BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Falsche Empörung»
von Albertine Devilder
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Einsicht und Selbsterkenntnis sind nicht des Menschen Stärke: Daß der homo sapiens fast immer völlig verrannt in seiner von ihm selbst fabrizierten Wirklichkeit verharrt und in eben dieser groß und laut herumtönt, er sei absolut im Recht, während gleichzeitig alles, was da draußen ist, völlig ahnungslos daherkomme und nur Absurdes, Abwegiges und Sinnloses zu sagen habe, geschenkt. Das scheint die normale menschliche Dummheit zu sein. Wird in vielen schönen Büchern beschrieben.

Was mir allerdings in den letzten Jahren als Menetekel postmoderner Entwicklungen besonders auffällt, ist der Drang solcher Wirklichkeitsbehaupter, mit ihrer Version von der Wirklichkeit direktemang und voller Empörung in die Medien zu gehen, um die Mitmenschen an ihrer Empörung teilhaben zu lassen. Eigentlich müßte es nun ziemlich peinlich sein – selbstverständlich ist es das in der Postmoderne niemals –, daß sich bei solch öffentlicher Empörung meist nach ganz kurzer Zeit herausstellt, daß es auch eine andere Version der Geschichte gibt. Schauen wir mal hin.

In meiner regionalen Tageszeitung steht fast täglich eine redaktionelle Mitteilung, die auf einem Leserbrief der oben beschriebenen dritten Art beruht. Fangen wir mit einem ganz schlichten Beispiel an: Eine Frau teilt mit, sie sei in der 1. Klasse der S-Bahn gefahren und dabei ohne einen gültigen Fahrausweis für die 1. Klasse erwischt worden. Sie empört sich nun – mit Unterstützung der Redaktion – ganz maßlos, daß man ihr überhaupt so etwas wie Schwarzfahren zutraue und daß man sie – als anständige Frau – «menschlich» kriminalisiere und als Schwarzfahrerin behandele, obwohl sie doch ein Ticket für die 2. Klasse gehabt habe. Große Geschichte. Große Gefühle. Wirkliche Wirklichkeit. Und es geht ums Menschliche! Für mich ist es allerdings zum Haareausraufen. Mit Verlaub: Sie ist 1. Klasse gefahren, ohne einen Fahrausweis für die 1. Klasse zu haben! Was soll diese falsche Empörung?

In etwas komplizierteren Fällen, die wesentlich häufiger vorkommen, erscheint zunächst in der Tageszeitung eine Einlassung, in der ein empörter und aufgebrachter Mensch – mit Unterstützung der Redaktion – darüber berichtet, wie er (oder, besonders, beliebt, ein unschuldiges Kind) ganz persönlich nicht beachtet oder falsch behandelt wurde. Ein bis zwei Tage später stellt sich dann – nein, nicht die ganze, aber doch ein großer Teil der «wirklichen Geschichte» heraus.

Ein Beispiel: Jemand schreibt, ein ganz normaler Brief habe geschlagene drei Wochen gebraucht, um innerhalb eines Ortes einem Adressaten endlich zugestellt zu werden. Große Empörung. Das ist für die Journaille natürlich ein gefundenes Fressen. Diese Unverschämtheit schlampiger Zustellung führt zu einer völlig reflexhaften großen Geschichte über die allgemeine Unzuverlässigkeit und menschliche Gleichgültigkeit der Post. Zwei Tage später wird folgendes klar: Straßenname und Hausnummer waren falsch, die Postleitzahl ebenfalls, und, besonders wichtig, die Angabe des Absenders fehlte. (Der Brief konnte also nicht einfach als «Unzustellbar» zurückgeschickt werden, sondern mußte geöffnet und mühsam auf Adreß- oder Absenderangaben hin untersucht werden.) Und jetzt, also nach der Aufklärung, gibt es eine erneute Einlassung des Leserbriefschreibers über seine einzig wahre Binnensicht: Er empört sich – mit Unterstützung der Redaktion – ganz maßlos darüber, daß der Briefträger doch hätte wissen müssen, wer auf der Anschrift gemeint gewesen war, denn schließlich habe man schon öfter Briefe an den geschickt! Bums! Ist das nur Autopoiese? Oder schon Schwachsinn? Oder ist es eine Melange aus Impertinenz und Imbezillität?!

Da fällt mir ein alter Autopoiese-Witz ein: Geht ein Mann zum Fahrkartenschalter und sagt: «Einmal Neustadt!» Der Fahrkartenverkäufer erklärt ihm, es gebe 17 verschiedene Neustadts in Deutschland und fragt ihn, welches Neustadt er denn nun für die Fahrkarte auswählen solle. Antwort: «Ist mir egal, mein Bruder holt mich ab!»

Noch ein Beispiel für das, was ich falsche Empörung nenne. Jemand schreibt ganz aufgebracht an seine Tageszeitung, die Deutsche Telekom habe ihm das Telefon abgeklemmt, und die kranke Tochter, die kranke Großmutter, die nervöse Ehefrau und viele mehr seien doch ganz persönlich jetzt auf eben dieses Telefon angewiesen. Große Empörung. Das ist für die Journaille natürlich ein gefundenes Fressen. Diese Unverschämtheit von Telekombediensteten führt zu einer völlig reflexhaften großen Geschichte über die allgemeine Unzuverlässigkeit und menschliche Gleichgültigkeit der Telekom. Zwei Tage später stellt sich heraus, daß die Familie ihre Telefonrechnung seit Monaten nicht bezahlt und Mahnungen aller Art nicht beachtet hat. Und jetzt, also nach der Aufklärung, gibt es eine erneute Einlassung des Leserbriefschreibers über seine einzig wahre Binnensicht: Er empört sich – mit Unterstützung der Redaktion – ganz maßlos darüber, daß es der Telekom überhaupt erlaubt sei, Telefonanschlüsse zu sperren, nur wenn man mit der Bezahlung der Rechnung etwas im Verzug sei. Tja. Ist das nur Autopoiese? Oder schon Schwachsinn? Oder ist es eine Melange aus Impertinenz und Imbezillität?!

Ein weiteres schönes Beispiel soll diesen ärgerlichen Reigen beenden. Jemand schreibt, er sei – als Ausländer – bei einer Verkehrskontrolle von Polizisten mißhandelt worden. Große Empörung. Das ist für die Journaille natürlich ein gefundenes Fressen. Große Geschichte über Willkür, Brutalität und Ausländerfeindlichkeit der Polizei. Zwei Tage später stellt sich heraus, daß ein Italiener bei einer nächtlichen Alkohol-Routinekontrolle – unter Zeugen – Polizisten als Schweine, Nazis und Fremdenhasser beschimpft hat, ihnen vorwarf, ihn als Ausländer herausgepickt zu haben, sich weigerte, seine Ausweise zu zeigen und schließlich auf die Polizisten losgegangen ist. Und jetzt, also nach der Aufklärung, gibt es eine erneute Einlassung des Leserbriefschreibers über seine einzig wahre Binnensicht: Er empört sich – mit Unterstützung der Redaktion – ganz maßlos darüber, daß die Polizeibeamten nicht erkannt hätten, daß er betrunken gewesen sei. Das wäre doch deren Aufgabe gewesen. Und hätten sie das gesehen, wäre ja nichts passiert. Tja, ist das nur Autopoiese? Oder schon Schwachsinn? Oder ist es eine Melange aus Impertinenz und Imbezillität!

Was ist eigentlich los mit den Menschen? Reichen Einsicht und Selbsterkenntnis nur noch zwei Millimeter in den unerforschten Raum außerhalb des eigenen Kopfes hinein? Ist da draußen alles so, wie man es schon vorher weiß? Es scheint so, denn außerhalb der vom Organisationsprinzip der Autopoiese gezogenen engen Grenze um den eigenen Kopf herum scheint bei diesen Mitbürgern das Böse, das Fremde, das Feindliche, das Unverständliche, das Nicht-Verstehen-Wollen zu lauern. Und bei sich selbst, im eigenen Kopf, ist doch alles so selbstverständlich, so «wie gesagt, jetzt», so klar, daß dies doch jeder verstehen müßte.

Es ist quälend und abstoßend, daß Menschen nicht erkennen können, wie sie ihre Empörung so oft aus einem Unrecht heraus starten. Psychoanalytikerinnen hätten ihre reine Freude an diesem psychischen Arrangement. Aus dem Bewußtsein einer Schuld, eines Fehlers, aus dem Fühlen des Falschen neigt der Dummkopf zu ganz großen Attacken, muß wegen des erlittenen Unbills sofort an die Öffentlichkeit gehen. Hauptsache, er bleibt am Drücker, er behält Recht. So suchen sie «menschliche» Unterstützung für ihre Einäugigkeiten, als könne die Öffentlichwerdung ihrer Wirklichkeitsversion eben diese zur Wahrheit machen. Das geht, nicht nur bei Helmut Kohl, wirklich so weit, bis der einsichtslose, einsichts-unfähige Dummkopf am Ende der Sackgasse des eigenen Ichs angekommen ist und den Kopf an die vernagelte und verrammelte Wand seiner Möglichkeiten schlägt. Und selbst dieser Schmerz, diese eigentlich letzte Warnung, wird wieder auf die Welt da draußen attribuiert: Alle haben sich gegen mich verschworen! Oh Einfalt.

Um seine Autopoiese, seine Hilfsbedürftigkeit im Konstruieren von Welt, sein unbedingtes Selbermachen von Wirklichkeit nicht wissen, ist Dummheit. Und gerade die Dummheit, die sich so falsch empört, ist schrecklich nervend. Heiland, schick uns einen Lichtblick!



Erstellt: 23. August 2000 – letzte Überarbeitung: 23. August 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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