BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Remix 2002: Forced Choice Das Geheimnis des Großen Bruders»
von Bethchen B.
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Wahlen ändern nichts,
sonst wären sie verboten.
(Plakat, Jugendzimmer, um 1980)

Eigentlich wollte ich nur noch einmal über diesen Text schauen, um ihn dann aufgrund seines unmittelbaren Bezugs zu einem erloschenen Medienereignis aus dem Skepsis-Reservat zu entfernen. Da ich dabei aber festgestellt habe, daß zwischen den zeitgemäßen Beobachtungen durchaus ein paar unzeitgemäße Betrachtungen von allgemeinerem Wert stecken, beschloß ich, das Gewand des Texts nur ein wenig aufzuarbeiten.


Televisonäre Blähungen

Vorab ein kurzer Rückblick auf die Spielregeln: Fünf junge Männer und fünf junge Frauen ließen sich für bis zu 100 Tage in einem Wohncontainer einschließen. 24 Stunden am Tag nahmen Kameras und Mikrofone die visuellen und akustischen Blähungen dieses sozialen Morasts auf. Ausgewählte kommunikative Banalitäten und Fummeleien unter der Bettdecke wurden den Zuschauern in einer täglichen Zusammenfassung von umgerechnet 24 Minuten redaktionell aufbereitet. Die zentrale Spielregel war, daß in regelmäßigen Abschnitten ein Bewohner das Haus verlassen muß. Alle 14 Tage gab jeder Bewohner zwei Vorschläge ab, wer aus dem Intimcontainer hinausgeworfen werden sollte. Zwischen den zwei am häufigsten genannten Vorschlägen wählten dann die Zuschauer an den Bildschirmen per Telefonabstimmung den Kandidaten oder die Kandidatin aus, die den Container verlassen mußte. Ziel der Teilnehmer war es, sich bis ans Ende der Tage einschließen und zur Schau stellen zu lassen, um so schließlich eine Prämie von 250.000 DM zu gewinnen. Das war es schon.

Ein neues Sendeformat hielt Einzug in die deutsche Fernsehlandschaft. Mit der Überwachungsschau «Big Brother» wurde offenbar ein verbotenes Territorium betreten. Daß diese Sendung ein Tabu berührt haben muß, war mehr als eindeutig an den Reaktionen der scheinheiligen Moralapostel aus Politik und Kultur abzulesen. Die aufgeblähten Worthülsen kreisten um das Eindringen des Fernsehens in die Privatsphäre von Menschen und die Herabwürdigung von Personen zu bloßen Objekten der Betrachtung. Die von den Medienmachern strategisch geschickt in Szene gesetzte Hysterie stand zu diesen eher belanglosen Themen eindeutig nicht im Verhältnis. Denn das Privatfernsehen speist sich ja nun mal per Definition aus der öffentlichen Zurschaustellung und Verhandlung von Themen, die ehedem der Privatsphäre der Menschen zugerechnet wurden. Peep-Shows für die voyeuristische Masse waren spätestens seit dem Erscheinen von RTL und seinem Tutti Frutti aus sekundären Geschlechtsmerkmalen billigste Quotengaranten. Das Ende des Privaten war auch damals schon lange eingeläutet, wenn nicht längst eingetreten. Worum ging es also damals?


1984, in Gegenrichtung

Um die Frage zu beantworten, welches Tabu die Fernsehsendung Big Brother berührt hat, bedarf es eines kurzen – zugegebenermaßen etwas paranoiden – Exkurses in die Medientheorie.

Ein schlauer Mensch hat einmal die Frage gestellt, was George Orwell wohl denken würde, wenn er noch miterlebt hätte, daß die Mechanismen, mit denen die finalkapitalistischen Staaten des Westens ihre Massen kontrollieren, der Funktionsweise seines fiktionalen Big Brother diametral entgegengesetzt sind.

Was bedeutet diese Frage? In «1984» werden das Verhalten und die Äußerungen der Kontrollierten fortlaufend durch Kameras überwacht. Die Unterdrückten werden kontrolliert, indem sie ständig beobachtet werden. Die Monitore dienen hier zur Übermittlung von Informationen an die Schergen der herrschenden Klasse und die Überwacher blicken auf eben jene Bildschirme. In unserer wirklichen Wirklichkeit sind die Verhältnisse genau umgekehrt: Die Masse wird nicht kontrolliert, indem ihre Bewegungen und Verhaltensweisen beobachtet und eingeschränkt werden. Der Informationsfluß ist vielmehr direkt auf das Volk gerichtet und die Fernsehzuschauer schauen gebannt auf die Bildschirme ihrer Fernseher. Die Kontrollmechanismen unserer Tage sind dabei wesentlich effizienter: Durch die mediale Übermittlung von ‹Informationen› werden artifizielle, dem Kapital dienbare Realitäten geschaffen, die die Lebenswirklichkeiten des sozialen Körpers definieren. Angewandter Konstruktivismus, sozusagen. Vor allem das Fernsehen dient als eine Wunschmaschinerie, die das Geschichtenrepertoire, die Träume und Sehnsüchte der Menschen – und damit ihre Welt – definiert.

Auch – oder gerade – auf die Gefahr hin, martialisch zu klingen: Das individuelle Selbst ist heute das Schlachtfeld eines Informationskriegs, den es verloren hat, bevor das Individuum auch nur eine Ahnung von Selbstbewußtsein entwickeln kann. Das Verhalten der Vereinzelten, und damit des Volkes insgesamt, braucht nicht durch einen Überwachungsapparat kontrolliert werden, weil der omnipräsente Große Bruder bereits die Erfahrungswelt der Menschen durch die Kontrolle ihrer Vorstellungsmöglichkeiten eingrenzt. Umstürzlerische Pläne, von wie auch immer gearteten revolutionären Zellen auf konspirativen Treffen geschmiedet, stellen heute also keine Gefahr mehr dar, weil die potentiellen Verschwörer lieber auf dem Traumschiff in die Karibik fahren. Mit anderen Worten, das vom Kapital evozierte und durch die Medien implantierte Bild eines gesunden Menschenverstandes legt die Laufwege der Massen so rigide fest, daß eine Auflehnung gegen dieses System den Menschen von heute nicht nur kaum vorstellbar ist, sondern als irreal, weltfremd und bedrohlich erscheint.


Big Brother, nackt

Während es sich bei Orwell also um eine passive Form der Kontrolle handelte, die nicht in das Subjekt eindringt, manipuliert das mediale Kontrollsystem unserer Tage aktiv und invasiv die innere Lebenswelt der Empfänger des medialen Informationsflusses.

Von hier aus zurück zu Big Brother: Genau dieser psychochirurgische Eingriff in die innere Lebenswelt der TV-Konsumenten kann an der Spielschau Big Brother überdeutlich nachgezeichnet werden. Durch die redaktionelle Zusammenfassung des vollständigen Tagesablaufes von zehn Personen auf 24 Minuten liegt das Schicksal der Bewohner ganz in den Händen der Redaktion, die die Sendung zusammenschneidet. Gerade so, wie das Weltgeschehen in der Hand der Nachrichtenredaktionen liegt. Vollkommen willkürlich und losgelöst von jeder nichtmedialen Realität kann ein beliebiges Bild der Bewohner – und der Welt – konstruiert werden.

Ziel dieser Realitätskonstruktionen ist natürlich die Befriedigung der Ansprüche der Werbepartner der Sendung und die Herstellung eines vermarktbaren Image der Bewohner, das in möglichst kurzem Zeitraum möglichst viel Gewinn verspricht. Die Zuschauer, hirntote Opfer des Informationskriegs, glauben dabei natürlich, sich ein ‹objektives› Bild von den eingeschlossenen Personen machen zu können. Von der grundsätzlichen Unmöglichkeit, sich ein objektives Bild zu machen, einmal abgesehen, erhalten sie statt dessen ein nach kapitalistischen Kriterien hergestelltes Klischee von den eingeschlossenen Personen. Alleine von diesem vorgefertigten Bild hängt die Entscheidung der Zuschauer ab, welchen Kandidaten sie aus dem Wohncontainer hinausschmeißen. Während die Zuschauer als Zielgruppenelemente glauben, als freie Subjekte freien Willens eine freie Entscheidung zu treffen, handelt es sich tatsächlich um eine erzwungene und aufgezwungene Wahl, deren Ausgang vollständig in den Händen der Bilder-, Meinungs- und Weltbildmacher liegt. Und erinnert das nicht ein wenig zu offensichtlich an die Funktionsweise unserer parlamentarischen Demokratie?


Forced Choice

Dies war die tatsächliche Quelle aller Hysterie, dies war das Tabu, das Big Brother berührte: Die ‹forced choice› zwischen medial aufbereiteten Scheinalternativen entspricht der erzwungenen Wahl, auf der der rechtsstaatliche Kapitalismus und die ihn tragende Demokratie beruhen. Unser ganzes System gründet sich auf diese lächerliche, aufgezwungene Wahl zwischen Scheinalternativen, die uns mit der Illusion eines freien Willens verblödet. Wir sollen zwischen verschiedenen Parteien mit identischen Programmen wählen, aber wehe wir sind gegen die Demokratie. Wir müssen zwischen verschiedenen Konsumgütern mit dem gleichen Geschmack wählen, aber wir dürfen nicht nicht konsumieren. Diese aufgezwungene und medial inszenierte Wahl zwischen Scheinalternativen ist das verborgene Geheimnis der Big-Brother-Schau.

Der echte Große Bruder kann mit den durch das Kapital gesteuerten Medien gleichgesetzt werden. Die Demokratie ist dabei nichts als Nährboden und Tarnmantel für die zur Selbstausbeutung transformierte Ausbeutung der Massen. Dem entspricht bis ins Detail die Dramaturgie der Spielshow Big Brother: Kapitalistische Interessen bestimmen die Aufbereitung der Geschehnisse im Rahmen der 24 minütigen Sendung an die Big-Brother-Zuschauer. Die Einwohner des Containers erhalten ein Image ohne jeglichen Bezug zur nichtmedialen Realität. Und die Fernsehzuschauer, die Gemeinschaft des Großen Bruders, wählt zwischen diesen medial konstruierten Images und glaubt eine freie Wahl zu treffen. Gerade so wie der rechtschaffene Bürger glaubt, eine persönliche Entscheidung zu treffen, wenn er sich bei den nächsten Bundestagswahlen für eine der Parteien entscheidet.


Alternativen?

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich auf die Wahl zwischen Scheinalternativen gründet. Nichts, aber auch wirklich gar nichts kann den Menschen der westlich zivilisierten Kulturen heutzutage fremder anmuten, als ein Ort jenseits der ‹forced choice›, dieser erzwungenen und aufgezwungenen Wahl, deren Ausgang vom Kapital vorherbestimmt ist und die die Insassen der finalkapitalistischen Realitätstunnel dabei gleichzeitig in der Illusion eines freien Willens gefangen hält. Alternativen zu dieser aufgezwungenen Wahl gibt es keine, außer einer konsequenten Verweigerungshaltung gegenüber der lächerlichen Wahl an sich. Und dies ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb Karl Kraus in einem Text zu einer Wahlreform in Österreich: «Wenn ich von zwei Übeln das geringere wählen soll, wähle ich keines.» [1] In: Die Fackel Nr. 194, vom 31. Januar 1906, Seite 11. Dem ist nichts hinzuzufügen.



Erstellt: 26. Mai 2000 – letzte Überarbeitung: 14. Februar 2002
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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