BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von der Sprachkritik - Bemerkungen zu einem berühmten ‹Kult-Deutschlehrer›» von Henriette Orheim
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«Man zieht verschiedene sprachliche Register.
Wenn ich mich mit einer Ministerin unterhalte,
versuche ich so korrekt wie möglich zu sprechen.»
Kult-Deutschlehrer

«Man muß trunken oder irre sein,
[…] um es noch zu wagen,
sich der Worte zu bedienen, irgendwelcher Worte.»
Emile Michel Cioran

Die Ouvertüre: März 2006

Kölnarena. Dreizehntausend Leute, darunter viele Schüler und Schülerinnen, harren der Ereignisse. Wird es ein Popkonzert geben? Ein Handballspiel? Eishockey? Nein, gegeben wird – als vorläufiger Höhepunkt einer Popstar-Karriere, die im Jahr 2004 begann – eine ‹Deutschstunde›. Eine ‹Deutschstunde›? Ja. Klar, die Schüler und Schülerinnen sind mit der Aussicht angelockt worden, daß es um einen Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde gehe, an dem sie teilhaben dürften, aber tausende ‹Erwachsene› haben sich Eintrittskarten gekauft, um an dieser Lehrstunde teilzunehmen. Ach ja, das dürfen wir nicht vergessen, der christliche Ministerpräsident einer christlich geführten Landesregierung ist auch da und darf erzählen, wie wichtig die ‹Rechtschreibung› sei.


Das Phänomen: Februar 2008

Ein Blick auf die Homepage des ‹berühmtesten Deutschlehrers›, des ‹erfolgreichsten Oberlehrers›, des bekanntesten ‹Sprachpflegers› und Bestsellerautors zeigt uns, daß das Phänomen in des Sinnes doppelter Bedeutung weiter Bestand hat: Von Januar bis April 2008 tourt das Phänomen ‹Deutschlehrer› mit seinem ‹Happy-Aua-Programm› als Autorität, Experte, Geistesgröße, Kapazität, Kenner, Könner und Meister seines Faches durch die Sporthallen, Theatersäle und Konzerthäuser Deutschlands und der Schweiz und wird dabei über 50 ‹Deutschstunden› als merkwürdige, kuriose und ganz und gar besondere Geschehnisse geben, von Berlin über Wuppertal bis Zürich.

Die Deutschstunde

Wie sieht eine solche Deutschstunde aus? Was geschieht? Nun der Pop-Star des Abends, der ‹Kult-Deutschlehrer›, liest aus seinen gesammelten Glossen und Anmerkungen über Rechtschreibung und Grammatik vor, die bereits über zwei Millionen mal verkauft wurden, und die Teilnehmer an dieser ‹Deutschstunde› dürfen zum Beispiel mit Stimmkarten in der Hand darüber abstimmen, ob man nach, zu, oder bei Aldi gehe. Darüber hinaus geht es um die Rettung des Genitivs, über sinnlose Apostrophe, falsche Pluralbildungen, Amerikanismen, falsche Präpositionen und vieles mehr.


Sprachkritik heute

Der ‹Deutschlehrer› der Nation, der Pop-Star der Rechtschreibung, der Kult-Autor auch dieses Jahres, was tut er, und vor allem, was tut er nicht? Das ist des Pudels Kern. Betrachten wir ihn diesen Kern, versuchen wir ihn zu durchschauen und die Frage zu beantworten, ob das Sprachkritik ist, was er da treibt.

Ein Blick in die Kolumnen des Pop-Stars bei einem deutschen Nachrichtenmagazin oder ein flüchtiges Lesen und Stöbern in einem seiner Bücher zeigt uns ganz unmittelbar, wie kleinteilig er in der unübersichtlichen Fülle seiner Traktätchen vorgeht und argumentiert. Natürlich ist es nett, sich über den Satz ‹Dem seine Probleme möcht ich haben› zu amüsieren oder streng festzulegen, ob es ‹Im Februar dieses Jahres› oder ‹Im Februar diesen Jahres› heißen muß. Nur, wie relevant ist das für das, was mit einer sprachlichen Wendung ausgedrückt, gemeint, gesagt werden soll? Schauen wir uns zur Illustration nur eine einzige der unzähligen Sprachglossen an:


Nun, lieber Leser, liebe Leserin, ist das nicht erstaunlich, daß Millionen Kulturinsassen in unserer Gesellschaft des Spektakels diese Zurechtrückung als eine Art befreiende Klärung empfinden? Daß sie glauben, ihre auseinanderfliegende Welt ließe sich mit Hilfe von Rechtschreibung und Grammatik zusammenhalten? Daß sie die ganz und gar unliterarische Einteilung von sprachlichen Wendungen in richtig und falsch als eine beglückende Eigentlichkeit erleben?

Schauen wir uns die Menschen an, die vom bekanntesten ‹Deutschlehrer› der Nation fasziniert sind: Es sind die Bewohner einer unter einen existentiellen Druck geratenen Mittelschicht, es sind ‹Kleinbürger›. Diese Leute ahnen, daß ihr exzessiver TV- und Trash-Konsum sie verblödet, daß ihr exzessives Tiefpreisstreben sie schon längst selbst gefährdet, daß ihr politische Gleichgültigkeit und ihr Abschied von jeder Haltung ihnen eines Tages in unangenehmer Weise begegnen wird. So haben sie ziemliche Ängste, wie es in ihrem beruflichen und persönlichen Leben weiter gehen könnte. Sie suchen deswegen in ihrer umfassenden Halt- und Verantwortungslosigkeit einen Halt – und wenn es die Rechtschreibung ist. Denn da fühlen sie sich gut, wenn andere sich in der deutschen Sprache verheddern. Kleinbürger erheben sich so gerne.

Die Tücken der Rechtschreibung helfen hier also, Heterostereotype aufzubauen, die das eigene kleine verunsicherte Selbst entlasten sollen. Zusammen mit dem berühmtesten ‹Deutschlehrer› der Nation können sie sich als ‹Bildungsbürger› definieren, die auf Angehörige der Unterschicht, auf Migranten und Asylbewerber hinunter blicken, da diese eben nicht ‹richtig› Deutsch können. Wie schön! Der ‹Deutschlehrer› zaubert in seinen Traktaten also Menschen herbei, die ganz offensichtlich unter denjenigen stehen, die sich über ihre Sprachfehler amüsieren und über sie spotten. Dieses Verhöhnen, Verlachen und Sich-lustig-Machen über diejenigen, die sich am unteren Rand unserer Gesellschaft abmühen, scheint bei den Schülern des bekanntesten ‹Deutschlehrers› eine angenehme, beruhigende, entlastende Funktion zu haben: Da gibt es doch immer noch ein paar Leute, die noch mehr Rechtschreib- und Grammatikfehler machen, als ich. Haha. Das sollten wir fest halten. Genauso wie in der auf einer defizitorientierten Selektion basierenden christlichen Bildungspolitik geht es beim berühmtesten ‹Deutschlehrer› unseres Landes um Stigmatisierung und Ausgrenzung. Diese vermeintlichen Bildungsbürger scheinen doch tatsächlich zu glauben, daß diejenigen Leute, die die Rechtschreibung und Grammatik der deutschen Sprache ‹beherrschen›, in ihrem Leben von einem – natürlich nur ökonomistisch definierten – Erfolg zum anderen eilen, und daß es sich bei diesen Menschen – auch ethisch gesehen – um die ‹besseren› handele. Wer die Rechtschreibung beherrscht, ist also ein guter Mensch? Welch ein grandioses Mißverständnis!

Noch ein Punkt zum Schluß: Was beim ‹Deutschlehrer› der Nation besonders auffällt, ist, daß die möglichst vollständige Beachtung all seiner kleinteiligen richtig/falsch Unterscheidungen nicht zu einem einzigen schönen deutschen Satz führt. Er sagt nicht, wie aufregende und bedeutende Sätze entstehen könnten, er geht über den Sinn, die Inhalte von Sätzen hinweg und klebt immer nur in seiner Rolle als nörgeliger, unliterarischer Bevormunder, aufgekratzter Weltverblüffer [1] Dank an Thomas Bernhard für dieses wunderschöne Wort! Und Dank an Benno, der mich auf dieses Wort aufmerksam machte. oder kleinlicher Beckmesser. [2] Sixtus Beckmesser ist eine Gestalt aus Wagners ‹Die Meistersinger von Nürnberg› (1868). Und sonst nichts.

Lassen wir Johann Wolfgang Goethe das Schlußwort über den ‹Deutschlehrer› sprechen:

«Buchstaben mögen eine schöne Sache sein, und doch sind sie unzulänglich, die Töne auszudrücken; Töne können wir nicht entbehren, und doch sind sie bei weitem nicht hinreichend, den eigentlichen Sinn verlauten zu lassen; am Ende kleben wir am Buchstaben und am Ton und sind nicht besser dran, als wenn wir sie ganz entbehrten; was wir mitteilen, was uns überliefert wird, ist immer nur das Gemeinste, der Mühe gar nicht wert.» [3] In: Wilhelm Meisters Wanderjahre. C. Bertelsmann Ausgabe. Band 5, Seite 29.


Abschied von der Sprachkritik

Kann sich noch jemand von ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, daran erinnern, um was es eigentlich in dem Bemühen ging, das wir einst einmal als Sprachkritik bezeichneten? Was wollte etwa Fritz Mauthner mit seiner um 1900 erschienenen groß angelegten ‹Kritik der Sprache›? Warum hat Fritz Mauthner wenige Jahre später noch ein ‹Wörterbuch der Philosophie› und damit ‹Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache› geschrieben? Ging es ihm um Rechtschreibung und Grammatik? Ach nein.

In der eigentlichen Sprachkritik, die heute vergessen ist, ging es um die Wunder, die Mysterien, die Kühnheit, die Aporien der Sprache, ging es darum, wie vergeblich es sein kann, nicht nur eine Empfindung, sondern auch einen ‹Sachverhalt› ausdrücken zu wollen. Maurice Maeterlinck:

«Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an den bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.» [4] Maurice Maeterlinck. Motto zu Robert Musils ‹Die Verwirrungen des Zöglings Törless› (1906).

In der eigentlichen Sprachkritik, die heute vergessen ist, ging es darum, daß die Sprache ganz grundsätzlich untauglich ist, zu unserem Weltwissen beizutragen, da sie hoffnungslos metaphorisch ist. Maurice Maeterlinck:

«Warum nicht das Wort sprechen, das die Augen öffnet, das erklärende, beruhigende oder befreiende Wort? Weil es nur ein Wort ist.» [5] Maurice Maeterlinck (1935): Vor dem großen Schweigen. S. Fischer Verlag Berlin, Seite 117.

Und Fritz Mauthner:

«Es ist unmöglich, den Begriffsinhalt der Worte auf die Dauer festzuhalten: darum ist Welterkenntnis durch Sprache unmöglich. Es ist möglich, den Stimmungsgehalt der Worte festzuhalten; darum ist eine Kunst durch Sprache möglich, eine Wortkunst, die Poesie.» [6] Fritz Mauthner (1906): «Beiträge zu einer Kritik der Sprache». Erster Band. Zur Sprache und zur Psychologie. 2. Auflage. Stuttgart und Berlin: J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger. Seite 97

In der eigentlichen Sprachkritik, die heute vergessen ist, ging es um die anmutige oder nicht anmutige Konstruktion von Gedanken, die in einem Text enthalten sein können oder nicht, ging es um den Sinn und die Bedeutung, ja, um die Ethik von Sätzen und Texten. Es ging darum, was Sätze anrichten können, unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch geschrieben wurden. Es ging darum, welcher Sachverhalt mit welchen sinnfreien Floskeln beschönigt, getarnt, übertüncht, vernebelt oder vertuscht wird. Es ging darum, was Sätze verschweigen, indem man gerade sie ausspricht. Und es ging darum, was in der Textur eines Textes verborgen liegt und vielleicht für immer verborgen bleibt.

In der eigentlichen Sprachkritik, die heute vergessen ist, beinhaltet Kritik also auch immer eine Kritik an denjenigen, die das Sagen haben, die öffentlich sprechen dürfen, die eine Definitionsmacht haben. Eine eigentliche Sprachkritik ist ohne eine Kritik an den ‹Herren des Wörterbuchs› nicht denkbar.

Finden wir all das beim berühmtesten ‹Deutschlehrer› der Nation, der beinahe Tag für Tag in überfüllten Sälen über die deutsche Sprache spricht? Nein. Spüren Sie, liebe Leserin und lieber Leser, was wir verloren, was wir aufgegeben haben? Spüren Sie, wie schmerzlich der Abschied von der Sprachkritik ist?

Schließen möchte ich mit einem weiteren Zitat von Maurice Maeterlinck, der – wie Fritz Mauthner und Karl Kraus – die tief in der Sprache ruhenden Aporien sah und dennoch versuchte, eben diese auszusprechen. Könnten wir mit der Ankündigung der folgenden beiden Sätze heute eine ‹Kölnarena› füllen?

«Man muß nicht glauben, daß die Sprache jemals der wirklichen Mitteilung zwischen den Wesen diene. Die Worte können die Seele nur in der gleichen Weise vertreten, wie z.B. eine Ziffer im Kataloge ein Bild bezeichnet; sobald wir uns aber wirklich etwas zu sagen haben, sind wir gezwungen zu schweigen.» [7] Zitiert nach: Fritz Mauthner (1906): «Beiträge zu einer Kritik der Sprache». A.a.O. Seite 118.



Kommentare:


Hallo,

ich melde mich mal mit einem kleinen Kommentar zu Wort, da der Artikel von Henriette Orheim bei mir mehr als offene Türen eingerannt hat.

Sie spricht vom Deutschlehrer der Nation und wie er mit kleinen richtig-falsch Spielen der Masse das Gefühl vermittelt über anderen stehen zu können, die "dümmer" sind und ich kann ihr nur zustimmen. Was ich allerdings aus meinem Hintergrund als Sprachvermittler und damit auch sprachwissenschaftlich gebildeter Mensch hinzufügen möchte ist, daß besagter Deutschlehrer in den meisten seiner Aussagen faktisch sogar die Position der "falschen" Sprache einnimmt. Denn entgegen der landläufigen Annahme, richtig ist, was mit dem Duden übereinstimmt, verhält es sich genau umgedreht. Der Duden beschreibt, was wir für richtig halten. Er hat übrigens den sogenannten "possesiven Dativ" seit der letzten Ausgabe integriert, weil die Dudenredaktion dazu übergegangen ist Sprache zu beschreiben, anstatt vorzuschreiben. Richtig oder falsch liegen also bei den Sprachbenutzern, also bei uns. Eine Freiheit, die total ungewohnt ist und die ja auch ungewollt ist von vielen selbsternannten Eliten der Gesellschaft. Sprachradikalität wie die des beliebtesten Deutschlehrers, ist weder wissenschaftlich korrekt noch dem "Erhalt" der deutschen Sprache dienlich. Denn Sprache ist Veränderung, willkürliche durch Menschen verursachte Veränderung. Da wir festlegen, was wir wie benennen und wie wir was ausdrücken, liegt die Entscheidung über richtige oder falsche Sprache allein beim Sprachverwender. Wie schrecklich für so manche Deutschlehrer...

Wie sagt es Oscar Wilde: «There's no sin except stupidity.»

Liebe Grüße von Tom


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Liebe Henriette! Es ist ein guter Text geworden, sehr gut! Ich mußte ein paar Mal laut auflachen. Es ist dies alles so – bizarr, grotesk! Es ist dies alles so gemein (im Sinne des ‹Gemeinsten› im Goethe-Zitat), so vulgär. So abgeschmackt und triumphal.

Schön – wenn auch zutiefst bitter, aber trotzdem schön, wie Du es machst –, wie Du darlegst, auf welch unterirdischem Niveau sich diese Arschgeige mit was für einer Klientel gemein (sic!) macht. Wie heißt es doch: ‹Der werfe den ersten Stein.› Da haben die vielfach versammelten Schüler samt ihrem orthographischen Vorturner aber so gar keine Hemmungen! Da wird geschmissen, was das Zeug hält. Geht es doch darum, möglichst rasch eine neue Ordnung zu installieren, da kommt der Idiotendeutschheini gerade recht, eine neue Ordnung der gegenseitigen Versicherung der menschlichen Extraklasse. Und zu diesem Zwecke müssen naturgemäß irgendwelche Wehrlosen her. Die sind nötig für den Korpsgeist. Und gefunden sind sie ja nun auch längst.

Kann man alles hübsch bei Dir nachlesen, Henriette. Plus all' die wunderbaren Zitate derer, die es tatsächlich ernst meinten mit der Sprache, anstatt sich in stumpfer Nichtoriginalität – und damit einhergehendem, schlecht verbrämtem Opportunismus – an die Ressentiments der ideologischen Klein- und Kleinstbürger zu heften und sich dort verabscheuungswürdige Meriten zu ergaunern. Pfui Spinne etc.

Aber ich will ja jetzt nicht nacherzählen, was bei Dir alles nachzulesen ist. Ich habe bloß gemerkt, wie sehr mich dieser Hans Dampf in allen Wortgassen anwidert mit seiner unseligen, destruktiven Pedanterie! Dieser Oberarsch!

Und jetzt grüße ich Dich aber recht lieb und danke Dir herzlich für Deine Arbeit am Gemeinwohl,

Dein alter Mitleider B.



Erstellt: 8. Februar 2008 – letzte Überarbeitung: 20. Februar 2008
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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