BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom «homo politicus»»
von Helmut Hansen
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1. Einführung

Henriette Orheim erinnert in ihrem kleinen Essay «Über die Nacktheit» daran, wie um 1968 herum viel darüber nachgedacht wurde, daß das «Private politisch» sei. Damit war damals gemeint, daß private Beziehungen zwischen Menschen gesellschaftliche Bedingungen – «kapitalistische Systemstellgrößen» – widerspiegelten. Albertine Devilder drückt diesen Gedanken in ihrem kleinen Traktat «Über das Besiegte» so aus: «Das Individuelle ist […] das Sozialisierte, das Gesellschaftliche, das Allgemeine.»

Wenn es aber nun heute heißt, daß das «Private das Öffentliche» sei, da nicht nur im sogenannten «Privatfernsehen», sondern mittlerweile in allen ‹einschlägigen› TV-Formaten ununterbrochen «private», ja intime Details aus einem (ehemaligen) Privatleben mit einem großen Gestus der Erregung präsentiert werden, was wird dann aus dem ‹Politischen›? Interessiert sich in der «Gesellschaft des Spektakels» noch irgendjemand für Politik? Ich meine ‹wirklich› Politik! Versteht in diesen geistesfernen Zeiten da draußen noch irgendein dauerhaft von der «schlimmsten Lichtquelle der Welt» ausgeleuchteter Mensch, was mit dem Wort politisch gemeint sein könnte? Ich meine ‹wirklich› politisch! Und, da das Wort Politiker nun mal existiert, gibt es heute noch Politiker, die ‹wirklich› Politiker sind? Gibt es ihn also noch, den «homo politicus»? Kann es ihn noch geben? Und gäbe es ihn, gäbe es den «homo politicus» also ‹wirklich› noch, auch heute noch, und auch nur einen, wie würde er von der «schlimmsten Lichtquelle der Welt» ausgeleuchtet? Welchen Sprachmüll würde die größte Schmierlappenzeitung dieses unseres Landes dauerhaft und täglich auf ihn werfen? Und in welchen Tönen lachte der Konsens-Chor aller Demokraten ihn aus? Gute Fragen. Ich denke, daß der «homo politicus» heute fast völlig ausgestorben ist. Es gibt ihn (fast) nicht mehr. Er wird nicht nur nicht mehr gebraucht, nein, gäbe es ihn, er würde nerven, die Laune verderben, das Dauerspektakel stören und damit die Geschäfte verderben, indem er sich dem Generalduktus entzöge und auf etwas anderes zeigte: Die «Pólis». Deswegen würde er von den anderen als «Ideologe» und als «Moralapostel» beschimpft, ja gar als jemand, der meine, «etwas besseres zu sein» – übrigens eine der schlimmsten Beschimpfungen unter Analphabeten. Ein Wort wie «politisch» heute ernst zu nehmen!? «Was bildet der sich eigentlich ein?!» Abschied vom «homo politicus»? Könnte sein. Doch der Reihe nach. Wir müssen uns erst einmal zwei alte Wörter ansehen.


2. «Pólis»

Fangen wir mit dem Wort «Politik» an. Stammwort ist das griechische «Pólis»: die Stadt, die Stadtburg, der Stadtstaat. In einem geringfügig weiteren Sinne ist – so Aristoteles – die «Pólis» die Bürgerschaft eines größeren sozialen Raumes, eine Gemeinschaft von Menschen oder Bürgern also, die sich zusammengefunden und gebildet hat, um ein bestimmtes Gut – eben das Zusammenleben in einer Gemeinschaft – und damit ein «gutes Leben» zu ermöglichen. Der Begriff «Politik» verweist also auf eine soziale Gemeinschaft, die politisch so handeln möchte, daß sie ihr Wirken auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens in einer Gemeinschaft richtet. Die Bürger einer «Pólis» bemühen sich im Gespräch – so Aristoteles – um die Abgleichung ihrer Meinungen und Argumente, zum Wohle der «Pólis». Und ein guter Pólisbürger beteiligt sich aktiv an diesem Diskurs über das Gemeinwohl, ohne auf seine eigenen Interessen zu achten. Und angesehen in diesem Diskurs sind kluge, moralische und tugendhafte Pólisbürger.

Wir sehen, der Blick ist hier weit, er ist auf eine Vielheit, eine Gesamtheit gerichtet. Und politisch ist etwas immer dann, wenn es die Gemeinschaft, die Gesellschaft betrifft, wenn es also um allgemeine, soziale, kollektive, öffentliche Fragen geht. Und was ist dann ein «homo politicus»? Einer der um die Macht in einem Gemeinwesen kämpft? Nun, der aristotelische Begriff von Politik neigt tatsächlich in diese Richtung. Nur geht es dem «homo politicus» um die Macht als Mittel zum Zweck. Macht kann benötigt werden, um Einfluß nehmen zu können auf die «Pólis», die soziale Gemeinschaft, zum Wohle aller. Aller? Ja.


3. «Oikos»

Das Gegenstück zur «Pólis» ist der «Oikos». Das sind die eigenen vier Wände, das eigene Haus. Der Blick ist hier sehr eng, zyklopisch, er ist gerichtet auf die eigene Haushaltung, die Hauswirtschaft, auf die Verwaltung und Mehrung des eigenen Besitzes. Da die Bedeutung des Wortes «nómos» auf ein ‹verwalten›, ein ‹regulieren› verweist, stellt sich ein «Ökonom» also schlicht als jemand dar, der nur sein eigenes Haus verwaltet, der sich ausschließlich um sein eigenes Haus kümmert, nicht um die Häuser der anderen Bürger, und schon gar nicht um alle Häuser der «Pólis».

Aus dem Begriff «Oikos» und dem damit verbundenen Konnotationshof hat nun der finale Kapitalismus eine erstaunlich schlichte Leitideologie entwickelt: Wenn alle Menschen ganz eigennützig an ihren rein ökonomischen Zielen arbeiten, dann ist das gut für die «Pólis». Dies ist – nicht einmal verkürzt – die tägliche anzubetende Logik des «Marktes». Und weil das eben so gut ist für alle, wenn Einzelne ihren egoistischen ökonomistischen Interessen folgen, hat die «Pólis», die Gemeinschaft aller Bürger, vertreten durch ihre Politiker, dafür zu sorgen, daß auch wirklich jeder unternehmen kann, was er will. Wenn wir irgendeinem beliebigen «Politiker» der Postmoderne einmal tatsächlich zuhören sollten, dann klingeln und funkeln immer dieselben Sprachfiguren: «Bürokratische Hemmnisse seien abzubauen», «Verfahrensregeln zu reduzieren», «Steuern zu senken», die «Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland sei zu verbessern» und so weiter und so weiter. Die «Wirtschaft» und – ersatzweise – auch der «Mittelstand» dürften in keinem einzigen Fall in ihren ökonomistischen und auf das je eigene Wohl gerichteten Plänen von der «Pólis» behindert werden. Dann und nur dann ergäbe sich ein großer Nutzen für alle, für die «Pólis»! Das ist jetzt klar.

Der Pólisbürger wird also gefeiert, wenn sein Denken und Trachten «ökonomistisch» ausgerichtet ist. Was ist das, ökonomistisches Denken? Nun, ein Hausverwalter, heute nennt man ihn «Betriebswirt», denkt ausschließlich an die Interessen seines Betriebes und verlangt, daß er alle Abfälle, Schadstoffe und Arbeitskräfte, die er nicht mehr brauchen kann, über den Zaun seines Betriebes werfen darf und somit entsorgt: Das heißt, er, der Hausverwalter, der Betriebswirt, der Ökonom, braucht sich keine Sorgen mehr über das von ihm Entsorgte zu machen.

Sollte der Betriebswirt Gewinne erzielen, werden diese selbstverständlich privatisiert, sie gehören ihm (oder seiner Firma) ganz allein; sollte er Verluste erzielen, so jammert er und beharrt darauf, daß sich die soziale Gemeinschaft bitte an den Verlusten beteilige, da sonst das «Unternehmen» keinen Spaß mehr mache. Ersatzweise kann man als Betriebswirt auch androhen, die gesamte Produktion ins «Ausland» zu verlagern, wo billige und willige Arbeitskräfte leichter zu «haben» seien.

Fassen wir ruhig das betriebswirtschaftliche Denken der Jetztzeit noch einmal zusammen: Die aus der privaten Unternehmung resultierenden Umweltschäden sowie die sozialen und gesundheitlichen Probleme von Mitarbeitern müssen von allen, also von der «Pólis» bezahlt werden. Gewinne aber bleiben im Unternehmen. Das ist jetzt klar. Denn «ökonomisch» ist ungleich «politisch». Punkt.


4. Vom «homo politicus» zum «homo oeconomicus»

4.1 Einführung

In der von Aristoteles so rührend beschriebenen «Pólis» war ein Bürger dann ein guter, kluger und moralischer Bürger, wenn er sich an den allfälligen Aufgaben der «Pólis» beteiligte und sich so um etwas kümmerte, welches außerhalb seiner direkten eigenen Interessen lag.

Wie wir oben gesehen haben, gilt man heute als kluger, moralischer und tugendhafter Pólisbürger, wenn man etwas Ökonomisches unternimmt, dabei – im Rahmen eines streng betriebswirtschaftlichen Denkens – seinen eigenen individuellen ökonomischen Interessen folgt und seinen Eigennutzen maximiert, dafür aber auch Startgelder von der «Pólis» empfängt, die Gewinne dieser seiner individuellen ökonomischen Unternehmungen in die eigene Tasche steckt, alle ökologischen und sozialen Probleme des eigenen Unternehmens auf die «Pólis» abwälzt, dafür aber dann auch verlangt, von sämtlichen Abgaben und Steuern, die die «Pólis» benötigt, um Aufgaben der «Pólis» zu bewältigen, befreit zu sein.

Oder anders ausgedrückt: Der öffentliche Diskurs in der Postmoderne ist so ökonomistisch, daß ein Unternehmer gerade dann als klug, moralisch und tugendhaft gilt, wenn er sein «in Schwierigkeiten geratenes Unternehmen» saniert, indem er einige Tausend «Arbeitnehmer» in die Freiheit entläßt. Dieser «Unternehmenssanierer» wird in den einschlägigen meinungsbildenden Medien tatsächlich als großer Staatsbürger gefeiert. Schließlich hat er sich den ökonomistischen Gesetzen des «Marktes» gebeugt. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Arbeitnehmer sind halt nur Späne, die vom Unternehmer marktgerecht ausgefegt und von der «Pólis» entsorgt werden! Ich komme im letzten Kapitel darauf zurück.


4.2 Zeichen

In diesem Abschnitt möchte ich das Schisma von «Pólis» und «Oikos» weiter vertiefen, den fraglosen Konsens über die Überlegenheit des ökonomistischen Denkens herbeizaubern und einige in der letzten Zeit gesammelte Zeichen vorstellen, die auf den Abschied vom «homo politicus» verweisen könnten.


4.2.1 Ich, Ich, Ich

«Ich, Ich, Ich!», das ist die Allformel der Postmoderne. Jeder kann nur für sich persönlich sprechen, jeder ist nur sich selbst verantwortlich, jeder muß für sich selber sorgen, jeder muß sich um sich selber kümmern, jeder kann alles nur für sich selbst entscheiden, jeder ist sich selbst der Nächste. Klingt nach «Oikos», oder? Und wo bleibt die Idee der «Pólis»? Schauen wir mal auf einige aktuelle Beispiele:

  • Bürger fragen, Politiker antworten!
    Lieber Leser, liebe Leserin, Sie müssen das unbedingt einmal selbst erleben: Wenn man Leute von heute Politikern Fragen stellen läßt, dann befassen sich diese Fragen sehr selten mit «politischen», also am allgemeinen Gemeinwohl orientierten Fragen, sondern meistens mit dem «Ich» des Fragenden: Mit persönlichen Beschwerden also, dem Wunsch nach Erlangung persönlicher Vorteile gegenüber anderen Pólisbürgern, mit sinnlosen «Falschen Empörungen», kurz, mit der am Eigenwohl orientierten Frage: «Was können Sie – als Politiker – für mich tun?» «Oikos», nicht «Pólis».
  • Überall, nur nicht bei uns!
    Stellen wir uns vor, was passiert, wenn der gesunde ökonomistische Menschenverstand, der Verbrecher und insbesondere «Sexualstraftäter» ganz böse bestraft sehen möchte, eines Tages hört, daß in räumlicher Nähe zu ihm, in seiner «Pólis» also, irgendeine Straf- oder Therapieanstalt gebaut werden soll, um eben diese Verbrecher, die ja ganz böse bestraft werden sollen, verwahren, bestrafen, oder vielleicht auch ‹bessern› zu können. Nun, der gesunde Menschenverstand zeigt, daß er vom Zeitgeist her gesehen sehr gesund ist. Denn er regt sich auf: «Diese Anstalt kann ‹von mir aus› überall gebaut werden, aber nicht hier, nicht bei ‹uns›, nicht bei mir!»

  • Tja, dem Gemeinwohl wäre es zwar dienlich, wenn problematische Aufgaben oder Lasten (eine Strafanstalt scheint dazu zu gehören) gerecht und gleich verteilt und überdies fair ausgehandelt würden. Aber, ehrlich gesagt, was hat der einzelne Hausverwalter damit zu tun? Gemeinsame Aufgaben? Gemeinwohl? Aushandeln von Belastungen? Wieso? Wozu? Nicht bei uns! «Oikos», nicht «Pólis».

  • Was steht zur Wahl?
    Was in diesen Zeiten bei einer Bundestagswahl eigentlich zur Wahl steht, scheint klar zu sein: Wieviel Geld bringt mir das, wenn ich die oder die Partei wähle. Oder genauer: Wenn ich «Schwarz/Gelb» wähle, habe ich dann wirklich «mehr netto» als bei «Rot/Grün»? Konsequent zu Ende gedacht hat diese ausschließlich ökonomistische Herangehensweise an das Politische naturgemäß das große deutsche Nachrichtenmagazin ohne jede (politische) Nachricht. In dem Heft vor einer großen Wahl ist tatsächlich das Titelthema: Wieviel Geld habe ich in der Tasche, wenn ich welche Partei wähle? Und in dem Heft nach der Wahl heißt es: Welche direkten, persönlichen, geldwerten Konsequenzen hat die erfolgte Wahl bestimmter Parteien? Schlicht, nicht?

  • Tja, das ist wirklich schon fast der Endpunkt, der Tiefpunkt im Bewußtsein von dem, was «politisch» sein könnte. Und keiner merkt es. Um es zum dritten Mal zu sagen: Für dieses angebliche Nachrichtenmagazin ist das Politische eingedampft auf die Frage: Bei welcher Partei mache ich ganz persönlich jetzt den besten Schnitt. Nur am Rande, außerhalb der Aufmerksamkeit der Hausverwalter: Und was ist mit solchen Themen wie Staatsverschuldung? Gibt es ökologische Probleme? Sind da überhaupt Aufgaben und Lasten, die eine «Pólis» zu lösen und zu tragen hätte? Versteht das die «Info-Elite» überhaupt? Gut, die Fakten zu wissen. «Oikos», nicht «Pólis».

  • Wer möchte meine Wählerstimme?
    Der Weg vom homo politicus zum homo oeconomicus zeigt sich auch darin, daß Tausende von Bürgern vor einer großen Wahl ganz ernsthaft ihre Stimme im Internet zum Kauf angeboten haben. Der Sinn einer Wahl, das «politische» daran, ist offensichtlich für viele verloren gegangen. Also versuchen sie wenigstens das zu machen, zu dem alle Mitbürger sie anhalten: Einen persönlichen Gewinn. Da in der Postmoderne alles zur Ware geworden ist, gibt es nur noch eine rudimentäre Intelligenzleistung: Waren möglichst billig einzukaufen und möglichst teuer zu verkaufen. Darin erschöpft sich alles. Und, hey, hey, hey, habe ich meine Wählerstimme nicht sogar geschenkt bekommen? Null Einsatz? Da wär' ich doch wirklich blöd, wenn ich daraus nix machen würde, oder? Alles ist Ware. «Oikos», nicht «Pólis».


  • 4.2.2 Politik zum Wohle der Ökonomie

    Wenn wir den Angaben des Deutschen Bundestages glauben wollen, verdienen heute etwa zwei Drittel aller Abgeordneten nebenher noch etwas Geld. Um es deutlich zu sagen, sie werden – zusätzlich zu ihren «Diäten» – noch dafür bezahlt, im Parlament die Interessen einzelner Unternehmen zu vertreten. Wie das geht? Ganz einfach. Ergibt sich – ganz überraschend, und trotz der beeinflußten öffentlichen Meinung – in der «Pólis» einmal eine Diskursrichtung, daß Unternehmen in Zukunft dies oder jenes für die «Pólis» tun sollten, dann erheben sich sogleich die nur ihrem Gewissen verantwortlichen «Politiker» und erklären der öffentlichen Meinung, daß genau dieses Ziel am besten über eine «freiwillige Selbstverpflichtung» der Unternehmen zu erreichen sei. Klar. Beispiele pflastern diesen Weg. Wir ersparen sie uns.

    Ein «guter» Politiker muß heute Ökonom sein, ökonomistisch denken und ständig dafür sorgen, daß das Kapital bei Laune bleibt und nicht unnötig belastet wird. Das ist das alleinige Sehnen und Trachten eines Politikers heute: Es sich nicht mit dem Kapital zu verscherzen. Mit beiden Beinen in der Wirklichkeit zu stehen. Kein Traumtänzer zu sein. Das zeigt sich dann zum Beispiel darin: Bringen Nutznießer dieser erfreulichen und gleichsam heiligen Ideologie vom «Markt» schon mal Geld rechtswidrig ins Ausland, muß ein guter «Politiker» von heute sogleich öffentlich darüber ‹nachdenken›, ob sich hier nicht eine Amnestie anböte. Im Interesse aller. Der «Pólis» also. Klar. Was sagte Karl Kraus: «Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution.» [1] In: Die Fackel Nr. 202, vom 30.4.1906, Seite 1.


    4.2.3 Politik zum eigenen Nutzen

    Mittlerweile habe wir einiges verstanden, lieber Leser und liebe Leserin, zum Beispiel den Grundgedanken des «Ökonomischen»: Man verschaffe sich Vorteile, auf Kosten der Allgemeinheit. Ein einfaches Rezept, wie es scheint. Die «Pólis» ist deswegen fest in der Hand von «politischen Parteien». Alle öffentlichen Ämter in der Stadt, im Kreis, im Land, im Bund, und das sind unglaublich viele, sind fest in der Hand von Parteien. Und natürlich treten heute junge Leute zum Beispiel in die Partei der Spießer ein, weil sie eines Tages auch endlich irgend eine öffentliche Stelle mit Pensionsberechtigung ergattern wollen. Dieser Wunsch wird heute mit der klingenden Wortschelle geschmückt, daß sie – die jungen Leute – gerne etwas ‹bewegen›, oder, noch viel schöner, endlich eine «Herausforderung» annehmen wollten. Eine Herausforderung? Für wen?

    Dazu kommt in der Postmoderne etwas, das sich mit einigen der folgenden Begriffe zusammenfassen läßt: «Selbstbedienung, Korruption, Betrug, Vertragsbruch, […] wissentliche Bilanzfälschungen.» [2] Süddeutsche Zeitung vom 30. September 2002, Seite 22. Die Organisation «Transparency International (TI)» veröffentlicht jährlich einen sogenannten «Korruptionsindex», dargestellt als eine Rangreihe von Staaten. An der Spitze dieses Index stehen die Staaten, in denen TI (fast) keine Korruption beobachtete. Wie war es wohl im Bericht des Jahres 2002 um die Geschäftsmoral der Deutschen beim Umgang mit Behörden bestellt, lieber Leser, liebe Leserin? Waren bei öffentlichen Aufträgen, die von «politisch» Handelnden einer bestimmten «Pólis» im Auftrag der «Pólis» vergeben wurden, Raffgier und persönliche Bereicherung selbstverständlich, waren Filz und Korruption an der Tagesordnung, wurde und wird, wie es Peter Eigen – Vorsitzender von TI – ausdrückt, in Deutschland «Korruption weiterhin als Norm angesehen»? Könnte es sogar sein, daß Deutschland im Korruptionsindex just gerade vom südafrikanischen Staat Botswana überholt wurde und nun auf Rang 18 liegt? Tja. Stimmt. So ist es. [3] Richard Sennett (1974): The Fall of Public Man. Auf Deutsch: Richard Sennett (1984): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Ausgabe 1998.

    Politik als Hinwendung zum eigenen Nutzen zeigt sich aber auch darin, daß Politiker ihre von der «Pólis» in Wahlen übertragene Macht nutzen, um für sich und ihre Entourage Geld zu bekommen. Der dazugehörige Euphemismus heißt «Spenden». Ein ehemaliger Dauerkanzler hat sich selbst mit abenteuerlichen Geldströmen und Zuwendungen in seiner Partei an der Macht gehalten (diese Geschichte müßte im einzelnen noch geschrieben werden). Und immer wenn es einmal eng wurde, für ihn, für seine Partei, dann brachte er die Partei mit einem klugen küchenpsychologischen Satz wieder flugs hinter sich: «Die Sozis wollen doch nur dahin, wo wir jetzt sind!» Und wo war der Dauerkanzler und seine Partei? An den Fleischtöpfen. Ist damit das gesamte politische Denken der Jetztzeit zusammengefaßt? Ja.

    Die Partei der «Grünen» wird vom gesunden ökonomistischen Menschenverstand und insbesondere von der schlimmsten Schmierlappenzeitung Deutschlands – «Unabhängig, Überparteilich» – gehaßt bis auf's Blut, weil sie als einzige Partei den Eindruck erweckt, sich tatsächlich und uneigennützig für die Zukunft unserer «Pólis» zu interessieren, indem sie etwas außerhalb von sich selbst anstrebt. Damit erhebt sich diese Partei über die anderen Parteien. Das muß ja zu dystonischen Ausschüttungen aller Art bei denen führten, die ökonomistisch, also egozentrisch, also in Bestechungszyklen denken.


    4.2.4 Die Inszenierung des Politikers als Mensch

    Richard Sennett hat sich bereits 1974 Gedanken über die Intrusion des Privaten in den öffentlichen Raum gemacht und die ganz offensichtlichen Verfallserscheinungen des öffentlichen Lebens durch die immer mehr zunehmende Überlagerung des Politischen durch das Private skizziert. [4] Richard Sennett (1984), a.a.O. Seite 19. Private Wirklichkeit und öffentlicher Raum vermengen sich. Das Private wurde immer mehr an die Öffentlichkeit gezerrt, heute ist das Private das Öffentliche! Das hat im Zusammenhang dieses Traktates zwei Aspekte:

  • Zum einen wird alles Politische auf die private Ebene heruntergeholt, also personalisiert, damit das analphabetisierte Publikum überhaupt versteht, was los ist. Sennett sagt: «Verhaltensweisen und Fragestellungen, die unpersönlich sind, erwecken keine großen Leidenschaften; sie erwecken erst dann Leidenschaft, wenn die Menschen fälschlich mit ihnen umgehen, als handele es sich um etwas Persönliches.» [5] Richard Sennett (1984), a.a.O. Seite 19.
    In der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes – ebenso wie im TV – wird die Personalisierung des Politischen permanent und pervasiv inszeniert mit Hilfe einer Reduktion komplexer gesellschaftlicher Prozesse auf Personen (vgl. These 1 im Essay über «Die schlimmste Lichtquelle der Welt»). Der gesunde Menschenverstand lernt bei diesen medialen Aufführungen Macht und Einfluß einzelner Personen grenzenlos zu überschätzen. Einschlägige Schlagzeilen lauten dann leichthin: «4.000.000 Arbeitslose: Was nun, Kanzler?», «Kanzler, hier kommt die Benzinwut!» «Kanzler, hier kommt die Flutwut!» In klarer Absicht wird so getan, als sei der Kanzler ganz privat und persönlich dafür verantwortlich, daß – sagen wir mal – eine Großbank mal eben 5.000 Arbeitnehmer entläßt.
  • Und zum anderen muß ein Politiker, will er gewählt werden, nicht nur bei jeder politischen «Handlung» deren Inszenierung für das TV gleich mitdenken, sondern auch bereit sein, über sein ‹Ich› und die Aufregungen desselben angemessen zu berichten. Sennett nennt das den «Kult der Intimität und der Erregung». So muß in der Postmoderne ein Politiker als Politiker insbesondere auch «Mensch» sein. Da das Private nicht mehr das politische, sondern das öffentliche ist, braucht die analphabetisierte Öffentlichkeit «Home storys», Fotos vom privaten Glück und der «Frau an seiner Seite». Und ist ein Politiker – als Christ – mal in eine unglaubliche Lügengeschichte verwickelt, in denen Millionen an Schwarzgeld hin und her geschleust und als «Vermächtnisse jüdischer Mitbürger» ausgegeben werden, erhält er prompt seine Homestory in einem reaktionären Illustrationsblatt und wird dort als «Mensch», als ‹treusorgender Familienvater› ausgestellt. Selbstverständlich wird in keiner einzigen Frage auf die Lügengeschichte eingegangen. Ist doch ein netter Mensch, oder? Und nur ganz nebenbei: Ein so netter Mensch wird in Deutschland von keinem Gericht verurteilt. Weswegen auch?


  • 4.2.5 Die Entpolitisierung der Wissenschaften

    Nur noch eine Konsequenz: Fast alle Studierenden interessieren sich heute kaum für politische oder ethische Grundlagen ihres Wissens. Auch sie fragen nach ihrem persönlichen «Oikos», nicht nach der «Pólis». Sie haben – zur «Informationselite» gehörend – gelernt, nach den «Fakten» zu fragen, auf Deutsch also: «Was habe ich davon, wenn ich das oder das lerne? Wie kann ich mit diesem «Wissen» Geld verdienen, also etwas für mich und meinem «Oikos» tun? Was kann ich persönlich beruflich damit ‹anfangen›? Kann ich mich – ganz persönlich jetzt – mit diesem Wissen besser gegen andere Mitbewerber am Markt durchsetzen?» Gut, die Fakten zu wissen.


    5. Abschied vom «homo politicus»

    In den modernen und postmodernen kapitalistischen Gesellschaften wird der Begriff der «Pólis» durch den der Ökonomie ersetzt. Ja, es läßt sich heute allüberall gar eine «Sakralisierung der Ökonomie» [6] Andreas Urs Sommer (2002): Die Kunst, selber zu denken. Ein philosophischer Dictionnaire. Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Band 214. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag. Seite 223. beobachten. Der anzubetende Gott, das zu verehrende Zauberwort ist der «Markt»: «Die Strategie besteht darin, diesen ‹Markt›, als wäre er nicht von Menschen gemacht, sondern naturgegeben, zu einer unangreifbaren Macht zu hypostasieren, der wir auf die eine oder andere Weise zu huldigen hätten.» [7] Andreas Urs Sommer (2002), a.a.O., Seite 224.

    Der Begriff, der Gott «Markt» vereinigt in sich symbolhaft alle nur denkbaren Heils- und Gewinnversprechungen, die «Politikern» und Ökonomen heute aus dem Munde purzeln. Alles konzentriert sich heute im veröffentlichten Diskurs auf diesen einen neuen Gott. Und selbstverständlich werden diejenigen, die an andere Götter neben ihm, dem heiligen «Markt», denken, augenblicklich aus der Gemeinschaft aller Demokraten ausgeschlossen. Exkommunikation, auch hier.

    Interessant ist nun, daß dieser neue und alleinige Gott ‹Markt› hin und wieder mit Opfergaben besänftigt und gnädig gestimmt werden muß, und zwar mit Menschenopfern: «‹Rationalisierungsbedarf› heißt das auf neudeutsch.» [8] Andreas Urs Sommer (2002), a.a.O., Seite 226. Es muß innerhalb eines pseudoreligiösen Rituals «rationalisiert» werden, damit es mit dem Unternehmen wieder aufwärts gehe: «Wie das Christentum ist die Ökonomie eine Religion, die das Heil prinzipiell von der Zukunft erwartet. Der Blutzoll muß erbracht werden, damit es dereinst besser werde.» [9] Andreas Urs Sommer (2002), a.a.O., Seite 227. Und im «Postfordismus» erwartet der Unternehmer zu Recht von ‹seinen› «marktgläubigen» Arbeitnehmern, daß diese gelernt haben, so unternehmerisch zu denken, daß sie sich selbst zur Entlassung vorschlagen: «Ich verlasse mich da ganz auf Sie!»

    Der Abschied vom «homo politicus» wird insbesondere auch daran deutlich, daß heute jeder im Rahmen seiner «Ich-AG» sein eigener Unternehmer ist. Das Produkt, welches ein jeder heute auf dem «Markt» anzubieten hat, ist er selbst. Da heißt es clever und wach zu sein, seine Chancen zu wittern, und sich gut und lukrativ zu verkaufen. Es ist gut vorstellbar, wie ein ‹Ich› heute kaum mehr versteht, wie man sich für Aufgaben oder Probleme außerhalb der eigenen «Ich-AG» interessieren kann. Und so bleiben Aufgaben und Probleme der «Pólis», die dringend und immer drängender gelöst werden müßten, auf der Strecke. Ein ‹Ich› ist ein ‹Ich›, und das hat mit einer «Pólis» nur in einer Richtung zu schaffen: Was kann die «Pólis» für mich tun? Aber niemals: Was kann ich für die «Pólis» tun?

    ‹Ich, Ich, Ich›, daraus folgt nichts, außer, daß da ein ökonomistisch gedrilltes ‹Ich› ist, welches ‹Ich› ruft. Ein ‹Ich› stellt keinerlei ethischen Erwägungen außerhalb seines ‹Ichs› an. Warum sollte es sich darum kümmern? In diesen Zeiten muß jeder selbst am besten wissen, was er zu tun hat, oder? Nur wenn ein ‹Ich› einmal von außen beschädigt wird, dann macht es auf sich aufmerksam, bringt ‹ethische› Argumente ein, jammert und kräht und fordert und verlangt Hilfe von denen, die sich dazu herabgelassen haben, Aufgaben der «Pólis» zu bewältigen. Aber auch dann ist das ‹Ich› nur auf seinen eigenen Vorteil aus, es geht ihm nicht um die nachhaltige Entwicklung von Angelegenheiten im sozialen Raum. Nein, daß ‹Ich› will nur für irgendetwas angeblich Erlittenes entschädigt werden.

    Der Sieg des «homo oeconomicus» und der damit verbundene Abschied vom «homo politicus» bringt naturgemäß auch einen Abschied vom Rechtsstaat mit sich. Denn ein von Raffgier und Anspruchsunverschämtheit geprägtes postmodernes ‹Ich› versteht überhaupt nicht, wieso ‹da draußen› irgendjemand sich einbilden kann, ihn be- oder gar verurteilen zu können. Diese Auflösung des Rechtsbewußtseins ist allerorten zu sehen. Aber das ist einen eigenen Essay wert.

    Politik war vielleicht einmal die «Kunst des Möglichen», heute ist die Ökonomie die Diktatur des ökonomisch «Machbaren»! Läßt sich in diesen Zeiten eine Repolitisierung des öffentlichen Diskurses denken? Ja, gar eine Remoralisierung? Wie sollte das aussehen? Wenn heute wieder einmal gefordert wird, daß die Pólisbürger «mehr Verantwortung übernehmen müßten», oder wenn gar eine Bereitschaft zu «Opfern» verlangt wird, dann geht es doch immer wieder nur um ökonomistische, nie um politische Aspekte: Die Individualisierung von sozialen Risiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit etwa. Denn Ärzte müssen unbedingt hohe Einkommen haben, die Pharmaindustrie braucht dringend viel Geld für die Erforschung neuer Medikamente, Arbeitgeber müssen entlastet werden, und so weiter. Wenn also von den Pólisbürgern «Opfer» erwartet werden, dann ist das nur die ökonomistisch-rhetorische Begleitmusik, um «notwendige Maßnahmen und Anpassungen» möglichst ohne große Friktionen und Proteste der Betroffenen vornehmen zu können. Oder ganz kurz, es geht doch immer wieder nur um das Erheischen von Zustimmung, dem Gott «Markt» weitere Opfer bringen zu dürfen. Aber eines Tages, wirklich eines Tages, dann wartet auf alle Menschen das Paradies – des vollendeten «Marktes», in dem alle, alle Menschen glücklich leben. Oder?

    Soziale Strukturen bestimmen nicht unser Dasein, sie sind unser Dasein. Da diese Strukturen heute völlig entpolitisiert und durch und durch ökonomisiert sind, bleibt es nicht aus, daß es kaum noch Menschen gibt, die politisch denken können, dies heißt, daß sie sich für etwas Größeres, als sie selbst es sind, interessieren und einsetzen. Keine guten Zeiten.

    Eines noch, zum Schluß: Wie gerne hören wir von einigen uns liebgewordenen ‹68ern› Geschichten von alten Filmen mit Humphrey Bogart, in denen es – neben dem jeweils spezifischen Plot – auch immer um eine Entscheidung zwischen «Pólis» und «Oikos» ging: Casablanca (1943), To Have and Have not (1945), Key Largo (1948). Diese Filme sind «Klassiker» geworden, weil der Held – nach einigen inneren und äußeren Wirren – mutig über seinen ökonomistisch geprägten Ich-Schatten sprang und sich jeweils – auf die eine oder andere Weise – für die «Pólis» entschied. Welcher Film wird in 50 Jahren einmal als «Klassiker» der Jetztzeit gelten?



    Kommentare:

    22. Oktober 2002

    Lieber Helmut,
    schön, wie Du den Niedergang des politischen Wesens erhellst. Freier Markt als Goldenes Kalb, dem egomane Jünger ihr Identitäterä darbieten. So ist es. Dass die Poleis selbst ein Machtinstrument war, das der Unterdrückung der Agrarbauern in den hellenischen Stadtstaaten als mythologisches Fundament diente, will nur am Rande bemerkt sein. Lass mich stattdessen versuchen, die interessante Frage zu beantworten, welcher Film Klassiker der Jetztzeit werden könnte. Zunächst ist, mit Verlaub, die Form der Frage nicht ganz richtig. Unsere Zeit, vielleicht die ‹Postmoderne›, kennt im eigentlichen Sinne keine Klassiker mehr. Sollte trotzdem ein männlicher Darsteller ähnlichen Status wie Humphrey Bogart erreichen, so werden seine Rollen den von Bogart verkörperten Figuren sehr ähnlich sein. Männer, die sich einer höheren Sache opfern, ziehen immer. Aber es wird ein entarteter Bogart sein, der seinen Eigennutz nicht welt-, also marktfremden Idealen opfert, sondern sich vielmehr in den Dienst des ‹Oikos› stellt, weil er sich davon noch größeren Gewinn verspricht. Klingt kryptisch, aber ich habe in einer Filmbesprechung ein Beispiel gefunden: In dem gerade in Deutschland angelaufenen Film ‹Triple X› gibt ein widerwärtiges Konglomerat aus Rambo, James Bond und einem zu alten Skateboarder den Rebellen. Er ist prinzipiell der von Dir so gut beschriebene auf Eigennutz ausgerichtete Ultraindividualist. Im Laufe der Handlung erkennt er aber, was seine Pflicht ist. Nämlich der Regierung konformistisch zu dienen, indem er das System gegen Gefahr von außen verteidigt. Der ‹Rebell› versteht irgendwie, das seine Rebellion eine Farce ist, weil er und das System sich gemeinsam die Gewinnoptimierung ohne Rücksicht auf Konsequenzen auf die Fahnen geschrieben haben. So wäre es in der Jetztzeit kein mutig gelöster Entscheidungskonflikt zu Gunsten der Poleis, der den echten Mann zum wahren Helden macht. Sondern die Offenbarung, dass Oikos omnipräsent ist, und der Held sich am besten dient, indem er dem System dient.
    Nur gut, dass wir keine Helden sein wollen.
    Stefan

    _______


    23. Oktober 2002

    Lieber Helmut,
    ich weiß, daß das jetzt an Deinem eigentlichen Text vorbei geht. Aber Stefan ist in seinem Kommentar auch auf Deine letzten kryptischen Zeilen eingegangen. Also, deswegen: Ich bin ein unersättlicher Filmfreund, insbesondere von Western, und dann noch alten Western (so 1945 bis 1965). Und in diesen ‹guten, alten› Filmen, nicht in den zynischen Italowestern, geht es eigentlich immer nur um eins, ‹Oikos› oder ‹Pólis›. Also um die Frage, kümmere ich mich nur um meinen Haushalt, meine Geschäfte, meine Angelegenheiten, oder gibt es da draußen noch etwas anderes, eine kleine Stadt zum Beispiel, eine Ansammlung von Familien, eine ‹Pólis›, für die ich etwas tun kann oder vielleicht gar tun muß? In sehr vielen Western wird ja eine ‹Pólis› von irgendeinem einzelnen Machiavelli und einer gedungenen Bande von Revolverträgern beherrscht oder bedroht. Und die Frage für die Helden ist immer: Stelle ich mich gegen diese – auch physische – Bedrohung, oder überlasse ich das anderen Pólisbürgern.
    Ich möchte nun nur einen einzigen Film erwähnen, der den Gegensatz zwischen ‹Oikos› und ‹Pólis› fast wörtlich herausarbeitet: John Fords «The Man Who Shot Liberty Valance» (1962). In einer Wahlversammlung wird der ‹Gunslinger› und Pferdezüchter Tom Donovan als Abgeordneter für ein regionales Parlament vorgeschlagen. Er weist dies jedoch zurück mit der Begründung: «I refuse the nomination, because I've got other plans, personal plans.». Damit meint er, daß er in Kürze heiraten und einen eigenen Hausstand gründen möchte.
    Die Ironie dieses Films ergibt sich nun fast mystisch aus der Spannung zwischen ‹Oikos› und ‹Pólis›. Denn Tom Donovan verliert die Frau, die er heiraten will, genau an den Mann – Ransom Stoddard – der über sein ‹Oikossystem› hinausblickt und sich für Aufgaben der ‹Pólis› zur Verfügung stellt. So kann es gehen. Natürlich werden in diesem hervorragenden Film auch noch andere Konflikte und Themen skizziert. Aber der soeben geschilderte Topos ist der Knackpunkt. ‹Oikos› oder ‹Pólis›, eine Entscheidung, die wir alle zu fällen haben, und zwar immer wieder, und die Summe all' dieser Entscheidungen – entscheidet über uns alle. Punkt.
    Grüße von
    Rainer



    Erstellt: 10. Oktober 2002 – letzte Überarbeitung: 23. Oktober 2002
    Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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