BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«So viel ‹Ich› war nie»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Henriette Orheim
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Viele Leute reden heute nicht nur von einer Gesellschaft des Spektakels, sondern auch vom Zeitalter der Individualisierung. Und es stimmt, die sogenannten Nullerjahre haben Tendenzen der Postmoderne weiter verfestigt und verstärkt. Wenn heute irgendjemand im derzeitigen ‹Unterschichtenfernsehen› unfallfrei mehrere Male hintereinander das Wort ‹Ich› aufsagen kann, ist er schon jemand. Er muß dann nur noch die üblichen ausgeleierten Sprachfetzen anfügen wie ‹Ich bin einfach der X.› ‹Ich laß mich nicht verbiegen.› ‹Ich verstelle mich nicht.› ‹Ich bin so wie ich bin.› Und so weiter. Nicht ohne Grund beschäftigen wir uns in der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› mit der stetig zunehmenden Verwendung des Wörtchens ‹Ich›. Denn diese Angelegenheit ist noch nicht ‹ausgestanden›. Die ‹Individualisierung›, ja, die ‹Vereinzelung›, die Entsolidarisierung wird weiter gehen. Denn das wird von der ‹Herren des Wörterbuchs› nicht nur erlaubt, sondern dringend empfohlen.

Die Suche nach Verwendern, nach Nutzern, nach In-Gebrauch-Nehmern des Wörtchens ‹Ich› fällt aus den oben genannten Gründen heute sehr leicht, ein bißchen Herumhören, viele Beobachtungen, Zeitung lesen, und: Es stimmt ‹wirklich›. So viel ‹Ich› – wie heute – war nie! Und das bedeutet: Sehr viele Menschen behaupten heute – in einer großen Selbstverständlichkeit – ein ‹Ich› zu haben! Und, was besonders auffällt in Diskursen aller Art: Alle Menschen verlangen permanent, daß ihr ‹Ich› angemessen gewürdigt und berücksichtigt werde, daß es eine diskursive Wichtigkeit, ein Gewicht, eine Gewichtigkeit erfahre, ja daß es als Instanz von großer Bedeutung angesehen werden solle. Sie stellen also Forderungen, leiten Ansprüche aus der schieren Existenz ihres ‹Ichs› ab. Und wenn wir weiter in die Diskurse und die kommunikativen Akte hineinleuchten, hören wir, daß sehr viele Menschen meinen, daß ihr ‹Ich› die letzte Rechtfertigungsinstanz für ein Geschehen aller Art sei. Ja, es genügt, das Wort ‹Ich› in einer beliebigen sozialen Situation final zu erwähnen, um nicht nur ungeteilten und angemessenen Beifall erhalten zu wollen, sondern ihn auch tatsächlich zu bekommen. Tja, da gibt es einiges nachzudenken.

Fangen wir mit einer kleinen Kostprobe an. Eine Parteivorsitzende sagte vor einiger Zeit auf der Versammlung, die sie schließlich zur Vorsitzenden erkor:
«Ich will ich sein, anders will ich nicht sein.»
Welch ein Jubel über diese wundersame Tautologie! Alle Zuhörer und Zuhörerinnen haben diesen Satz damals sofort ‹verstanden› und fühlten sich somit selbst verstanden! Nur: Wen meint sie, wenn sie ‹Ich› sagt? Dies ist keine leichte Frage. Und es ist erstaunlich, daß keiner der ‹Ich›-Verwender diese Frage beantworten muß. Es genügt, den Namen zu sagen: ‹Ich bin der X.› Vulgo: ‹Ich bin Ich!› Schön. Und was noch? Warum fragt keiner weiter? O.k., o.k., wir fragen ja weiter. Zwei Gedanken zur inflationären Verwendung des Wörtchens ‹Ich›. Hier der erste:

In dem wunderschönen Arbeitspapier Nr. 11 hat die Bochumer Arbeitsgruppe die ‹Ich›-Vorstellungen, die Persönlichkeits-Konstruktionen in den Kulturepochen von Romantik, Moderne und Postmoderne mit den drei Fragen «Wer bin ich?», «Was bin ich?» und «Wie bin ich?» endgültig skizziert.

In der Romantik waren Fragen nach dem ‹Ich› grüblerische Fragen, nach dem Ureigenen, dem Besonderen, dem tief drinnen liegenden, Fragen nach der Tiefenstruktur also, dem Verborgenen, dem nicht an der Oberfläche Sichtbaren. Die Rede vom ‹Ich› klang so oftmals sehnsuchtsvoll, bangend, hoffend, unsicher, wirsch. Denn es gab sehr festgezurrte soziale Rollen und Positionen, und Riesenkataloge sozialer Schicklichkeiten. Das romantische ‹Ich› war eine Art Befreiung von den Lasten der Menschengemeinschaft. Und dieses befreite ‹Ich› war zu spüren, zu erfahren in der Liebe, im Kunstgenuß und in pantheistischer Naturschau.

In der Moderne waren Fragen nach dem ‹Ich› leicht zu beantwortende Fragen nach Demographie und Normalität. Antworten waren historisch oder positional und dadurch überaus einfach, denn der soziale Raum war klar definiert und überschaubar: «Ich bin der Heinz, 32 Jahre, Heizungsbauer, geschieden, keine Kinder.» Punkt. Damit war alles gesagt. Denn Menschen mit einem sozial definierten, positionalen, ‹Ich› waren absolut akzeptabel. Das ‹Ich› als Position im sozialen Raum, als Titel, als Berufsbezeichnung. Und in der Position gab es eine ruhige und stetige Entwicklung bis zum Endgehalt. Lebensläufe und berufliche Karrieren waren also gefragt. Und genau diese beleuchteten – in aller Dürftigkeit – das Gewordensein der Person.

In der Moderne ist auffällig, daß viele Menschen, wenn sie von sich selbst reden wollten, statt des Wortes ‹Ich› lieber das Wort «man» verwendeten. Da im postmodernen Kulturmix Stilelemente der Romantik, Moderne und Postmoderne beliebig angewandt und kombiniert werden können (vgl. Arbeitspapier Nr. 11 ), gibt es auch heute noch viele ältere Menschen, die stetig moderne «man»-Formulierungen verwenden. Das klingt sehr lustig, richtig altmodisch: «Nun, man weiß ja, was man in einer solchen Situation fühlt!» Herrlich! Ach, wie altbacken. Ein ‹Ich› verliert sich im «man». Tja, das war einmal.

In der A-Historizität der Postmoderne finden wir flüchtige soziale Räume, flüchtige soziale ‹Bindungen›, flüchtige Jobs. Das ‹Ich› wird zum ebenfalls flüchtigen, immer wieder neu herzustellenden Gesamtkunstwerk, dem es jeweils um den momentanen Zustand, um die aktuelle Befindlichkeit, um die soeben erlebte Aufregung oder Langeweile geht. Eine moderne Stetigkeit wäre hier äußerst unbequem, sowohl für das postmoderne ‹Ich›, wie auch für einen postmodernen Arbeitgeber. Beide finden die Möglichkeit, daß aus einer demütigen modernen positionalen Stetigkeit moralische Ansprüche und Forderungen an die eigene Person oder gar an den Arbeitgeber entstehen könnten, überaus lästig und unangemessen. Denn gerade die Rede vom «man» verweist auf soziale Bezüge, auf andere Menschen in gleicher Lage. Und dies klingt verdächtig nach Gemeinsamkeit, ja nach Solidarität. Schrecklich. Das postmoderne ‹Ich› will mit anderen nichts gemein haben. Es ist sich selbst genug. Und die Rede vom eigenen Ich klingt oftmals klar und sicher, kurz ab, unwirsch, denn was gibt es denn da zu erläutern und zu erklären? «Ich will ich sein, anders will ich nicht sein.» So ist es.

Das hat aber Konsequenzen, lieber Leser und liebe Leserin: Denn dadurch, daß es dem ‹Ich› erlaubt ist, permanent von sich selbst als «persönlichem» ‹Ich› zu sprechen, sich unter Applaus als Solitär-Ich herausstreichen zu dürfen, ist es als soziales ‹Ich›, als Institution oder Veranstaltung, die einer sozialen Gemeinschaft bedarf, abgeschafft! Ansprüche kann nur noch ein Einzelner stellen. Wie praktisch! Raffiniert? Oh ja! Was ergibt sich daraus? Na, egomanisches Surfen und Sich-Selbst-Ausbeuten, und Surfen und Sich-Selbst-Verkaufen, und, Peanuts.

Im finalen Kapitalismus der Spätmoderne stören Personen, die ein stetiges, positionales ‹Ich› für sich reklamieren. Was soll das Kapital mit denen machen, wenn es sie «umsetzen» oder «freisetzen» will? Die Arbeitswelt ist mittlerweile so flexibel organisiert, daß es keine Stetigkeit und keine dauerhaften Positionen mehr gibt und geben kann. Man kann sich als ‹Ich› auf so etwas nicht mehr berufen. Bewegung ist alles. Allemal besser als moderne Statik ist ein flexibler Mensch ohne eigentliche Stetigkeit, ohne ‹Ich›, der aber zu allen Zeiten Redefiguren vom ‹Ich› überzeugend im Munde führen kann. Um es ganz einfach auszudrücken: Man gibt den Menschen in der Spätmoderne die Redefiguren vom ‹Ich›, nachdem man Ihnen ihr ‹Ich› genommen hat. Ein «Na gut, ich kann jetzt wirklich nur für mich sprechen!», oder ein «Das muß doch jeder selbst am besten wissen!» klingt in den Ohren des Kapitals wie Engelsmusik. Denn wer so etwas sagt, der meint auch: «Also, wenn wir hier einen Betriebsrat bräuchten, dann hätten wir wohl irgendwo was falsch gemacht!». Tja, das meinen dann die anderen Menschen mit ihrem einzigartigen ‹Ich› auch. Praktisch? Ja.

Und nun zum zweiten Gedanken. Mich interessiert sehr, was geschieht, wenn nun zwei Personen, die mit einem ganz persönlichen ‹Ich› ausgestattet sind, aufeinandertreffen. Wie sieht der Diskurs aus? Gibt es eine Installation jenseits der beiden ‹Ich›-Präsentationen? Gibt es eine Schnittmenge? Tja, was meinen Sie, lieber Leser und liebe Leserin? Hören wir zum Einstieg mal wieder einfach zu. Ein ‹Ich› spricht. Diesmal ist es eine ‹Weltmeisterin im Eisschnelllauf›:
«Ich bin so, wie ich bin: Man kann mich lieben, man kann mich hassen. Ich spreche aus, was mich bewegt, offen und ehrlich. Und wenn jemand ein Problem damit hat, soll er es mir sagen.»
So allmählich kommt uns das bekannt vor, denn das, genau das, könnte heute jeder sagen. Das ist die neue ‹Ich›-Haftigkeit, die angesagte ‹Ich›-Haltigkeit. Wir aber schauen näher hin und grübeln:

Da ist also ein ‹Ich›, das ist so, wie es eben ist. Man kann es lieben oder hassen. Das macht dem ‹Ich› nichts aus, das kann das ‹Ich› nicht stören, nicht beeindrucken, nicht vom Weg abbringen, denn das ‹Ich› hat sich ja. Stellen uns mal vor, jemand sagt zu diesem ‹Ich›: «Ich liebe Dich!» Mögliche Antwort: «Ist doch Dein Problem!» Oder: «Ist doch schön für Dich.» Vielleicht sagt auch jemand zu diesem ‹Ich›: «Ich hasse Dich!» Mögliche Antwort: Richtig! Dito. Was ist los?

Hier ist mein ‹Ich›, und da bist Du. Hast Du auch ein ‹Ich›? Weiß ich nicht. Geht mich auch nichts an. Ist Deine Sache. Denn ‹Ich› bin ‹Ich›. Und Du bist für dich. So ist das. Ist es so? Nein, so ist es nicht! Denn ohne die Anderen, ohne ein Du, gäbe es das ‹Ich› gar nicht, denn ohne soziale Folie ist das ‹Ich› nichts! (Vgl. dazu das Kapitel 5 im ‹Bochumer Bericht Nr. 5›.)

Und natürlich ist das ‹Ich› offen und ehrlich. Damit ist gemeint, alles was diesem ‹Ich› aus dem Mund fällt, fällt dem ‹Ich› aus dem Mund, denn es mußte mal gesagt werden. Wahrheitsgehalt für das ‹Ich›? Vermutlich an die 100 %. Und wenn nicht? Ist nicht das Problem des ‹Ich›. Und wenn jemand anderes ein Problem mit diesem ‹Ich› hat, dann hat er eben ein Problem. Wen interessiert das? Niemanden. Das ‹Ich›? I wo. Der ‹Problemträger› kann das dem ‹Ich› sagen, nur, was verändert das? Das ‹Ich› bleibt ‹Ich›. Ach, herrlich! Das ‹Ich› ist fein raus. Das ‹Ich› macht, was es will. Die Welt da draußen wird spielend abgetrumpft. Der Rest, die «Umgebung», ist Kulisse, Staffage, Bühne. Es gibt überhaupt keinen sozial relevanten Raum mehr, nur noch einen ‹Ich›-Raum. Klar, nervend ist schon, daß dem ‹Ich› manchmal irgendwas im Wege steht, Wirklichkeit in sozialen Räumen eben, oder angetragene Gefühle, mein Gott, lästig, aber letztlich berührt es nichts und niemanden, das ‹Ich› läßt sich nicht berühren, kann nicht berührt werden, steht außerhalb aller Gemeinschaften, ist für sich. Das ‹Ich› bleibt ‹Ich›, zur Not helfen auch mal Pillen. ‹Ich› empfinde. Wer?

Lieber Leser, liebe Leserin, glauben Sie an die pervasive Existenz so vieler ‹Ichs›? So vieler Luftgitarren-‹Ichs›? Tja, ich befürchte, je weniger ‹Ich› vorhanden ist, je weniger ‹Ich› empfunden wird, desto mehr wird es behauptet und verteidigt. Wer ein ‹Ich› hat, irgendwo, tief drinnen, unter der Oberfläche, unsichtbar, kann gelassen und ruhig sein. Wer keins hat, muß ständig davon reden und aufgeregt sein.

Sie sprechen klumsige Worte aus der Zentralrede des ‹Ich› nach und erwerben damit ihre wohlfeile Identität von der Stange. Das beruhigt. Sie gehören dazu. Sommerschlußverkauf des ‹Ich›-Wortes. Winterschlußverkauf der Sätze, die mit ‹Ich› anfangen. «Ich will ich sein, anders will ich nicht sein?» Eine Anspruchsunverschämtheit.

Soviel «Ich» war nie, und gleichzeitig so wenig!



Ins Netz gestellt am 25. Juni 2013
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