BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von der Aufklärung (3): Psychotherapie. Das Ende der Krise und die „schwarze Kunst der Tautologie“»
von Werner Murke
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«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. [...] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. [1] Immanuel Kant (1784) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494.


Ouvertüre

Henriette Orheim hat in Ihrem Essay „Es geht nach rechts“ gezeigt, welche Themen im Zuge einer nur noch pro forma aufgeklärten Gesellschaft Konjunktur haben: die Konzentration auf das vermeintlich Eigene (zuerst und vor allem ich und meine Heimat) und die weitgehende Ablehnung des andersartigen (Multikulti, Europa, Frauenrechte, Homosexuelle). Diese unglückliche Kombination aus Fremdenhass und Eigenstolz droht auch in Europa wieder zu Kriegen zu führen.

Diesen Gedanken führen dann Albertine Devilder und Helmut Hansen in ihrem Beitrag „Krieg“ weiter aus. Sie verweisen auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen der genannten Themen: Es sind Naiver Realismus und Zweiwertige Logik. Diese unglückliche Kombination aus Rechthaberei und Entweder-oder-Denken lässt Gewalt als Mittel der Durchsetzung des eigenen Standpunkts nur folgerichtig erscheinen. So ergibt sich aus der Unaufgeklärtheit in Erkenntnistheorie auch ein Kurzschluss in Fragen der Moral. Die jeweils eigene Wahrheit wird für universell gehalten – und wer an ihr zweifelt, braucht nicht länger geschont zu werden. Die Autoren zeigen auf: Epistemologie und Ethik sind eins.


Abschied von der Aufklärung: Psychotherapie

Die moderne Psychologie hat ihre Vorstellungen
vom Leben und Wachstum aus dem Blick verloren
und ist ausschließlich mit Psychopathologie
und konditionierten Reaktionen beschäftigt. [2] Sheldon Kopp (1971) Guru. Metaphors from a Psychotherapist. Palo Alto, Ca: Science and Behavior Books.

Krisen sind Grenzsituationen. Man weiß nicht weiter und tritt auf der Stelle. Das Territorium, auf das man geraten ist, ist unbekannt. Schwere Krisen führen heutzutage häufig in die Praxis des Psychotherapeuten. Sie können der Punkt sein, an dem neue Wege beginnen. Krisen stehen dann am Anfang eines Übergangs.

Im folgenden werden wir zeigen, wie weit fortgeschritten der Abschied von der Aufklärung schon ist. Psychotherapeutische Gespräche können eine Anregung zur Nutzung des eigenen Verstandes sein, sie geben Raum zur Reflexion. Mit dem Abschied von der Aufklärung muss dieser Raum verschwinden. Und das geht so:

Die Kassenärztliche Vereinigung einer großen deutschen Stadt lädt zum Informationstag. Die verschiedenen Arztgruppen stellen sich vor und zeigen, was sie können. Blutdruckmessen z.B, Hautkrebsscreening gratis, was in aller Schnelle eben so möglich ist. Auch die Psychotherapeuten haben einen Stand aufgebaut. Neben Informationsmaterialien geben sie Kostproben ihrer Arbeit. Stündlich gibt es Entspannungsgruppen und die Gelegenheit zu "psychologischer Kurzberatung", 10 Minuten mit einem Psychotherapeuten, ganz für sich allein.

Die durchführende Kollegin ist schon älter und erfahren. Ihre Fragen sind routiniert, ihr Kopfnicken, das zum Sprechen einlädt, erfolgt habituell. Und es funktioniert. Die Menschen, die zu ihr kommen, fangen an zu sprechen. Über sich und das, was sie bedrückt. Und der Kopf der Therapeutin bewegt sich dazu, als würde er im Rhythmus einer schon oft gehörten Melodie mitwippen.

Frau K. zum Beispiel ist 43 Jahre alt und hat offensichtlich längere Zeit nicht mehr in Ruhe in einen Spiegel geschaut. Es ist nicht so, dass sie nicht ordentlich ausschaut. Es ist mehr das Funktionale an ihrer Kleidung, in ihrem Auftreten. Zu funktional. Zu grau. Grau fühle sie sich auch, sagt sie. Sie hat einen Sohn, der viel Arbeit macht, und einen Mann, der viel auf Arbeit ist. Ihrem Leben fehlt es an Abwechslung, an Freude, an Farbe. Niedergeschlagen sei sie häufig in letzter Zeit und sie wisse auch nicht, wie sie daran etwas ändern könne, sie schlafe schlecht und habe keine Lust auf die Hausarbeit. An dieser Stelle schluckt sie und verstummt. Der Kopf der Therapeutin hat aufgehört zu wippen. In der Stille klingt Frau K.'s Geschichte nach. Im Hin und Her der Konversation ist es jetzt an der Therapeutin fortzufahren. Und als sie dann spricht, sagt sie: "Das, was Sie da erzählen, klingt mir aber nach einer richtigen, klinischen Depression."

Frau K. beginnt zu weinen. Ja, so etwas habe sie sich schon gedacht. Gebe es denn Hilfe? Die Therapeutin lächelt. Natürlich gebe es Hilfe, gut erprobte, wissenschaftlich gesicherte Methoden der Verhaltenstherapie zum Beispiel. Und ergänzend dazu Medikamente. Die zehn Minuten sind vorbei. Ob sie schon über professionelle Hilfe nachgedacht habe? Frau K. lässt sich noch eine Liste mit Telefonnummern geben. Als sie sich verabschiedet, lächelt auch sie. Sie bedankt sich. Endlich einmal habe sie jemand richtig verstanden.


"Wir haben die Lösungen" hat Jürgen Margraf, einer von Deutschlands maßgeblichen Psychologen, der Psychologie Heute im Interview erzählt. [3] Jürgen Margraf (2013) „Psychologie ist ein sehr erfolgreiches Fach.“ Ein Interview von Martin Tschechne mit Jürgen Margraf. In: Psychologie Heute, 39, 74–81. Psychologie Heute ist Deutschlands bekanntestes psychologisches Magazin. Wer Ideen verbreiten will, tut das an dieser Stelle mit der größtmöglichen Reichweite. Margraf streut dieselbe Idee, die auch die Psychotherapeutin am Informationsstand mit viel Erfahrung unter die Leute bringt. Die Botschaft ist hoffnungsvoll. Es gibt Hilfe für die Sorgenvollen und Beladenen! Die Nachricht ist so gut, dass dabei möglicherweise untergeht, dass diese Botschaft eine doppelte ist. "Wir haben die Lösungen – für genau die Probleme, die wir gelten lassen."


Innerhalb von zehn Minuten tauscht Frau K. alle ihre alten Probleme gegen ein einzelnes neues

Frau K. klagt beim Informationstag der Kassenärztlichen Vereinigung über ihr Leben, über ihre Beziehungen und ihre Gefühle. Die Therapeutin hätte mit ihr darüber reden können, auch in zehn Minuten, was das für sie bedeutet, was sie daran ändern möchte, wie ihr Leben stattdessen sein sollte. Was könnte sie selbst daran tun, welche Veränderungen müsste sie sehen, um sich besser zu fühlen? Mehr Zeit für sich selbst? Ein Gespräch mit ihrem Mann über die Zukunft der Ehe? Was hätte sie rückblickend in den letzten Jahren anders machen wollen? Einen eigenen Beruf ergreifen? Einen größeren Freundeskreis aufbauen? Mit dem Abschied von der Aufklärung interessiert die Therapeutin nichts davon. Ihr therapeutisches Handwerk dient allein der Neuschreibung der Geschichte der Klientin. Frau K. geht in die Kurzberatung mit einem faulen Sohn, einem abwesenden Mann und der Trauer über ihr Leben. In zehn Minuten tauscht sie alle diese Probleme gegen ein einzelnes, völlig andersartiges: Depression. Sie ist jetzt psychisch krank.

Das ist kein Einzelfall. Wie dieses Erklärungsmuster systematisch auf weite Bevölkerungsteile angewendet wird, zeigt die folgende Fallschilderung, entnommen aus einem Modellprojekt, in dem eine möglichst große Zahl von Patienten mit einer „Angststörung“ in Arztpraxen eine Therapie ihrer Probleme lege artis erhalten sollen:

„Frau M. hat drei Kinder im Alter von drei, vier und sieben Jahren und arbeitet als Verkäuferin in einem großen Einkaufsmarkt. Vor einiger Zeit habe sich ihr Mann von ihr getrennt und sei aus beruflichen Gründen ausgewandert. Auf Nachfrage berichtet Frau M., dass die Symptome vor sechs Monaten begonnen hätten. ‚Wie aus dem nichts heraus‘ seien während der Arbeit plötzlich Herzrasen und Schweißausbrüche aufgetreten. [...] Der Hausarzt vermutet, dass den anfallsartigen körperlichen Symptomen bei Frau M. eine psychische Störung zugrunde liegt. Er erklärt der Patientin, dass alle körperlichen Befunde unauffällig waren und dass die Beschwerden möglicherweise durch eine Angsterkrankung verursacht werden. Mit Hilfe der ICD-10-Checklisten diagnostiziert er eine Panikstörung. [...] Von einer Angsterkrankung (ICD-10: F40-F43) geht man aus, wenn es bei einem Patienten zu unangemessen starken Angstreaktionen auf objektiv ungefährliche Reize kommt.“ [4] Thiel, P., Hiller, T.S., Storch, M., Schneider, N., Petersen, J.J., Gensichen, J. (2012). Gemeinsam durch die Angst. Ein Übungsprogramm in Hausarztpraxen. In: Der Hausarzt, 49 (16), 52–55.

Die Lebensgeschichte der Frau M. wird zwar berichtet, ist aber nur Beiwerk. Dass ihr Mann sie für die Arbeit verlassen hat? Unwesentlich. Dass sie für drei kleine Kinder nun allein sorgen muss? Ein Nebenschauplatz. Aus Sicht der Jenaer Ärzte ist Frau M.’s Angst unangemessen, ein Zeichen für eine Fehlfunktion. Auch Frau M. gilt nach ihrem Arztbesuch als psychisch krank. Die anschließende Therapie wird sich nicht mit ihrem Leben beschäftigen, sondern mit Reizkonfrontation.

Für soziale Helfer waren Krisen einmal Anlass zur Beschäftigung mit dem Leiden des anderen, Anstoß zur Auseinandersetzung mit seinem Leben und dessen Verbesserung. Der Psychotherapeut Sheldon Kopp schreibt 1971: „Psychotherapie ist schlicht der Name für eine Tätigkeit, die ausgeführt wird, seit irgendjemand entdeckt hat, dass ein Mensch sich so sehr um das Leid eines anderen Menschen sorgen kann, dass er dazu bereit ist, sich dem Schmerz dieses anderen zu öffnen und ihm dadurch Hilfe und Trost zu spenden.“ [5] Sheldon Kopp (1971) ebd., S. 13


Der psychopathologische Diskurs überlagert das psychotherapeutische Gespräch

Der Abschied von der Aufklärung hat sich der Krise bemächtigt. Die Beschäftigung mit Menschen und dem Sinn ihres Lebens und Leidens wird durch morbiditätsgeleitete Diagnostik und Indikation ersetzt. Das führt zu einem veränderten Umgang mit diesen Menschen. Der Psychotherapeut und Autor Gary Greenberg nimmt an einer Studie des Mass General Hospitals in Boston teil. Die betreuende Forschungsassistentin, die ihn während der ganzen Monate der Studie Greg nennt, liest von einem Fragebogen ab:

„In den letzten zwei Wochen, Greg, haben Sie sich da besonders selbstkritisch gefühlt?“ – „Hmm, ja, vielleicht, ja, ich glaube schon.“ Er empfindet die Besprechung seiner Situation mittels Ja/Nein-Antworten und Einschätzungsskalen als „unfassbar eingeschränkt“: „Ich kam mir vor wie ein Narr und zwar wie ein ganz besonders narzisstischer, weil ich geglaubt hatte, dass ich als Person wichtig wäre.“ In einem späteren Forschungsinterview mit den immer gleichen Fragebögen fragt Greenberg zurück: „‚Ist Selbstkritik wirklich pathologisch?‘ ‚Pathologisch? Ich weiß nicht, ob ich es pathologisch nennen würde.‘ ‚Vielleicht symptomatisch?‘ bot ich an. ‚Nun, es ist sicher nicht optimal.‘ ‚Aber selbstkritisch zu sein, hilft Leuten doch, etwas zu erreichen, oder?‘ ‚Manchmal ja, manchmal nein. Ich glaube nicht, dass exzessive Selbstkritik jemals eine tolle Sache ist. Nein.‘ Sie fing an, in den Fragebögen zu blättern, bemüht, das Interview fortzusetzen.“ [6] Gary Greenberg (2010) Manufacturing Depression. London: Bloomsbury.

Alle geschilderten Fälle haben folgendes gemeinsam:
  1. Es geht fast ausschließlich um die Feststellung von Symptomen und die Stellung einer Diagnose.
  2. Die Lebensumstände der Klienten werden ausgeblendet.
  3. Die persönliche Bedeutung des Leidens für die Klienten wird nicht erfragt.
  4. Veränderungswünsche werden nicht erhoben, weil sich Ziele anscheinend automatisch aus der Symptomatik ergeben.
  5. Ziel ist also ein „mehr desselben“, nur ohne Symptome.
Das Leben, an dem diese drei Menschen möglicherweise leiden, wie es für sie ist und wie es möglicherweise sein sollte, rückt aus dem Fokus. Zentral wird, „was sie haben“. Sie haben Depressionen, Angststörungen, psychische Krankheiten. Mit keinem Wort wird gefragt, was sie wollen. Das führt - zumindest für aufgeklärte Leser - zu geradezu absurd erscheinenden Psychotherapie-Konzeptionen, wie denen in dem von Peter Fiedler 2012 herausgegebenen Sammelband „Die Zukunft der Psychotherapie“. [7] Peter Fiedler (2012) Die Zukunft der Psychotherapie. Wann ist endlich Schluss mit der Konkurrenz? Heidelberg: Springer. Fiedler stellt für die Autoren fest, diese interessierten sich „zuvorderst für die Ursachen und Hintergründe psychischer Störungen bzw. Störungsgruppen (Syndrome) und erst nachgeordnet für die Fortentwicklung therapeutischer Verfahren“. Die Zukunft der Psychotherapie ist demnach die Psychopathologie. Feststellung von Diagnosen hat Priorität. Fortentwicklung von hilfreichen Interventionen ist dagegen anscheinend eine Banalität.

Das hat weitere Konsequenzen für den Umgang mit Menschen in Psychotherapie. Um das „zuvorderst Interessante“ richtig zu erfassen und die Interaktion zwischen Therapeut und Klient schon zu Beginn zu minimieren, soll Diagnostik am besten mittels standardisierter Fragebögen durchgeführt werden. Die Mittel zur Behebung des Diagnostizierten, so scheint man zu denken, finden sich dann automatisch. In der Praxis eines Psychiaters werden die Patienten Medikamente gegen ihr Unglück bekommen. [8] Wir erinnern uns an das perfekte Psychopharmakon Soma: „One cubic centimetre cures ten gloomy sentiments.“ aus: Aldous Huxley (1967) Brave New World. New York: Bantam Books, S. 30 Nach dem Willen der Krankenkassen sollen „psychisch Kranke“ statt Einzelgespräche zu führen in Zukunft in psychotherapeutischen Gruppen erklärt bekommen, was sie gegen ihre Symptome unternehmen müssen. Das spare Zeit und Geld. Ein Abweichen von den in den Richtlinien für bestimmte Störungen vorgesehenen Manualen soll als „Kunstfehler“ gelten. Psychotherapeuten, die dennoch individualisiert vorgehen, sollen ihre Zulassung verlieren. Die Zeiten, in denen selbst noch eine so problemorientierte Psychotherapieform wie die Verhaltenstherapie mit den Klienten zunächst eine Ziel-Wert-Klärung durchführte, scheinen vorbei zu sein. Stattdessen ist das Ziel jetzt vorgegeben. Es geht um Symptomvernichtung. Der psychopathologische Diskurs überlagert den psychotherapeutischen.

Diese konzeptuelle Verschiebung ist alles andere als unpolitisch. Das erkennt noch 1969 ein Kommentator in der New York Times: „Die Behauptung [der Psychologen], moralisch und politisch neutral zu sein, ist letzten Endes ein Mittel, die Aufmerksamkeit von drängenden sozialen Übeln abzulenken und wird faktisch dazu gebraucht – oder würde dazu gebraucht, wenn es denn funktionierte – die Gesellschaft umzugestalten, zur Manipulation von Menschen entsprechend der politisch-ökonomischen Ziele der Mächtigen.“ [9] Paul Goodman (1969) Can Technology be Humane? New York Times Review of Books, 20.11.1969, S. 27-34.

Die psychotherapeutische Praxis ist nicht länger ein Möglichkeitsraum. Das psychotherapeutische Gespräch soll nicht länger zur Reflexion dienen, die Aufmerksamkeit auf schädliche Umstände lenken oder zum aktiven Entwurf des eigenen Lebens anleiten. [10] vgl. a. Jürgen Kriz (2013) Wirkfaktoren in der Psychotherapie – braucht man die? In: „Was bleiben will muss sich ändern“ - 50 Jahre Bundesverband Katholischer Ehe-, Familien- und Lebensberaterinnen und Berater E.V.: Schweinfurt. Nach dem Abschied von der Aufklärung spricht der Therapeut eine explizite Einladung aus, sich seines Verstandes nicht mehr zu bedienen. Wir haben die Lösungen. Wir stellen die Diagnosen und sagen dir dann, was zu tun ist. Der psychotherapeutische Raum wird zum Königsweg ins Unbewusstsein.


"Die schwarze Kunst der Tautologie"

Der Abschied von der Aufklärung wurde so weitgehend vollzogen, dass inzwischen viele Klienten in die psychotherapeutische Praxis kommen, ohne auch nur zu erwarten, dass es in der Therapie um sie selbst gehen könnte. Sie kommen, um „ein Programm“ zu durchlaufen, sie wollen „eine Schematherapie machen lassen“, sie wollen „psychologische Tricks“, um mit ihrem selbst diagnostizierten ADHS, das besonders schlimm bei Aufgaben sei, die sie ungern machen, besser umzugehen - damit sie sie fortan gerne tun. Das sog. „medizinische Modell“ der Psyche ist inzwischen auch in der Bevölkerung so gut bekannt, dass es nicht nur unmittelbar einleuchtend erscheint, sondern auch selbstgewählte Alternativen wenig attraktiv erscheinen lässt, wie der folgende Fallbericht zeigt:

Frau L. ist eine Frau in den Fünfzigern. Sie kommt in die Psychotherapie, um ein schon lange ungelöstes Problem zu bearbeiten. Sie lebt in einer Beziehung zu einem Mann, den sie nicht liebt. Dieser sei kalt, wenig romantisch, eigenbrötlerisch und rede zuviel. Sie fühle sich nicht gesehen. Ihr Leben mache ihr keine Freude, sie schlafe schlecht. Sie komme in letzter Zeit schon häufig lustlos zu ihrer Arbeit in einem großen Unternehmen. In dem nun folgenden ersten Schritt greift der psychopathologische Diskurs noch nicht. Therapeut und Klient sprechen Frau L.’s Möglichkeiten durch. Wie würde ihr Leben aussehen, wenn sie sich trennt? Wie, wenn sie alles so lässt? Was, wenn sie in der Beziehung bleibt, aber versucht noch etwas daran zu verändern? Der Therapieraum wird zum Möglichkeitsraum.

Nach vier Wochen kommt Frau L. zu einer zweiten Sitzung. Sie ist wie ausgewechselt. Nach dem Gespräch sei ihr ganz klar geworden, was sie zu tun habe. Sie habe ihrem Mann gesagt, dass sie sich trennen wolle. Seither fühle sie sich großartig. Sie habe sich zu einem Sprachkurs angemeldet, sei voller Energie. Die Arbeit mache wieder Freude. Sie habe Kontakt zu alten Bekannten aufgenommen.

Jedoch, weitere vier Wochen später ist wieder alles beim alten. Frau L. ist zu ihrem Mann zurückgekehrt. Die Bekannten von früher hätten nicht die Zeit für sie gehabt, die sie brauche, sie habe sich einsam gefühlt, ihr Mann habe sie immer wieder angerufen und bekniet, zu ihm zurückzukommen. Schließlich habe sie nachgegeben. Jetzt fühle sie sich wieder lustlos und niedergeschlagen. Mit dem Therapeuten will sie jetzt darüber sprechen, ob ihre Entscheidung richtig gewesen sei. Sie einigen sich darauf, auf das zu achten, was sie braucht, um in der Beziehung zu bleiben und gleichzeitig auf das, was sie braucht, um ihr Leben allein zu führen. Der Therapeut bietet ihr an, sie weiter bei ihrem Entscheidungsprozess zu begleiten. Doch dazu kommt es nicht.

Eine Woche später ruft Frau L. den Therapeuten an. Sie klingt verärgert. Sie habe inzwischen mit der Sozialarbeiterin ihrer Firma gesprochen, die Beratungsgespräche für die Mitarbeiter anbiete. Diese habe gleich erkannt, was wirklich mit ihr los sei. Sie habe eine Depression. Diese sei die Ursache für ihre schlechte Stimmung und auch der Grund, warum sie sich nicht entscheiden könne. Alles, was sie von dem Therapeuten noch wolle, sei eine Bescheinigung, dass dessen Art der Therapie für sie sinnlos sei. Zusammen mit der Sozialarbeiterin werde sie dann eine psychosomatische Kur zur Behandlung ihrer Depression beantragen. Was sie bezüglich ihrer Beziehung unternehme, werde sie erst entscheiden können, wenn die Depression behoben sei.


In dieser gescheiterten Anleitung zur Nutzung des eigenen Verstandes, zum Leben des eigenen Lebens, sind Fehler erkennbar. Vielleicht hätte der Therapeut der Klientin häufigere Kontakte anbieten müssen, um sie in dieser schwierigen Entscheidungsphase enger zu begleiten. Er hätte sie vor schnellen Veränderungen warnen können und die zu erwartende Einsamkeit vorwegnehmen sollen, damit Frau L. sich erst einmal mit den schweren Seiten ihres neuen Lebens beschäftigt. Und noch viele weitere Punkte könnten angeführt werden. Doch arbeitet der Therapeut auch gegen ein inzwischen weit verbreitetes Erklärungsmuster an. Nicht weil sie sich nicht entscheidet, ist Frau L. depressiv. Auch nicht, weil sie an ihren Bedürfnissen vorbei lebt. Sie ist depressiv, weil sie - auf ungeklärte Weise - depressiv geworden ist. Aufgrund der Depression kann sie sich nicht entscheiden.

„Wir haben die Lösungen“: Du musst psychisch krank sein, weil es dir in deinem Leben an etwas mangelt. Warum mangelt es dir daran? Weil du psychisch krank bist. Diesen engen Zirkelschluss der nicht länger aufgeklärten Psychotherapie nennt die Soziologin Eva Illouz „die schwarze Kunst der Tautologie“. [11] Illouz meint damit vor allem auch die retrospektiv angelegten Erklärungsmodelle der Psychotherapie, veranschaulicht in dem folgenden inneren Dialog: „In meinem Leben sollte es Intimität geben; ich erfahre aber keine Intimität; dies liegt daran, dass ich nur mit kühl-distanzierten Männern zu tun habe; die Männer, mit denen ich zu tun habe, sind kühl-distanziert, weil ich sie mir so aussuche; ich suche mir kühl-distanzierte Männer aus, weil meine Mutter sich nie um meine Bedürfnisse gekümmert hat. Woher weiß ich, dass meine Bedürfnisse damals nicht befriedigt wurden? Weil sie heute unbefriedigt sind.“ Aus: Eva Illouz (2011) Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt a/M.: Suhrkamp. Was du jetzt brauchst ist Psychotherapie.


Fazit

Nach Foucault ist es so: Soziale Kontrolle funktioniert dann am besten, wenn die Kontrollierten sie selber ausüben. Ihre Krisen weisen nicht länger auf Lebensprobleme hin. Krisen stehen außerhalb ihres Lebens, sind Pathologien des Lebensvollzugs, haben „nichts mit mir zu tun“, müssen wegtherapiert werden. Eine Gelegenheit mehr, vertrautes Terrain nicht zu verlassen. Ein Anlass weniger, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.


„Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.“ [12] Immanuel Kant, a.a.O.



Ins Netz gestellt am 8. Dezember 2014
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