BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von jeder Haltung»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Henriette Orheim & Helmut Hansen
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Einführung

Wer regelmäßig die letzten verbliebenden Feuilletons in den letzten verbliebenen Regionalzeitungen liest, ahnt es. Wer gelegentlich Romane oder Erzählungen ‹angesagter› Autoren und Autorinnen liest, vermutet es. Wer unregelmäßig Inszenierungen ‹angesagter› Theaterregisseure sieht, nähert sich bereits einer bestimmten Überzeugung. Und wer diese Feuilletons – etwa im Hinblick auf Theater-, Film- und Buchkritiken – mit den Inszenierungen und Werken selbst zu verbinden sucht, der weiß es. Weiß was? Daß Theater, Film und Literatur eingeholt, nein überflutet werden von spektaklistischen Arrangements und Mätzchen, die seit dem Siegeszug der ‹schlimmsten Lichtquelle der Welt› ganz offensichtlich nicht mehr ausgelassen werden dürfen. Und wozu führen diese Spielchen, wozu führt dieser getaktete Dauerunernst bei Zuschauern und Lesern? Genauer: Wie verändern spektaklistische Darbietungen Zuschauer, Leser – und Kritiker? Welche konkreten Erwartungen bezüglich des zu Sehenden entstehen mittlerweile bei denen, die etwa noch Theaterinszenierungen besuchen und bei denen, die über ihre Sichtweisen einer Theateraufführung schreiben dürfen? Was erhoffen, ersehnen und erträumen sich die Zuschauer und die kleinen Theaterkritiker in der Provinz – stellvertretend für die Leser und Leserinnen ihrer Zeitung – etwa von einer Inszenierung im Theater? Nun, das ist leicht zu prüfen. Lesen wir zur Vorbereitung mal eine Originalschreibe:

«Wie müssen die Physiker inszeniert werden, um nicht nur zur Illustration der dem Stück zugrunde liegenden Thesen zu verkümmern?»

Lieber Leser, liebe Leserin, dieser in der heutigen Zeit ganz harmlos und absolut selbstverständlich klingende Satz verweist und zeigt auf all das, was wir in diesem Traktätchen skizzieren werden. Wer zu den wenigen Glücklichen gehört, die zu lesen verstehen, braucht nicht mehr weiterzulesen. Den anderen bleibt nichts sonstiges übrig, als unseren Gedanken zu folgen. Fangen wir an:

Wer in einer spektaklistischen Gesellschaft überhaupt noch eine Theateraufführung besucht oder gar Zeit dafür hat, «jetzt abends noch groß ein Buch zu lesen», der will – das macht das obige kleine Zitat so klar – eines auf gar keinen Fall sehen, hören oder lesen: Thesen , also Inhalte, also etwas, was bedenkenswert sein könnte. Warum keine Thesen, warum keine Inhalte? Ach Gott, Thesen verweisen doch nur darauf, daß ein vermutlich romantischer oder moderner oder sonst wie zurückgebliebener Autor bestimmte Grundgedanken hat, die er nun in seinem Theaterstück unbedingt nicht nur ‹illustrieren›, sondern gar zum Leben erwecken will. Der Autor will uns etwas sagen und zeigen. Er will auf irgendetwas hinaus, auf etwas Höheres, ganz ohne Spaß. Und das kann heute nur zutiefst erschreckend wirken, falls man die drohenden Thesen nicht sogleich und unmittelbar weg lachen kann. [1] Nur nebenbei: Postmoderne Theaterautoren haben – dem Gott aller visuellen Medien sei Dank – keine Thesen mehr. Sie wollen auf nichts mehr hinaus. Vor allem nicht auf irgendetwas ‹höheres›.

Dieser Schrecken, der die auf sinnlose, inhaltslose, spektaklistische Flackereien und Dauerwerbesendungen dressierten Zuschauer befallen kann, ist einen zweiten Blick wert. Wie entsteht er? Welche Seherwartungen, die erschreckt und derangiert werden könnten, werden denn seit vielen Jahren – seit Beginn der Postmoderne und des Privat-TVs – aufgebaut und ständig ‹verfeinert›?

Theater- und Buchkritiken in Provinzzeitungen, geschrieben von jungen Leuten und nicht bezahlten Praktikanten, sind – erfreulicherweise – eine unerschöpfliche Quelle. Hier werden die Erwartungen, die heute etwa an eine Theateraufführung oder an ein Buch – stellvertretend für viele andere kulturelle Ereignisse – gestellt werden, offen und ungeniert ausgesprochen. Das ist die neue postmoderne Ehrlichkeit. Hier sind einige dieser Erwartungen, sorgsam gesammelt: [2] Alle folgenden «Zitate» sind dem ‹Kulturteil› verschiedener Ausgaben der ‹Westdeutschen Allgemeinen› entnommen. Was ist hier los? Um was geht es? Auf was wollen die Betrachter einer kulturellen Veranstaltung oder die Leser eines Buches in der Postmoderne – ganz persönlich jetzt – unbedingt verzichten? Was wollen sie auf gar keinen Fall? Daß das kulturelle Angebot eine Haltung vermittelt, daß hinter dem Angebot eine Haltung steht! Das ist es, was niemand «brauchen» kann. Und deswegen müssen wir uns das näher anschauen. Abschied von jeder Haltung? Könnte sein.


Haltung

Bevor wir uns von jeder Haltung verabschieden, sollten wir uns noch einmal daran erinnern, was eine Haltung eigentlich einmal war und welche Bedeutung sie hatte. Schauen wir etwas näher hin: Das Wort ‹Haltung› [3] Einige der folgenden Konnotationen verdanken wir – wie immer – dem DUDEN. bezieht sich in unserem Kontext auf folgende Phänomenbereiche: Haben wir uns darauf verständigt, was wir unter dem Wort Haltung verstehen können? Gut. Wenn wir uns nun auf die Grundpfeiler der Postmoderne besinnen, dann wird uns schnell klar, daß es im finalen spaßkapitalistischen und spektaklistischen Zeitalter völlig lächerlich erscheint, zu irgendetwas eine Haltung zu haben, außer zu sich selbst. Eine inhaltliche Orientierung, eine inhaltliche Grundeinstellung, eine Haltung, ein Innehalten in einem Inhalt also, wirkt heute nur noch lächerlich und dumm. Oder anders: Meinungen sind wohlfeil und beliebig, aber eine Haltung zu irgendetwas zu haben, das ist albern.

Denn der postmoderne solipsistische Mega-Individualist («Wie bin ich drauf?») hat ‹ganz für sich alleine› entschieden, daß Haltungen ihn nicht interessieren, sondern langweilen. So viel ‹Ich› war nie! Eben. Und das ‹Ich› als Benutzeroberfläche sucht halt nicht nach einer Haltung, sondern nach Unterhaltung. Was bleibt also von den oben aufgeführten vier Richtungen einer ‹Haltung› übrig? Die erste, die Körperhaltung; die folgenden drei Interpretationsmöglichkeiten des Wortes ‹Haltung› spielen heute fast keine Rolle mehr.

Und damit sind wir wieder bei den Kulturangeboten und verstehen, warum diese keine Haltung zeigen dürfen und im inhaltlich Unbestimmten, Vagen, Diffusen spielen müssen. Protagonisten der spektaklistischen Postmoderne vermitteln keine Haltung mehr, sind ohne jede Haltung, ja sind sogar stolz darauf, keine Haltung zu haben und zu zeigen.

Die beliebtesten Kulturangebote sind lustige Inhaltscollagen wie Talkshows, in denen alles schön durcheinander gewirbelt wird, damit kein Sinn entsteht. Von allem ein bißchen, nur nichts richtig. Und, jetzt mal ganz ehrlich, lieber Leser, liebe Leserin, am allerschrecklichsten sind Kulturangebote, die mit Belehrungen daherkommen! Belehrungen!? Nein! Danke! Damit will heute keiner was zu tun haben. Das hat heute keiner mehr nötig, da man alles wichtige über das Leben längst weiß.

Belehrungen, Mißstände (die nicht unmittelbar das eigene Portemonnaie betreffen), Inhalte, Höheres, Moralisches, Staubtrockenes, das alles turnt nur ab. Und überhaupt: Was geht einen das an? Heute hat man keine Haltung mehr, oder man hat zu allem jede Haltung, also keine. Und eine einem vorgehaltene Haltung, eine moralische Überlegung etwa, schränkt einen doch nur bei dem ein, was man gerade vorhat, falls man etwas vorhat. Und wenn man etwas vorhat, dann fragt man doch nicht nach außerhalb des eigenen ‹Ichs› gelegenen moralischen Kriterien, was gehen die einen an? Man muß doch ganz egoistisch für sich selbst entscheiden, was für einen richtig ist, oder? Stimmt, das muß man: «Ganz sachlich-kühl, berechnend, an Eigeninteressen orientiert, ohne Gefühlsduselei oder Moral.» [4] Andrea Seibel in einem Kommentar mit dem Titel: «Zumutung Zuwanderung», erschienen am 24. Dezember, dem ‹Heiligen Abend› im Jahre des HErrn 2002, in der Zeitung «Die Welt». Das ist die neue Welt.


Das neue Zeitalter der Haltlosigkeit

Wie schafft es der final-spektaklistische Kapitalismus nur, den Menschen jede Haltung auszutreiben? Nun, das ist nicht so schwer. Haben die Menschen erst einmal gelernt, daß alle Ereignisse personalisiert und emotionalisiert daherkommen, so halten sie sich in Zukunft strikt an den Satz «Du sollst keine Unterscheidungen treffen, die nicht Deine Gefühle betreffen». Und haben die Kulturinsassen es endgültig aufgegeben, sich um solche eigenen inhaltlichen Unterscheidungen zu bemühen, die über das Emotionale hinausgehen, dann ist nicht mehr zu erwarten, daß sie noch irgendwelche weiteren Differenzierungen jenseits von Lust oder Unlust, von langer oder kurzer Weile treffen. Sie sind haltlos, aber aufgeregt. Ohne jede Kontenance.

Denn Emotionen sind total wichtig. Am besten ist es natürlich, man ist immer lustig. Dafür ist das TV ja auch da. Immer schön schmunzeln. Klar, ab und zu darf man auch ein bißchen weinen. Das muß man aber nicht selbst entscheiden. Denn in welchen Situationen Weinen erlaubt ist, zeigt das TV. Und wie genau man dann weinen kann und soll, auch das zeigt das TV.

Gerade in der Postmoderne gibt es aufgrund der Fokussierung auf das Körperliche viele durch Fitness gestählte und gehärtete Körper. Aber auch diese körperorientierten Systemangehörigen ohne körperliche Haltungsschäden haben nicht nur geistige Haltungsfehler oder Haltungsschäden, sondern gar keine Haltung. Das ist angesagt. Denn Menschen ohne Haltung lassen sich leichter verwalten, beherrschen, regieren, unterdrücken, knechten und knebeln. Dafür haben dann haltlose schöne Körper wenigstens guten Sex. Klar.

Albertine Devilder hat im Kapitel «Personen als Texte» ihrer Skizzen zu einer sozial-konstruktivistischen Psychologie beschrieben, daß die Medien heute die Aufgabe haben, Menschen vom Zustand der Selbstreferenz abzuhalten und dennoch drohende Selbstreferenzen so oft wie möglich zu unterbrechen. Wenn dann der Prozeß der Selbstreferenz durch andauernden TV- und Schmierlappenzeitungskonsum eines Tages gar nicht mehr einrasteten, überhaupt nicht mehr starten kann, dann ist die Masse der Kulturinsassen endlich ohne jeden Halt und – wehrlos: «Abschied von der Eigenbewegung».

Keine Haltung mehr zu haben, bedeutet, keinen Halt zu haben, haltlos und labil zu sein: Also ohne inneren, seelischen, moralischen Halt, ohne Rückhalt, ohne eine innere Festigkeit, ohne etwas, woran man sich festhalten, worauf man sich stützen kann. Das alles ist verloren gegangen und eingetauscht worden gegen flüchtige Erregungen und ‹vernünftige› Kaufentscheidungen. Ohne jede Haltung ist alles Höhere da draußen unwichtig, also ist alles möglich, denn zu glauben, daß es Regeln und Gesetze gibt und daß die auf die eigene Person angewandt werden sollten, setzt schon eine Haltung voraus. Vor Gericht ist man immer wieder überrascht, wie nicht nur Jugendliche gar nicht verstehen, daß sie für irgendetwas bestraft werden sollen. Sie sagen dann sogleich, daß das, was sie gemacht haben, von anderen doch auch gemacht werde. In der Anwendung von Recht auf ihren individuellen Fall sehen sie eine große Ungerechtigkeit. Sie sind in ihrer Haltlosigkeit schon beinahe unbelehrbar geworden. Sie sind empört. Und das ist das Stichwort: Ein Ich ohne jede Haltung kann auf die offensichtlich vorhandene reale Welt da draußen nur mit einer falschen Empörung reagieren. Mit Erregung. Ohne jede Kontenance.

Ohne jede Haltung ist alles Höhere da draußen unwichtig, außer der eigenen Person, die ist das Höchste. Wichtig allein ist das ‹Ich›, leider hat man dazu aber auch keine Haltung, denn das würde ja ein Wissen oder zumindest ein Bemühen um ein Wissen um die eigene Person voraussetzen. Das ist ja der große Witz, daß man in unserer Kultur den haltlosen ‹Ichs› gar noch die Fähigkeit zur Selbstreflexivität zubilligt, nur weil sie die unterschiedlichen Preise bei ein und demselben Produkt unterscheiden können. Was hat das mit Reflexivität zu tun?

Ja, das ‹Ich› unserer Kulturinsassen wird unter allen Umständen von den ‹Mächtigen› gepampert, daß es eine Art ist, und was dann bleibt, als Rest, ist die Meinung, daß man selbst irgendwie wichtig sei. Das ist aber eine Meinung, keine Haltung. Das ist ein Jammern im Nirgendwo. Und genau dieses Jammern in der eigenen Wichtigkeit zeigt sich in den unzähligen Kommentaren in den unzähligen Blogs und Medien, in denen ‹Foristen› Inhalts-Müll abladen und die erstbeste Gelegenheit nutzen, einen anderen Foristen zu attackieren und zu beleidigen. Schauderhaft!

Ohne jede Haltung ist man ohne jeden Halt. So schwimmen in der Postmoderne haltlose Egos wie Reflex-Amöben in einer spektaklistischen Nährlösung herum und bewegen sich immer wieder nur in die Richtung der allfällig angesagten Blinklichter. Und wenn sie sich dann diesen Lichtquellen nähern und hingucken, dann fühlen sie das, was man ihnen immer wieder vorgesagt hat. Das ist alles.



Ins Netz gestellt am 11. September 2013
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