BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom Fußball»
von Stefan Bärnwald
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– Für meinen Opa –

Da flankt dann mal einer anstatt für 400.000
nur noch für 300.000 Euro hinter das Tor.
(Reiner Calmund) [1] Bayer Leverkusens Manager Reiner Calmund zu erwarteten Einschnitten bei den Gehältern der Bundesliga-Profis angesichts der Kirch-Insolvenz.

Das ist wieder diese verdammte kalvinistische
Krankheit. Bezahlung! Warum müssen sie immer
die Sprache des Warentauschs verwenden?
(Thomas Pynchon) [2] Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel, S. 95, Hamburg: Rowohlt.

Vorspiel: Spracherwachen

Die ersten fünf Lebensjahre in einem kleinen Dorf im Sauerland. Riß in der Kindheit, Umzug in einen 30 Kilometer entfernten Ort. Dem Fußball sei Dank schnell neue Freunde gefunden. Tägliches Ritual: Mit dem Ball unterm Arm zur Wiese hinter dem Kiosk, an dem das monatliche Taschengeld gegen Yps-Hefte und Marvel-Comics getauscht werden konnte. Dort auf die Spielkameraden warten. Wenn sie endlich da waren: Jacken aus, Jacken in Torpfosten, Spielkameraden in Mannschaften, die Wiese in ein Fußballstadion verwandelt. Fußball spielen bis zur Erschöpfung. Dann, einige Tage nach meiner Aufnahme in die neue Gemeinschaft:

Ich:  Puh, ich bin uppe! Sie:  Was hast du gesagt, du bist uppe?
Ich:  Ja, uppe!
Ich, einigermaßen verzweifelt:  Uppe, uppe, halt, ihr müßt doch wissen, was ich meine!
Ich:  Uppe heißt, ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Pause. Das haben wir da im Sauerland immer so gesagt, wo ich früher gewohnt habe!
Sie:  Ach so!
Der Graben schließt sich wieder zwischen mir und meinen neuen Freunden. Gemeinsame Pause. Danach weiter Fußball spielen bis zum Umfallen.


Aufwärmen: Jugendliebe

Helmut Hansens traurige kulturphysiognomische Betrachtung eines Fußballspiels in Deutschland anno 2002 hat mich veranlaßt, endlich einen Versuch zu unternehmen, den ich mindestens seit meinem ersten Beitrag für das Skepsis-Reservat vor mir her schiebe: Abschied vom Fußball zu nehmen, meiner größten und einzigen Kindheits- und Jugendliebe. Dabei hat mir mein Opa – treuer Begleiter und erster Förderer meiner in den Wirrungen der Postpubertät gescheiterten Karriere als bezahlter Fußballer – noch auf dem Sterbebett das Versprechen abgenommen, dem Fußball die Treue zu halten. Und das habe ich, gegen einen stetig zunehmenden Widerwillen, bis zu diesem Tag.

Mein Abschied vom Fußball kann und soll somit auch heute kein endgültiger sein. Eher will ich eine kontinuierlich wachsende Distanz beschreiben. Oder vielmehr, mit der für eine Liebesbeziehung gebotenen Lyrik: eine asymptotisch gen Nullpunkt schwindende Liebe in Worte kleiden. Das kann bei einem sich der Sprache entziehenden Gegenstand wie der Liebe natürlich bestenfalls graduell gelingen. Aber als Anhänger des VFL Bochum und der Philosophie Ciorans habe ich das Scheitern notgedrungen längst zur tragenden Säule meines Weltengebäudes erklärt.


Anstoß: Abstiege, persönlich

Meine Beziehung mit dem Fußball läßt sich sehr grob in drei ineinander verwobene Phasen einteilen: Eine aktive, eine aktiv passive, und eine theoretisch abstrahierende. Die aktive Zeit dauerte ungefähr bis zum 16. Lebensjahr. Der Fußball war bis dahin ohne wenn und aber Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, war mir zum Sinn- und Identitätsstifter geworden. Der Fußball war meine Flucht aus einem wenig erbaulichen familiären Umfeld. Nur dort konnte ich mich verlieren und neu wiedererfinden als unverzichtbarer Teil eines größeren Ganzen. Magische Spielzeit auf geweihtem Feld. Erst ein ausbleibender zweiter Wachstumsschub und sich zuspitzende psychosoziale Turbulenzen führten zum Einsetzen des Karriereknicks in der A-Jugend. Aus dem hochklassigen Eliteverein zurück zum Provinzklub. Dort noch ein paar Monate als tragikomische Diva. Dann Abschied vom aktiven Vereinssport. Die aktiv passive Phase führte mich dann auf Entdeckungsreise zu den Bolzplätzen im Ruhrgebiet und als «Fan» in die Fußballstadien der ersten und zweiten Bundesliga. Auf den Rängen der Stadien wieder die magische Auflösung des Egos und Wiedererweckung in der Gemeinschaft. Diesmal mit der Masse Gleichgesinnter auf den Stehtribünen, im Bann des Spielgeschehens, irgendwie in einer unerklärlichen Beziehung zu «unserer» Mannschaft. Gemeinsame Freuden, geteilte Leiden. Als Begleiterscheinung einer progressiven Misanthropie nahm die in Liebesdingen absolut notwendige Bereitschaft, sich Illusionen hinzugeben später dann irgendwann leider so weit ab, daß ich mich als immer weniger beteiligter Beobachter auf der Sitztribüne wiederfand. Von dort auf das Sofa vor den Fernseher war es nur noch ein kurzer Weg. Und dort finde ich meine Beziehung zum Fußball heute, in der theoretisch abstrahierenden Phase. Meine Leidenschaft für den Fußball ist nahezu erloschen. Ich erfreue mich statt dessen einer etwas klareren Sicht auf die Geschehnisse, kaum getrübt von den geistig-optischen Täuschungen, derer es bedarf, um müde Liebesbeziehungen am Leben zu erhalten. Geblieben ist eine Art Interesse, das durchaus wohlwollend ist, aber immer stärker von einem Widerwillen gegen die Verformungen des Fußballs in seiner aktuellen Form gebrochen wird.


Erste Halbzeit: Adieu Heterotopia

Während des Übergangs von meiner aktiv passiven zur theoretisch abstrahierenden Phase durfte ich für eine der bedeutendsten Fußballzeitschriften der neunziger Jahre, das Bochumer Magazin «VFouL», schreiben. In der Kolumne «Von den Mechanismen des Geschäfts» analysierte ich Ende 1997 gesellschaftliche Strömungen anhand ihrer symbolischen Ausprägung auf dem Fußballfeld. Dabei übertrug ich ein Diktum von Oswald Wiener, nach dem der optische und akustische Anblick eines Orchesters Produkt und Miniatur des Staates sei, auf die Bochumer Fußballmannschaft. [3] Zu finden in der «Verbesserung von Mitteleuropa», im Rowohlt-Verlag. Die Stoiker nannten diesen Gedanken kosmos-polis, oder Kosmopolis: Alles in der Welt läßt auf seine Weise eine Ordnung erkennen, in die die menschlichen Angelegenheiten eingebunden sind. Aus sozial-konstruktivistischer Perspektive sei hinzugefügt, daß diese Ordnung wohl eher aus den menschlichen Angelegenheiten selbst erwachsen dürfte, als durch Resonanz mit sphärischen Harmonien. Interessierten LeserInnen sei Stephen Toulmins Buch «Kosmopolis» im Suhrkamp-Verlag ans Herz gelegt. Ein kurzer Rückblick sei erlaubt.

Die Mannschaft des VFL Bochum in der Saison 96/97 zeichnete ein großes Potential an sehr jungen Spielern aus, die mit unserer damaligen Idee der Postmoderne erfolgreich war: Keine selbstsüchtigen Stars in der Mannschaft, statt dessen heterarchisch organisierte Spieler und Mannschaftsteile: Horizontale Vernetzung, die flexibel lokale Knoten ausbilden konnte, wenn es die Spielsituation erforderte. Ornamentale Verdichtung des Spiels auf engstem Raum, und im richtigen Moment der kluge Pass in die sich öffnende Gasse. Mit anderen Worten, wir durften für eine schöne Zeit rhizomatischen Fußball sehen. Deleuze wäre begeistert gewesen. Der Traum war natürlich nur von kurzer Dauer. Als nach einiger Zeit der Erfolg Ausblieb, mußten wir in Bochum den Rückfall ins deutsche Elend des 20. Jahrhunderts miterleben. Ein Führungsspieler, vor seiner Zeit als Profifußballer sinnigerweise Polizist, wurde verpflichtet. Mit ihm kehrten die bürokratisch verfestigte starre Organisation der Mannschaft und eine vertikale Hierarchie – Sinnbilder der Moderne – zurück. Gleichzeitig brachte er der unerfahrenen Jugend bei, wie man in der Gesellschaft und auf dem Fußballfeld wirklich erfolgreich ist: Scheuklappen auf Richtung Erfolg, dabei immer schön weit die Ellenbogen raus. Und sich bei Regelverstößen nur nicht erwischen lassen. Genau die Art Fußball eben, die wir nicht mehr sehen wollten: Stillosigkeit als Prinzip, urdeutsche Angstbeißer-Mentalität, vom Erfolg geheiligte Mittel zum Zweck. Effizienz vernichtet Ästhetik. Zum Kotzen.


Zweite Halbzeit: Heiliger Profit

Leider zeigt mir Helmut Hansens Betrachtung eines Fußballspiels der Saison 2002/2003 und die Lektüre aktueller Spielberichte, das sich auf den Fußballfeldern von der Bundesliga bis hin zur Freizeitliga ausgerechnet dieser allein auf Effizienz abzielende Fußball durchgesetzt zu haben scheint. Natürlich ist es eine eigene Art Ästhetik, die sich daraus ergibt, wie Bernd es in seinem Kommentar zu Helmut Hansens Bericht betont. In meinem Erleben ist es aber eine allzu simple Ästhetik, die sich nicht den Möglichkeiten eines Fußballspiels öffnet, sondern den Möglichkeitsraum ganz im Gegenteil einschränkt. Schlimmer noch, die Schönheit des Spiel hängt bei ausschließlicher Orientierung an der Effizienz unmittelbar vom Erfolg ab. Erst der Erfolg heiligt die einfallslosen oder gar destruktiven Mittel der Mannschaft, die kaum etwas anderes leistet, als auf die eine spielentscheidende Unachtsamkeit des Gegners zu lauern.

Ob es tatsächlich so naheliegend ist, wie es mir scheint, kann ich nicht beurteilen. Aber zumindest mir ist vollkommen klar, daß der Sieg der Effizienz über die ästhetischen Möglichkeiten des Fußball ganz im Sinne Oswald Wieners Produkt und Miniatur unserer Zeit ist. Das es gesellschaftlich wie sportlich um kaum noch etwas anderes als wirtschaftlichen Erfolg geht, ist eigentlich zu trivial, um es hier festzustellen. Neu erscheint mir aber der Grad der Ausprägung, mit der diese Profitorientierung Denken und Handeln der Gesellschaftsinsassen beherrscht. Es ist die kalvinistische Krankheit in ihrem finalen Stadium, die die westlichen Gesellschaften fest im Griff hat: Wirtschaftlicher Erfolg ist das alleinige Zeichen für das Auserwähltsein vor Gott, und der Aktienkurs ist die Jakobsleiter ins Himmelreich. Dem Profit ist folglich alles andere unterzuordnen, alles Streben richtet sich auf die Ökonomie. Der Warentausch und der Kapitalmarkt beherrschen den gesellschaftlichen Diskurs und damit die Menschen.

Die Symptome dieser Krankheit müssen sich zwangsläufig auch auf dem Fußballfeld zeigen. Wie könnten bei der aktuellen Herrschaft des Marktes über die Menschen die Laufwege der Spieler von den Vorgaben der Kapitalmärkte abweichen? Da sie selbst operatives Kapital der Fußballkonzerne sind, dürfte neben der Sprache des Warentauschs irgendwann kaum noch Platz für die kreativen Möglichkeiten des Fußballspiels im Kopf der Spieler übrig bleiben. Und das wäre das endgültige Ende des Fußballs, der mir einmal etwas bedeutet hat.


Nachspielzeit: Abschied vom Fußball?

Natürlich nicht. Trotz seiner unumkehrbaren Kommerzialisierung. Wie sollte es möglich sein, sich je ganz von seiner großen Jugendliebe loszusagen? Was bleibt aber ist vor allem Wehmut angesichts seiner Entwicklung. Wie konnte es nur dahin kommen? Doch dann, heilsame Fulguration: Plötzlich blitzt in diesem einen Moment wieder seine ganze Schönheit auf, noch heller strahlend vor dem fauligen Hintergrund des Verfalls. Ein wunderbarer Spielzug, der über sich hinaus auf die im Fußball verborgenen Möglichkeiten zeigt. Entzweite Kämpfer um den Ball, nach der Aktion mit einem Handschlag vereint. Ein Flugkopfball, der für ein ganzes Leben entschädigen kann. Der Fußball ist tot? Es lebe der Fußball.



Kommentare:

30. Januar 2003
Hallo Stefan,
Dein Abschied vom Fußball spricht mir aus dem Herzen. Mir fällt es auch immer schwerer, über die Kommerzialisierung hinweg noch seine schönen Seiten zu sehen. Bei dieser Aufgabe ist mir gestern Bert Brecht zur Seite geeilt. Da ich denke, daß seine Sicht auf den Fußball des Jahres 1929 neben einem Stück Nostalgie auch ein gutes Stück Lebenshilfe für Fußballmüde birgt, will ich ihn ausführlich zitieren. Vergeben wir ihm vorab, daß er ein Schalker war. Gefunden habe ich seinen Artikel ‹Das größte Kunstereignis 1929› im Folio der Neuen Zürcher Zeitung vom 9. September 1997 über Wanne-Eickel. Menschen des öffentlichen Lebens im Jahre 1929, unter ihnen Thomas Mann, Gerhard Hauptmann oder eben Bert Brecht wurden nach dem herausragenden Kunstereignis dieses Jahres gefragt. Hier ein Zusammenschnitt von Bert Brechts Antwort:
Ich «stimme für das interessanteste Spiel der deutschen Meisterschaft, Schalke 04 gegen Arminia Hannover, das mit 6 zu 2 endete. […] Nicht nur wird mein Urteil von 20.000 Kunstkennern geteilt, sondern auch von der Mehrheit der deutschen Fußballpresse, die sowohl dem System des Schalker Kreiselspiels als auch den ausführenden Künstlern Szepan, Kuzorra, Tibulski größte Hochachtung entgegenbrachten. Für einmal fand an einem Kulturereignis kein Nepp statt. Der Gegenwert für das Eintrittsgeld wurde geboten. […] In der Tat ist die Nachricht noch nicht in die Redaktionen vorgedrungen, daß Fußball als Kunstform den traditionellen Formen der Literatur, Theater, Malerei, Musik bei weitem überlegen ist. Fußball ist wie alle große Kunst einfach. Die Übersichtlichkeit der Regeln gestattet es, in Ruhe Details zu studieren […]. Jeder Zuschauer ist spätestens nach drei Spielen ein Kenner. Das Publikum ist also ausschließlich aus Kennern zusammengesetzt. […] Das hohe Niveau der Fußballkunst basiert auf dem Respekt vor ehrlicher Arbeit. Ihr Ertrag ist meßbar: Jedes Spiel ergibt ein Resultat. Daß nicht immer der bessere gewinnt, spricht für den unbarmherzigen Realismus der Fußballkunst. […] Gerade diese Unberechenbarkeit beweist die Überlegenheit des Fußballs gegenüber traditionellen Kunstformen, in denen der Ausgang festgelegt ist: im Theater schlägt Hamlet Polonius, aber im Spiel Schalke–Hannover kann die Situation ruhig sein, Szepan bekommt den Ball im Mittelfeld, startet ein ungeheures Dribbling um vier Verteidiger und schießt ein. Jederzeit ist die Katastrophe oder der Geniestreich möglich: Fußball lehrt eine Masse in der Möglichkeitsform denken. Sie macht die Erfahrung, daß sich in Sekunden etwas verändern läßt. Fußball ist – zusammen mit der Erkenntnis, daß der Weg ins Spiel fast immer über den Kampf führt – Anschauungsunterricht für Revolutionäre. […] Aus oben genannten Gründen stimme ich dafür, das Spiel Schalke–Hannover als Kunstereignis des Jahres 1929 zu wählen, den Stürmer Ernst Kuzorra als Künstler des Jahres auszuzeichnen und Fußball als fruchtbarste Kunstform des 20. Jahrhunderts zu sehen».
Ist das nicht phantastisch? Genau unsere gemeinsame Sicht auf den Fußball in der Zeit damals beim VFouL, oder? Schade, daß wir den Text da noch nicht kannten. Jetzt ist es zu spät. Wir sind im 21. Jahrhundert, in dem die ökonomische Planungssicherheit von Aktiengesellschaften wie Borussia Dortmund die Möglichkeitsform aus der Fußballkunst verdrängt. Schade, aber bleiben wir tapfer und glauben weiter an das Schöne im Fußball.
Melancholisch,
Sascha



Erstellt: 3. Januar 2003 – letzte Überarbeitung: 30. Januar 2003
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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