BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche»
von Henriette Orheim
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Ist sie nicht interessant, unsere Zeit? Die Deformierungen der final-kapitalistischen Gesellschaft brüten Überlebensformen aus, die wir uns noch vor einer Dekade in unseren unverblümtesten Träumen nicht ausmalen konnten. Neugierig blicken wir auf die immer kürzer werdende Abfolge der ‹Ich›-Generationen und sehen eine um die andere unserer Hoffnungen schwinden. Versprach uns das globale Dorf in seinen Anfangsstadien ‹Ich›-Bereicherungen durch neue Formen des Daseins und neue Formen des Austauschs, so konstatieren wir heute – auf der Schwelle zur digitalen Implosion – desubjektivierte Telepräsenz-‹Ichs›, die sich bedingungslos Talkshows und Chatrooms ergeben (vgl. dazu den Essay Die schlimmste Lichtquelle der Welt). Den Endsieg der neokapitalistischen Warenwelt markiert dabei die mediale Auflösung der Klassenschranken. Proletarier und Geldadel sitzen im gleichen spektaklistischen Boot und adorieren Formate des Trash (vgl. Abschied von der Arbeiterklasse).

So haben sich die Netzwerkideologien der 80er und 90er Jahre auf eine fatale und höchst desillusionierende Weise bewahrheitet. Der haltlose Konsumnachwuchs vernetzt sich in der Markenwelt durch Linklisten, E-Mail-Verzeichnisse und gespeicherte Handynummern. Das ‹Ich› ergibt sich in der Postmoderne aus der Summe aller Passwörter, aller E-Mail-Adressen und aller Pseudonyme in den Chatrooms. Das ‹Ich› wird zum Insgesamt der Benutzerprofile eines einzelnen Menschen. So viel ‹Ich› war nie! Wirklich?

Oder verliert sich das ‹Ich› in dem ungezügelten Austausch von Nichtigkeiten zwischen sinnentleerten Beziehungsknoten und Benutzerprofilen? Müssen wir nicht vielmehr fürchten, daß keine integrative Ebene, keine Selbstreflexivität die Fragmente der Person, die Identitätsflicken mehr zusammen hält? Und muß die durch den Waren- und Kommunikationskonsum definierte Existenz nicht deswegen so überdeutlich zur Schau gestellt werden, da immer mehr Menschen immer weniger bei sich sind? Die Oberfläche ist wichtig: Die Oberfläche der Kleidung und die Oberfläche der Haut. Die Oberflächen.

Zunächst zur Kleidung, zum ‹Outfit›: Kleidung war zu allen Zeiten eine entscheidende Variable demographischer Fremd- und Selbstsegregation. Es kommt aber in der Postmoderne einiges dazu, denn die ohnehin illusionäre Grenze zwischen Konsumenten und Warenwelt ist endgültig verwischt. Ein ‹Ich› steht heute der Warenwelt nicht mehr fassungslos gegenüber, es ist Teil der Warenwelt geworden, es ist selbst Ware. Identität und Konsumorientierung sind austauschbare Begriffe geworden. Nichts ist heute einfacher als Produktplazierung am Körper des ‹Ich›. Der Markenname am ‹Ich› ist sichtbar. Das ‹Ich› ist Werbefläche. ‹Ich› und Marke werden eins. Markennamen oder Konsumpräferenzen werden auf der Brust des ‹Ichs› herumgetragen. Wer kann es sich leisten, keinen Firmennamen mit sich herumzutragen, ja selbst der Firmenname zu sein? Wird das ‹Ich› zum Markenmix? Ja. Na und? Muß doch jeder selbst entscheiden. Tja wenn es eine Eigenbewegung wäre. Aber wer glaubt schon daran?

Nun zur anderen Oberfläche, der Haut. Lieber Leser, liebe Leserin, begleiten Sie mich auf einem kleinen Spaziergang durch die Einkaufsmeile einer Großstadt. Und sehen wir uns junge Menschen an. Was sehen wir, über den allfälligen Markenmix der angesagten Kleidung hinaus? Richtig: Viele kleine Metall-Applikationen, Klammern und Durchstechungen aller Art, in Augenbraue, Nase, Ohr und Lippe. Auch in der Zunge? Klar. Dann sehen wir auch noch Tätowierungen aller Art. Die Konstruktion einer Benutzeroberfläche des ‹Ich› scheint heute überaus aufwendig zu sein. Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche?

Da fällt mir eine der schönen Geschichten ein, die Artus ab und zu erzählt: Etwa Ende der 80er Jahre blickten alle Microsoft-Anwender (also – wie heute – fast alle Computer-Benutzer) neidvoll auf die Atari-Gemeinde. Die produzierte nämlich wunderschöne Ausdrucke von Briefen, Handouts, Graphiken und Formeln, direkt vom Bildschirm in den legendären Drucker NEC P6. Und das Prinzip bei Atari hieß: WYSIWYG. Auf Deutsch: What You See Is What You Get! Was auf dem Bildschirm zu sehen war, wurde als Replika-Modell auf den Drucker übertragen. Toll. Und die Microsoft oder DOS-Gemeinde wurstelte zu jenen Zeiten mit irgendwelchen Zeichensätzen herum, die irgendwo in den Druckern waren. Und die DOS-User sahen nicht fröhlich aus, wenn sie sich die Atari-Ausdrucke betrachteten. So sprach Artus.

Und als ich über So viel ‹Ich› war nie nachdachte, fiel mir mit einem Mal diese alte schöne Geschichte wieder ein. Das war es! Endlich hatte ich eine schöne Metapher für das, was heute Kleidung, Styling und Dauer-Hautverletzungen zur Oberflächen-Konstruktion des ‹Ich› beitragen.

Stellen wir uns ganz schnell eine aufgebrezelte Pop-Ikone der Gegenwart vor – nennen wir sie mal der Einfachheit halber «Verona F.» – und sofort ist uns klar, daß das WYSIWYG-Prinzip hier voll greift: Alles, was «Verona F.» zu bieten hat, ist sofort sichtbar. Sie ist ihre Benutzeroberfläche. Sonst nix. Es gibt keine Geheimnisse, keine Tiefenstruktur, nichts Unergründliches, nichts Verborgenes. Vielleicht sind im Moment ihres Anblicks ein paar sekundäre Geschlechtsmerkmale noch nicht vollständig enthüllt und das anwesende Männer-Publikum brüllt so zu Recht etwas von «Ausziehen! Ausziehen!» Das kann sein, das liegt daran, daß sie und ihre Benutzeroberfläche eins sind. Wer sich mit ihr «einläßt», weiß was ihn erwartet: «Hier werden Sie geholfen!» What You See Is What You Get! Mehr ist nicht drin. Das postmoderne ‹Ich› macht sich sichtbar, endgültig, zweifellos, verzweifelt, ohne Überraschung. Und ganz ehrlich, lieber Leser und liebe Leserin, den meisten ebenfalls aufgebrezelten postmodernen Männern würde genau die oben beschriebene Benutzeroberfläche völlig genügen, als Vorbild oder Objekt des Begehrens. Denn Sprechen gehört nicht zur Oberfläche, nur das Aussehen, das Styling. Gut, vielleicht noch Geräusche machen, aber Sprechen? Nein. Sprechen? Worüber denn?

Die Computermetapher trägt also ganz gut: In der Moderne mußte man geheimnisvolle Codes eingeben, um das Innenleben eines Computers anregen zu können. Und in Romantik und Moderne waren – nicht nur im rekursiven Spiel des Begehrens, des Nahens und Fernens – geheimnisvolle soziale Codes notwendig, um hinter die Camouflage, hinter die Versteckspiele eines ‹Ich› schauen, ja um das ‹wahre› Gesicht eines ‹Ichs› gewahren zu können oder zu dürfen. Heute ist alles schon zu sehen. Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche, das ‹Ich› als sein eigener Bildschirm.

Denken wir noch ein wenig weiter nach mit Hilfe dieser aus Artus' Erzählung erwachsenen schönen Computermetapher. Versuchen wir einige kleine Anwendungen:

Werfen wir mal einen Blick auf Anna Wiesengrunds in der U-Bahn sitzende Maskenmenschen: Eine Maske ist eine Maske, wenn sie etwas verhüllt, und sie setzt ein Gesicht voraus. Welche Gesichter stecken hinter der postmodern gestylten Maske? Was steckt hinter der gezeigten Oberfläche? Lieber Leser, liebe Leserin, Sie müssen jetzt sehr stark sein: Nichts! Die Maske ist das Gesicht. What you see is what you get. Das war's schon.

Und deklinieren wir das, was Helmut Hansens Erzürnung über die derzeitige kulturelle Konstruktion von Sexualität (vgl. ‹Guter Sex›) erregte, ja malen wir uns das noch ein wenig aus: Sex in der Postmoderne als das Aufeinanderprallen zweier Benutzeroberflächen, überall Klammern, Tätowierungen, Hautverätzungen und -letzungen. Schön? Ist Sex nur noch als Experiment in einem SM-Labor denkbar? Helmut! Bitte schreib' was dazu! Laß uns jetzt nicht im Stich!

Und dann fällt mir wieder der schon weiter oben erwähnte sehr dunkle Essay von Albertine Devilder über den Abschied von der Eigenbewegung ein. Wenn Jetztmenschen schon keine Eigenbewegung mehr zeigen, dann wenigstens Oberfläche? Könnte sein. Und glauben sie dann auch noch ganz fest daran, daß sie durch den heroischen und schmerzhaften Akt der Benutzeroberflächenkonstruktion Eigenbewegung gezeigt haben? Ja? Wirklich? Ach, das Leben, so traurig!

Finale: In der Romantik (vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 11 und den Essay So viel ‹Ich› war nie) hatte ein ‹Ich› eine Tiefenstruktur, ein Geheimnis, ein Sehnen, Unerklärliches, Rätselhaftes: Was wir sahen, war allerhöchstens die Spitze eines Eisberges. Eine wunderschöne Vorstellung. Ob es so war? Ach, laßt uns träumen! Und in der Moderne hatte ein ‹Ich› eine Positionswürde, eine Respektabilität, die in aller Regel auf einer (formalen, nicht wirklichen) Ausbildung, auf Wissen und Erfahrung beruhte. Und in der Postmoderne? Das ‹Ich› zeigt Oberfläche! Kein Eisberg weit und breit! Das ‹Ich› als flächige Eisscholle. Alles sichtbar! Das ‹Ich› wirbt für sich selbst, es ist sein eigenes Werbeplakat, sein eigenes Werbe-Video. Zweidimensional. Und dies bedeutet: Das ‹Ich› ist Inszenierung. Das ‹Ich› ist Veranstaltung. Das ‹Ich› sieht sich als Objekt, welches meistbietend zu verkaufen ist (vgl. Surfen und Sich-Selbst-Verkaufen). Das ‹Ich› als einzigartige, individuelle und unter Schmerzen gestaltete Benutzeroberfläche, als Showroom, als Austellungszone, als Messestand auf der täglichen ‹Ich›-Messe, als Wirtschaftsstandort, als Kampfzone, ja als Standortvorteil, wenn es denn entsprechend aussieht. Alles klar?

Paul Valéry sagte einmal: «Nichts ist so unergründlich, wie die Oberflächen.» Ich aber sage euch: «Nichts ist so ergründlich, wie die Oberflächen.»



Kommentare:

18. April 2001
Liebe Henriette,
gestern nachmittag mußte ich wirklich ordentlich lachen. Ich hatte es mir schön gemütlich gemacht, Schulaufgaben fertig, bißchen Radio hören und im Internet rummachen. Und jetzt stell' Dir vor: Ich hatte gerade «Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche» gelesen und war dann bei Deinem «So viel ‹Ich› war nie». Ich war sowieso schon ziemlich lustig, denn ich stellte mir gerade meine bekanntesten Ich-Sager vor und überlegte mir einige Bosheiten, die ich beim nächsten Mal unterbringen könnte, da auf einmal, genau am Dienstag, den 17. April 2001, um 16:50, singt plötzlich eine Frau im Radio genau dies hier: «I am what I am and I do what I want». Na, ist das nichts? Ich habe mich abgelacht. Und da ich den Song nicht kannte und gerade sowieso im Internet war, guckte ich schnell in der Playlist des Senders nach: Die Sängerin heißt also ‹Dido›, das Album ‹No Angel› (Moment, kommt mir irgendwie bekannt vor, ach ja, No Angels, die neue TV-Retortenband; nebenbei: sind Frauen heute keine Engel mehr? Henriette, das ist ein Thema für Dich!!) und das Stück heißt ‹Here with me›. So weit ich mit meinem billigen Englisch den Text verstanden habe, wiederholt sie unverdrossen «I am what I am and I do what I want», aber gleichzeitig jämert sie herum, daß ‹Er› nicht bei ihr ist. Ts ts ts.
Grüße von Kim
(Angel)
P.S.: Deine Artikel gefallen mir ziemlich gut. Bild Dir aber darauf bloß nichts ein!



Erstellt: 25. März 2001 – letzte Überarbeitung: 18. April 2001
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