? Nein! Machen wir uns zeitig vertraut mit diesem Herrn, lernen wir, ihm entgegenzutreten! Nehmen wir ihm etwas von seiner Unheimlichkeit.»

Dies ist ein sehr schöner Gedanke, denn erst wenn wir es lernen, dem Sterben die ‹Unheimlichkeit› und das ‹Grauenhafte› abzusprechen, werden wir sterben können, dann, wenn es denn eben sein soll.

Und trösten kann alle Skeptiker und Skeptikerinnen heute schon ein Aphorismus von Nicolas Chamfort: «Leben ist eine Krankheit, von der der Schlaf alle 16 Stunden einmal befreit. Es ist nur ein Palliativ, der Tod ist das Heilmittel.»



Kommentare:

24. Februar 2002
Liebe Albertine, lieber Helmut,
beim Lesen Eures aktuellen Texts habe ich fortwährend gedacht, dass Ihr eigentlich weniger über einen Abschied vom Sterben schreibt, als über den umfassenderen Abschied vom Leben, auf den die Formen unserer Sterbekultur hinweisen. Dabei ging mir auf, dass der Gedanke fast trivial ist, denn natürlich es es eben das, worum es uns bei den Abschieden geht: Die ständig wachsende Entfernung unserer Überlebensformen von sinnvollen Lebensformen nachzuzeichnen. Zur Illustration habe ich noch eine kleine Notiz von Wittgenstein, aus seinen Tagebüchern von 1914–1916, ausgegraben: «Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, d. h. schlechten Lebens». Stimmt genau, oder?
Viva,
Bethchen B.



Erstellt: 31. Januar 2002 – letzte Überarbeitung: 24. Februar 2002
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