BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Neue Spielregeln der Ausbeutung (2): 'Ich verlasse mich da ganz auf Sie!' - Verantwortung im Postfordismus» von Benjamin Erhard
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1. Einführung

In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nahm ein neues Akkumulationsmodell seinen Anfang, das seinen beispiellosen Siegeslauf bis heute ungebrochen fortführt und die gegenwärtige Auseinandersetzung mit der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft prägt: Der Postfordismus – und ein Ende ist bislang nicht abzusehen.

Folgt man einem der herrschenden Hauptdiskurse, gehören zu seinen systemimmanenten Merkmalen flache Hierarchien, die Flexibilisierung der Arbeitszeit, sowie insbesondere die Übertragung von Verantwortung an die sogenannten unteren und mittleren Unternehmensebenen, was – innerhalb des Verwertungsprozesses – auch oft als «Förderung von Selbstbestimmung und Kreativität der Beschäftigten» bezeichnet wird.

Ich muß gestehen, daß ich versucht wäre, den aufgezählten Prinzipien des Postfordismus ohne Kenntnis ihrer Anwendungsmechanismen und Konsequenzen unvoreingenommen zuzustimmen, da sie durchaus mit positiven Assoziationen besetzt sind. Hand auf's Herz, verehrte Leserinnen und Leser, ginge es Ihnen nicht ähnlich?

Bezieht man in diese Betrachtung noch die griffigen Aussagen, Mottos und Leitsätze zahlloser «Persönlichkeitsseminare» und «Motivationstrainings» mit ein, die tagein, tagaus – einem nicht enden wollenden Trommelfeuer gleich – über hunderttausende von abhängig Beschäftigten hereinbrechen, so vermeint man manchmal gar ein harmloses «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!» zu vernehmen. Doch gemach! Grundsätzlich bietet es sich immer an, bei Theorien, die auf wundersame Weise Vorteile und Verbesserungen für alle Mitglieder einer sozialen Gruppe (hier: die Beschäftigten eines Betriebes ohne sogenannte Führungskompetenz) versprechen, ein gesundes Mißtrauen an den Tag zu legen und sich der alten – aber stets aufschlußreichen Frage – «Cui bono?» zu erinnern. Exemplarisch möchte ich dies am Begriff der Übertragung von Verantwortung tun.


2. Vorbemerkung

Verantwortung kann einem einzelnen Mitarbeiter oder einer Gruppe von Mitarbeitern – einem «Projektteam» – übertragen werden. Grundsätzlich erzeugen beide Varianten ein identisches Szenario: Abhängig Beschäftigten wird über das Maß der bestehenden und zumeist in Form einer Stellenbeschreibung fixierten Aufgabengebiete eine zusätzliche Aufgabenstellung übertragen. Zur besseren Abgrenzung möchte ich die Menge der «normalen» Tätigkeiten als «Funktionspaket» definieren. Die Elemente des Systems «Funktionspaket» sind verhältnismäßig genau bezeichnet; sie orientieren sich am oberen Rand der Zumutbarkeit, also daran, was von Stelleninhabern, die über die gewünschte (nicht zu verwechseln mit der erforderlichen) Ausbildung und Tätigkeitspraxis verfügen, als Standard im Verwertungsprozeß verlangt wird. Auf den Umstand, daß dieser Standard entsprechend dem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis kontinuierlich überprüft und nach oben korrigiert wird, sei nur der Vollständigkeit halber hingewiesen. Das Funktionspaket ist also in gewissem Rahmen sowohl in qualitativer, d.h. in Bezug auf benötigte Fertigkeiten, persönliche Präferenzen oder Aversionen, als auch in quantitativer Hinsicht, d.h., in Bezug auf die zur Bewältigung der Elemente benötigte Zeit, für den Beschäftigten kalkulierbar.


3. Initiale Riten (Variante 1)

Der Mechanismus der Übertragung von Verantwortung hat in den letzten Jahren zur Herausbildung bestimmter Bräuche geführt, die sich heute in der Verwendung typischer Sprachskripte zeigen. Ein beliebter Initiationsritus der individuellen Übertragung von Verantwortung, den viele von Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser, vielleicht schon selbst erleben durften, besteht aus den folgenden fünf Phasen:

1. Aufbau von Spannung und Unsicherheit,
2. Aufrechterhaltung der Spannung durch zeitliche Verzögerung,
3. Auflösung der Spannung,
4. Übertragung der Verantwortung,
5. Vulgärmotivierung in einer Melange aus Bestärkung und Drohung.

Kommt Ihnen der nachfolgende Monolog irgendwie bekannt vor, lieber Leser, liebe Leserin? Licht aus, Vorhang auf. Die Vorstellung beginnt.


Phase 1 und 2

«Frau X, halten sie sich 'mal übermorgen um 15:00 Uhr frei, und reservieren Sie am besten den kleinen Meetingraum, wir müssen dringend unter vier Augen reden.»

Sofort fragt man sich, und frau auch: «Was ist denn nun schon wieder los? Habe ich irgendetwas falsch gemacht? Oder sollte sich der blöde Kerl aus dem 2. Stock wirklich über mich beschwert haben?»


Phase 3 und 4

«So, Frau X, ich komme gleich zur Sache. Gucken Sie nicht so skeptisch, ich habe eine tolle Nachricht für Sie! Ich freue mich ganz außerordentlich, Ihnen eine Aufgabe übertragen zu können, für die sie allein verantwortlich sind. Wir brauchen bis bis zum Ende des 3. Quartals eine saubere Rentabilitätsanalyse für den Bereich ABC, Synergieeffekte nutzen und so. Die Geschäftsführung will denen 'mal ein bißchen auf die Finger schauen, nicht wahr. Planen Sie Ihre Ressourcen, und holen Sie sich die Unterstützung von den Fachabteilungen. Wenn da welche nicht mitziehen, treten Sie denen ordentlich auf die Hühneraugen, Sie haben da völlig freie Hand. Berichten werden Sie wöchentlich an mich. Schauen Sie 'mal, so ungefähr habe ich mir das vorgestellt.»

Das ungefähr trifft es ganz gut. Mit kühnem Schwung werden wie aus einem fiebrigen Traum geborene Ablaufdiagramme, visionäre Zeitpläne und ein wirres Sammelsurium an Zahlen und Buchstaben auf ein großes Stück Papier geworfen. Nur für den Augenblick verständlich, nur für den Augenblick gemacht, hängt es Wochen danach noch am Flipchart – ohne Funktion und ohne Wert, nur gelegentlich noch von der neuen Funktionsträgerin ratlos betrachtet.


Phase 5

«Daß das eine große Chance für Sie bedeutet, ist Ihnen wohl schon klar, nicht wahr? Zeigen Sie 'mal, was Sie so drauf haben, ich habe mich schließlich für Sie verbürgt. Mehr brauche ich ja wohl nicht zu sagen, nicht wahr? […] Und keine Bange, Sie schaffen das schon! […]. Ich verlasse mich da ganz auf Sie. Na, Sind Sie schon Feuer und Flamme? Am besten, Sie legen noch heute los!»


4. Initiale Riten (Variante 2)

Die Übertragung von Verantwortung auf eine Gruppe geschieht zwar unter Zuhilfenahme eines anderen Rituals, aber auch dieses wird als herausragendes Ereignis zelebriert. Grundsätzlich gilt: Bei einem Projektteam macht man oder frau nicht einfach mit, man wird dazu berufen! Ich kenne Fälle, bei denen zwar bekannt war, daß ein neues Team «einberufen» werden sollte, es jedoch solange wie möglich unklar blieb, wem die Ehre des Auserwähltseins zuteil werden würde. Die Beschäftigten erfuhren erst durch ein mit der Hauspost zugestelltes Schreiben von ihrem Glück. Welch eine Aufregung, welch eine Spannung in den Tagen davor! Mutmaßungen schwirrten frei durch den Raum, und kleine Menschen berichteten mit wichtigem Gesicht atemlos lauschenden Zuhörern die neuesten Gerüchte; kurz: ein Summen wie in einem Bienenkorb, eine Stimmung wie damals, am ersten Schultag nach den Großen Ferien.

Die Angehörigen der Leitungsebene stellen sich vermutlich vor, daß die neuen Jünger eines Teams einander instinktiv erkennen und sich bei einer zufälligen Begegnung auf den langen Korridoren ihrer Bürosilos schon verschwörerisch zunicken.

Sie werden sich jetzt fragen, lieber Leser und liebe Leserin, welche Skripte für die obige Variante typisch sind. Nun, im Prinzip gelten die Skripte der Variante 1. Der entscheidende Unterschied ist, daß sie diesmal von einem auf der gleichen Hierarchieebene befindlichen Beschäftigten aufgesagt werden, der von der Leitungsebene eingesetzten Projektleiterin. Ihre erste Aufgabe wird es sein, auf dem sogenannten «Kick-Off-Meeting» die Schar der Auserwählten (einschließlich der eigenen Person) auf die gewünschten Ziele einzuschwören. Da sollen z.B. bis zu einem bestimmten Stichtag ein neues Antriebskonzept für ein Gerät entwickelt, eine «Make or buy»-Analyse durchgeführt, diverse Verträge geschlossen und eine deutliche Kostenreduzierung erreicht werden.

Und am Ende der Einschwörungsphase in Variante 2 werden die Projektteilnehmer natürlich gefragt: «Das ist Ihnen doch schon klar, oder?» Klar und deutlich. Vorgang runter, Licht an. Die Vorstellung ist beendet.


5. War was?

Eine kleine Verschnaufpause sei uns gegönnt, liebe Leserinnen und Leser. Überlegen wir mal gemeinsam, was gerade geschehen ist. Sie erinnern sich, daß ich im 2. Abschnitt, der «Vorbemerkung», einen oberen Rand der Zumutbarkeit definiert habe, der gleichbedeutend damit ist, was Beschäftigten standardmäßig im Rahmen ihres Funktionspaketes abverlangt werden kann. Das besondere an der Verantwortungsübertragung im Postfordismus ist nun, daß die Übernahme der übertragenen Verantwortung zusätzlich erwartet wird, denn eine Entlastung im Rahmen des Funktionspaketes findet in der Regel nicht statt.

Und wenn wir uns die mit der Verantwortungsübertragung gekoppelten Inhalte der zu übernehmenden Aufgaben betrachten, stoßen wir auf einen weiteren fundamentalen Unterschied zum Funktionspaket. Da werden z.B. Untersuchungen darüber verlangt, wie «rentabel» andere Bereiche (und damit andere Menschen) des Unternehmens sind, oder es sollen Entscheidungen über die Auslastung bzw. Schließung von Betriebsteilen vorbereitet und dabei die Linie der Unternehmensführung vertreten werden. Wird Verantwortung an eine Gruppe, ein «Team» übertragen, soll ein Beschäftigter, welcher der gleichen Hierarchieebene angehört wie seine Kollegen, die Einhaltung der vorgegebenen Zeiten und die Durchsetzung der erwarteten Ergebnisse sicherstellen.

«Moment mal!», könnten optimistische Zeitgenossen jetzt ausrufen, «das sind doch typische Aufgaben des Managements. Ja, aber das ist doch toll, das ist doch ein großer Fortschritt, wenn die Beschäftigten auch in diesen Dingen mitwirken können!» Wirklich? Ein positiver Paradigmenwechsel? Nun, ein Paradigmenwechsel ist es zweifellos. Nur nimmt die Entwicklung eine gänzlich andere Richtung, als viele meinen. Betrachten wir uns das Ganze einmal aus der Nähe.


6. Im Detail: Instrumente der Herrschaft

Das Prinzip der Übertragung von Verantwortung fiel weder vom Himmel noch schwebt es im luftleeren Raum; es ist eingebettet in den gesamtgesellschaftlichen Kontext, die lokalen Wirklichkeitskonstruktionen innerhalb eines kommunalen Systems und die stetige Schaffung nützlicher Instrumente.

Auf der Makroebene arbeitet seit Mitte der 80er Jahre eine Allianz aus Parteien, Unternehmerverbänden und der Führungsebene der Gewerkschaften an einem Katalog von Sprachdefinitionen, an einer funktionalen Ethik des Spätkapitalismus. Aufmerksame LeserInnen, die Sie sind, haben Sie den Pleonasmus im letzten Satz bemerkt. Ethik hat stets eine Funktion innerhalb eines kommunalen Systems: «Ethik ist ein Sprachgespenst mit der Funktion sozialer Regulierung» (vgl. dazu das «Arbeitspapier Nr. 6»).

Denken Sie einmal an die allseits beliebten «ethischen» Sprachfiguren, daß «Leistung sich wieder lohnen müsse», daß wir alle nur «Kostenfaktoren» seien, daß «sozial Schwache Schmarotzer seien», daß «wer wirklich Arbeit suche, auch welche finde», daß «Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze vernichte» und «Lohnverzicht und Nullrunden Arbeitsplätze schüfen», und daß schließlich die Globalisierung jedem Mann und jeder Frau, die nur genügend engagiert, flexibel und bereit sei, Verantwortung zu übernehmen, die Möglichkeit biete, zu den Winnern zu gehören: Das sind die Sprachgespenster des «Bündnisses für Ethik». Alles klar?

Auf der Mikroebene, auf der Ebene der Unternehmen, haben sich drei Instrumente als besonders wirkungsvoll erwiesen: Die Zielvereinbarung, die Vertrauensarbeitszeit und, als Spiegelung der Makroebene, die Unternehmensphilosophie. Die ersten beiden Instrumente dienen im Rahmen der Übertragung von Verantwortung der disziplinarischen Steuerung. In der sogenannten Zielvereinbarung werden außer den Elementen des Funktionspaketes auch die neuen übertragenen Aufgaben fixiert. In regelmäßigen Abständen wird in «Zielvereinbarungsgesprächen» die Erreichung der «vereinbarten» Ziele prozentual bewertet. Der Begriff «Vereinbarung» entbehrt natürlich nicht einer gewissen Pikanterie, bedenkt man das Machtgefälle zwischen den beteiligten Parteien und die Umstände, unter denen diese zustande kam.

Den Begriff der «Vertrauensarbeitszeit» möchte ich hier nur noch kurz streifen. Eine beliebte Variante besteht darin, daß «man es gern sieht», wenn die Beschäftigten einen bestimmten «Stundenpuffer» aufbauen und bis an's Ende aller Tage vor sich herschieben. Gleichzeitig wird der Abbau von Überstunden durch schikanöse Einschränkungen verhindert: «Was, den Gleittag nehmen? Wie stellen Sie sich das vor? Also, momentan geht das überhaupt nicht, Sie sehen ja selbst, was hier los ist!» Zur grundsätzlichen Funktion des Instrumentes «Vertrauensarbeitszeit» verweise ich auf den schönen Text «Surfen und Sich-Selbst-Ausbeuten» von Henriette Orheim.

Als dritte Säule fungieren Unternehmensphilosophien, Leitsätze, Firmenkulturen oder wie auch immer die «Worte der Großen Vorsitzenden» bezeichnet werden. Auf dieser Ebene erfolgt die ideologische Feinjustierung der Menschen. Durch konstante Verabreichung entfaltet das «Neusprech» seine weitreichende Wirkung am besten. Die tägliche Inhalation verhilft den Beschäftigten zu neuen Erkenntnissen über Verantwortung, sportliche Herausforderungen, Engagement, über die Befriedigung von Bedürfnissen und den Spaß an der Teamarbeit. Sie lernen, daß «alle in einem Boot sitzen» bzw. «an einem Strang ziehen» und entdecken «den Unternehmer in sich».

Beliebt ist der Rückgriff auf mehrere Ebenen und der gleichzeitige Einsatz mehrerer Instrumente. Ich kenne beispielsweise Zielvereinbarungen, in denen «unternehmerisches Denken» als Ergebnis gefordert und bewertet wird.


7. Auswirkungen

Die kontinuierliche Verwendung der beschriebenen Instrumente bleibt nicht ohne Folgen für die Beschäftigten. Die Bereitschaft innerhalb der Belegschaften, die angebotenen sprachlichen Definitionen zu übernehmen, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen, und sie wird angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Existenzängsten nicht geringer werden. In meinem beruflichen Umfeld beobachte ich immer mehr Menschen, welche die «vereinbarten» Werte und Ziele als «fortschrittlich» und als die ihren begreifen und die so ihre Wirklichkeit neu konstruieren. Hat man als Angehöriger des kommunalen Systems «Belegschaft der Firma XYZ» erst die vorgeschriebenen Definitionen als zutreffend übernommen, begreift man z.B. eine Kategorie wie «Verantwortung» in einem bestimmten Sinn, dann stellt man auch eine Kausalität zwischen den Definitionen und den zu erreichenden Zielen her. Ehemaliges Herrschaftswissen wird so zum Teil des «Jedermannswissens», wie Peter Berger und Thomas Luckmann es nennen:

«Sprache wird zum Depot einer gigantischen Häufung gemeinsamer Sedimente, die monothetisch erfaßt werden können, das heißt als in sich verbundene Einheiten, deren Entstehungsprozeß nicht rekonstruiert werden muß. […] Legitimationen können aufeinanderfolgen und die abgelagerten Erfahrungen einer Gesellschaft über die Zeiten hinweg mit neuen Erfahrungen anreichern. Die Geschichte einer Gesellschaft kann uminterpretiert werden, ohne die institutionelle Ordnung unbedingt zu verwirren.» [1] Peter L. Berger & Thomas Luckmann (1970): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 5. Auflage. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag, Seite 73/74.

Mit der steigender Anzahl derjenigen, die die oben angesprochene Kausalität «erkennen», erhöht sich der Druck auf diejenigen, die (noch) auf ihren «antiquierten» Wirklichkeitskonstruktionen bestehen. Ehe er sich's versieht, wird der Skeptiker zum Reaktionär.

Verantwortung übertragen zu bekommen heißt eben nicht, für etwas Verantwortung zu übernehmen, sondern für etwas verantwortlich gemacht zu werden. Es bedarf nur noch eines Anstoßes, der Zielvorgabe, und ein jederzeit reproduzierbarer Prozeß läuft ab. Folge ist, daß die Beschäftigten sich freundlicherweise selbst kontrollieren. Sie versuchen durch noch mehr Leistung und durch noch mehr unbezahlte Arbeitsstunden die ständig steigenden Anforderungen zu erfüllen. Schließlich möchte man sich der übertragenen Verantwortung als würdig erweisen. Als Belohnung winken den Selbstausbeutern weitere Aufgaben, als Strafe drohen der Ausschluß aus dem Kreis der Verantwortungsträger und der Abstieg in die betriebliche Bedeutungslosigkeit (sog. «Abschußkandidaten»).

Die wohl perfideste Form der Selbstausbeutung als Folge der neuen Verantwortungsübertragung stellt die Teamarbeit dar. Hier kontrolliert ein jeder nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen, und ein jeder wird seinerseits von allen anderen kontrolliert. Effektiver geht es nicht, das ist das Perpetuum Mobile der Unfreiheit. So bedarf es keiner Vorgesetzten im klassischen Sinne mehr; die Vorgesetzten des neuen Typs müssen sich nur noch darauf beschränken, die Fäden der Macht in ihren Händen zu halten («moderieren» nennt sich das) und neue Zielvorgaben zu produzieren.

Das Management zieht sich also aus bestimmten Aufgabengebieten zurück – nicht weil man den Beschäftigten mehr Mitbestimmung geben möchte, sondern weniger. Wenn Menschen in die vorbereitenden Tätigkeiten zur Vernichtung ihrer eigenen Arbeitsplätze eingebunden werden, wird Dissens schon im Ansatz erstickt. Sie sollen glauben, neue Spielräume erobert zu haben, dabei sind sie davon weiter entfernt als je zuvor.

Der so lange Zeit bewährte Dualismus von Macht und Autorität hat ausgedient. Richard Sennett drückt es so aus:

«Theoretischer formuliert, zeigt sich in den oberflächlichen Szenen des Teamworks zwar Macht, aber keine Autorität. Eine Autoritätsfigur ist jemand, der für seine […] Macht Verantwortung übernimmt. Moderne Managementtechniken suchen dem ‹autoritären› Aspekt […] zu entkommen, aber es gelingt dem Management zugleich, nicht mehr für seine Handlungen verantwortlich gemacht zu werden.[…] Dieses Fehlen von Autorität gibt den Oberen die Freiheit umzuschichten, anzupassen oder zu reorganisieren, ohne sich oder ihr Handeln zu rechtfertigen.» [2] Richard Sennett (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 3. Auflage. Berlin: Berlin Verlag, Seite 153.


8. Auswege?

Liebe Leserinnen, liebe Leser, wir sind am Ende unserer Betrachtungen zur Verantwortung im postfordistischen Zeitalter angekommen. Wir haben gesehen, wie Verantwortung übertragen wird, welche typischen Sprachskripte dabei zum Einsatz kommen, in welchen Kontext der Prozeß der Übertragung eingebunden ist, und welche Folgen dies für die Beschäftigten hat. «Verantwortung» hat sich als eine Schimäre erwiesen, mit deren Hilfe das vielbesungene «unternehmerische Risiko» auf die Belegschaften abgewälzt wird.

Diesen Abschnitt habe ich mit dem Wort «Auswege» und einem Fragezeichen überschrieben. Einen Ausweg zu finden, wird nicht einfach werden. Denn «die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.» (T.W. Adorno) Die erste und wichtigste Aufgabe in diesem Kontext ist es, möglichst genau die verschiedenen verwendeten Sprachskripte zu sammeln, sie auf ihre Funktion und Mechanik zu untersuchen, und sie allein schon dadurch zu entmythologisieren und zu dekonstruieren. Die beschriebenen initialen Riten im 3. Abschnitt könnten ein Anfang dazu sein. Im sozialen Raum eines Projektteams wird es zusätzlich darum gehen, konkrete Strukturen aufzubauen, die die Mechanismen der Verantwortungsübertragung durchsichtig machen und transzendieren und die verhindern, daß einzelne Angehörige des Projektteams gemobbt werden.

Ganz wichtig, ja lebensnotwendig dabei ist folgender Gedanke aus dem «Arbeitspapier Nr. 9»: «Wenn Macht nicht einfach da ist, sondern eingeräumt wird, kann sie auch wieder ausgeräumt werden.» Dieser, auf den ersten Blick so einfache Gedanke, birgt eine unglaubliche Sprengkraft und eröffnet eine unüberschaubare Anzahl an Möglichkeiten. Ja es könnte sich ein neuer kategorischer Imperativ für alle abhängig Beschäftigten im Postfordismus ergeben: «Entdecke die Möglichkeiten!» (Schweden, ca. 1999).

Wer über die Sprache herrscht, herrscht auch über die Menschen. Sich aber nur auf die Sprache zu konzentrieren, würde zu kurz greifen, und es birgt die Gefahr, mit neuen Sprachgespenstern gegen alte Sprachgespenster zu kämpfen. Aber Sprachkritik verknüpft mit der o.g. Erkenntnis über Macht, das könnte ein wirkungsvolles Instrument sein.

Ob der skizzierte Ausweg aber auch für die Mehrheit der abhängig Beschäftigten in Frage kommt, ist der springende Punkt. Inwieweit deren Verhalten, welches mir im Erwerbsalltag begegnet, Folge einer tatsächlichen Überzeugung oder nur eine Art Maskenball ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Sollte es aber keine Täuschung sein, sollten die abhängig Beschäftigten die neue Definition von Verantwortung im Postfordismus zu ihrer ureigensten Sache machen, dann könnte die «Schöne Neue Welt» von Aldous Huxley zur Alltagsrealität werden: «Orwell warnt vor einer Unterdrückung durch eine äußere Macht. In Huxleys Vision dagegen bedarf es keinen Großen Bruders, um den Menschen ihre Autonomie, ihre Einsichten und ihre Geschichte zu rauben. Er rechnete mit der Möglichkeit, daß die Menschen anfangen, ihre Unterdrückung zu lieben und die Technologien anzubeten, die ihre Denkfähigkeit zunichte machen.» [3] Neil Postman (1985): Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag, Seite 5.



Kommentare:

27. September 2002
Lieber Benjamin,
vielen Dank für Deinen schönen und ausführlichen Kommentar zu unserem kleinen Text «Produktives Spiel – Alternativen im Postfordismus?», der wiederum als Kommentar zu Deinem Essay «‹Ich verlasse mich da ganz auf Sie!› – Verantwortung im Postfordismus» gedacht war. Du merkst schon, so langsam umkreisen und vernetzen sich die Traktätchen im «Skepsis-Reservat». So soll es sein!
Eigentlich gibt es zu Deinem Kommentar nichts mehr hinzuzufügen, denn Du hast uns vollkommen und wirklich davon überzeugt, daß Du die notwendige Phantasie besitzt, um Alternativen denken zu können. Tatsächlich treffen Deine Erläuterungen derart genau unsere Gedanken, daß wir versucht wären, mit bedeutungsvollem Schweigen und einem vielsagenden Blick zu antworten – wenn es dieses Kommunikationsmedium erlauben würde. So aber greifen wir zum weiblichen Plan B und drücken unsere Zuneigung durch ein wenig Geplauder aus.
Sprache ist über seine performative Kraft ganz sicher das wichtigste Herrschaftsinstrument. Die Sprache ist die Wohnung der Macht. Wir verfolgen das gerade mal wieder mit gruseliger Faszination bei den Kriegsvorbereitungen eines großen Landes. Die Herren des Wörterbuchs denken sich Präventivkriege mit Friedenssoldaten aus, und der alltägliche Diskurs reifiziert ihre Wirklichkeit. Denn von den Worten zu den Ideen ist es nur ein Schritt. Das System stellt sich so in Sprache her und sperrt uns in seinem Sprachgewirr ein.
Insofern muß jede subversive Handlung ihre eigenen Worte erfinden, den herrschenden Sinn der anderen Worte zerstören und neue Positionen in der ‹Welt der Bedeutungen› schaffen. Daran war es uns eben gelegen: Deiner Anleitung zur Veränderung des Binnendiskurses eine Außenposition hinzuzufügen, durchaus im Sinne einer Utopie.
Hast Du unser kleines Spiel durchschaut? Der vorherige Absatz war natürlich schwerpunktmäßig eine Aneignung von Textstellen aus den ersten Seiten der ‹Gefesselten Worte› von Mustapha Khayati. Mit den Situationisten hast Du – bei uns – voll ins Schwarze getroffen. Schelm, der Du bist, hast Du den Frauenversteher-Test sicher mit Bravour gemeistert. Auch sonst Erfolg auf der ganzen Linie. Offenbar gehörst Du zu den allzu wenigen männlichen Exemplaren, die menschliche und interessante Themen diskurrieren können, ohne sich mit ihrem unpersönlichen Geleier ständig um sich selbst zu drehen. Danke für den Lichtblick. Als Geschenk – und mit der Ahnung, daß Du nicht vor anderen Welten zurückschreckst – noch eine unserer Lieblingsstellen aus Valerie Solanas ‹Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer›:
«In einer Gesellschaft, die auf Geld und sinnloser Arbeit fundiert ist, gibt es keine Liebe; diese fordert völlige ökonomische wie persönliche Freiheit, Muße, sowie die Möglichkeit, sich ausfüllenden, emotional befriedigenden Arbeiten zu widmen, die dann, wenn man sie gemeinsam mit achtenswerten Menschen ausführt, zu wirklicher Freundschaft führen. In unserer ‹Gesellschaft› ist solche Arbeit praktisch unmöglich.»
Hoffentlich bis bald,
E. + B.

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24. Januar 2003
Au Backe Benjamin,
ich bin's noch mal, diesmal ohne Edna und nur mit einer kleinen Anekdote. Da wir gerade an einem neuen Beitrag zur Neuen Arbeitsorganisation sitzen – in dem uns natürlich Deine Initialzündung als Sprungbrett dienen wird – habe ich gerade auf dem Weg zur Arbeit über meine eigene, genau: selbstverantwortliche Position nachgedacht. Und dabei ist mir aufgefallen, das ich es getan habe. Ohne nachzudenken, und ohne es überhaupt zu merken. Als gestern eine der technischen Assistentinnen, die früher Sekretärinnen genannt wurden, mit der Gleitzeitabrechnung des letzten Monats bei mir war. Um etwas zu fragen, das mir schnurzpiepegal, für sie aber wichtig war, weil es immerhin um 13 Minuten oder so ging. Um sie möglichst schnell wieder aus meinem Refugium, also meinem Büro heraus zu komplimentieren, habe ich es gesagt. Ohne irgend eine parallele Spur von kognitiver Kontrolle darüber, was ich da gerade sage. Ich habe es gesagt, wörtlich: «Ich vertraue Ihnen da voll und ganz». Nur um sie wieder los zu werden. Und sie ist hocherfreut wieder abgezogen, mit einer Angelegenheit, die eigentlich meine war. Ist das nicht schrecklich? Es gibt eine Postfordistin in mir. Aber das kann ich Dir versprechen, Benjamin: Die wird jetzt erst mal ordentlich gemobbt. Aber so richtig.
Besorgt, Betty



Erstellt: 9. September 2002 – letzte Überarbeitung: 24. Januar 2003
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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