BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die traurigsten Augen...»
von Bethchen B.
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Ich muß in die Stadt, muß dort allerlei erledigen und besorgen. Und da es gerade sehr regnet, gehe ich nicht zur U-Bahn-Station, sondern zur etwas näher gelegenen Bushaltestelle, einem kleinen Glaskasten, mit drei Wänden und einem Dach. Zwei Wände sind immer mit großflächigen Plakaten versehen, auf denen meistens mehr oder weniger bekleidete Models für Hennes & Mauritz posieren. Aber ich achte nicht darauf. Ich warte auf den Bus – und träume.

Plötzlich, ich habe schon eine ganze Weile auf eines dieser großen Plakate geschaut, sehe ich erst, was dort in großen Buchstaben steht: «Mittags krieg ich Hunger. Auf Sex». Ich blicke auf den unteren Rand des Plakates und sehe, daß es sich hier um die Werbung für eine Artikel-Serie («Neue Geschichten aus dem Bettkästchen») in der größten Schmierlappenzeitung des Landes handelt. Und wem werden die Worte «Mittags krieg ich Hunger. Auf Sex» in den Mund gelegt? Es ist (natürlich) eine Frau, sie ist (natürlich) blond, sie ist (natürlich) jung, sie hat (natürlich) nichts an, und ihre langen blonden Haare verdecken soeben ihre Brust. Das allerdings ist ‹unnatürlich›.

Ich schaue dieser jungen Frau ins Gesicht, ja, ich starre sie geradezu an. Es geht nicht anders. Ich bin absorbiert. Und da fällt mir ein, daß ich vor ein paar Tagen in einer Zeitung etwas über diese Plakatserie gelesen habe. Abgeordnete der‹Grünen› beschwerten sich wohl über das ‹Frauenbild›, welches diese Zeitung – ihrem Ruf gerecht werdend – hier propagiere: Allen Menschen – und insbesondere allen Männern – werde mit diesen Plakaten wieder einmal zu verstehen gegeben, daß junge Frauen Sex wollten, immer, und immer öfter, also auch des Mittags. Und dann fällt mir noch eine Glosse in einer anderen Zeitung ein, in der sich ein männlicher Schreiber darüber lustig machte, daß die ‹Grünen› – mal wieder – Anstoß nähmen an ein paar unzureichend bekleideten Frauen, was doch – mal wieder – nur zeige, wie verklemmt etc. etc. Und wieder einige Tage später werde ich in einer Zeitung lesen, daß der «Deutsche Werberat» – das Selbstverwaltungsgremium der Werbewirtschaft – auf zahlreiche Beschwerden hin sich dazu durchrang, keine Rüge für diese Plakatserie auszusprechen. Ist klar, das ist unsere Zeit. Keine Tabus mehr. Alles geht.

Der Bus kommt nicht und ich stehe immer noch vor dem Plakat. Ich gehe etwas näher heran. Ich bin auf Augenhöhe. Ich schaue der jungen Frau direkt und gerade ins Gesicht, und sie blickt zurück. Wie sieht sie eigentlich aus? Ich zucke zusammen, darauf habe ich bis jetzt gar nicht geachtet. Ich war so gebannt von ihren Augen. Aber jetzt prüfe ich ihr Gesicht und bin enttäuscht. Sie hat das in diesen Zeiten zu erwartende Standardgesicht: Ungebildet, billig, ohne Spuren gedanklicher Anstrengungen. Ist es die Stellung der Augen, die mir das zeigt? Ich weiß es nicht. Aber sie sieht aus, wie ihr großes Vorbild: Verona F., der «Wirtschaftsfaktor». Ja, sie sieht aus wie all' die blonden Stars in den täglichen Soaps: Eine, keine, hunderttausend.

Sie schaut mich weiter an, als wüßte sie, daß es jetzt um ihr Aussehen gehe, nur um ihr Aussehen. Sie schaut mich an, als wüßte sie, daß ihr Aussehen, allein ihr Aussehen, ihre Chance, ihre einzige Chance ist. Sie weiß, daß sie nichts weiß oder kann, sie weiß, daß sie nichts wissen oder können muß, sie weiß, daß sie aussehen muß. Und sie weiß, daß sie so tun muß, daß sie öffentlich so tun muß, als würde ihr Geschlechtsverkehr mit Männern Spaß machen. Auch Mittags. Das ist ihre Chance. Sie muß schön aussehen, und sie muß Geschlechtsverkehr mit Männern ganz toll finden, dann wird alles gut. Ich stelle mir vor, welche Aufregung, welch' verzweifelt-zynisches Theater sie spielen wird, wenn sie tatsächlich mit einem Mann schläft, von dem sie eine ‹Verbesserung› ihres Lebens, eine Zukunft erwartet. Sie hofft, sie zweifelt, sie hofft, sie wünscht sich so sehr, ein ‹schönes› Leben zu führen und ‹berühmt› zu werden. Was versteht sie wohl darunter, ein ‹schönes› Leben zu führen und ‹berühmt› zu sein? Ich bin mir ganz sicher: Sie wüßte, was sie zu tun hätte. Sie kann es täglich betrachten. In fast allen Formaten. Sie wüßte, was sie zu tun hätte, wenn sie ein ‹schönes› Leben zu führen und ‹berühmt› zu sein hätte. Und das macht mich unvermittelt zutiefst traurig.

Es regnet immer noch, doch mittlerweile ist der Bus gekommen, auf den ich gewartet habe. Seltsamerweise steige ich nicht ein, obwohl der Bus nur für mich gehalten hat. Der Busfahrer schließt ärgerlich und mit einem bösen Blick auf mich wieder die Tür. Aber ich habe schon wieder nur Augen für diese junge Frau auf dem Plakat: «Mittags krieg ich Hunger. Auf Sex». Nein, sie sieht nicht so aus, als würde sie einmal, irgendwann, je einmal Erfolg haben; sie wird niemals den in unserem Land so angesehen Beruf eines Luders ausüben. Und plötzlich sehe ich, daß sie weiß, daß sie enttäuscht, daß sie nicht glücklich werden wird. Sie schaut mich an: Kalt, lauernd, auffordernd, erbarmungslos, es ist der Blick einer Verliererin, nicht der einer Siegerin. Ich sehe es ihr immer deutlicher an: Sie traut sich nichts zu, außer sich auszuziehen und den Geschlechtsverkehr mit für sie wichtigen Männern zu dosieren. Ich sehe ihr auch an, daß sie weiß, daß das nicht ausreicht, um ein ‹schönes› Leben zu führen und ‹berühmt› zu sein. Hat sie deswegen diese Kälte im Blick?

Weiß sie überhaupt, daß sie hier – auf diesem Plakat abgebildet – erscheint? Oder ist sie gezwungen, getrieben, erpreßt worden zu diesem Foto? Ich muß über mich lachen. Was bin ich doch unheilbar romantisch. Diese junge blonde Frau soll zu solch' einem Plakat gezwungen worden sein? Oh nein, das bestimmt nicht. Wenn die größte Schmierlappenzeitung des Landes ein Casting veranstaltet, mit der tollen Karriere-Perspektive, unbekleidet und mit dem Satz «Mittags krieg ich Hunger. Auf Sex» auf einem Werbeplakat erscheinen zu dürfen, würden zehntausend Bewerberinnen alles überrennen, was sich ihnen in den Weg stellt. Mütter würden ihre minderjährigen Töchter anschleppen und ausliefern. Denn das wäre ja endlich ein Lichtblick für alle, die ohne Hoffnung im Schatten leben und die in ihrem sozialen Raum geistig so nachhaltig mißhandelt und mißbraucht wurden, daß sie sich über ihre eigene Zurschaustellung nur freuen könnten. Ja, stolz würden sie sein!

Aber vielleicht weiß die junge Frau auch gar nicht, daß sie auf tausenden Plakaten im Lande vorgeführt wird? Vielleicht hat man ihr Bild einfach aus einem Archiv gezogen? Oder man hat sie belogen, ihr Versprechungen gemacht, und andere bereichern sich nun daran, daß gerade ihr Foto es auf die vielen tausend Plakate geschafft hat? Andere schöpfen den Mehrwert ab, den ihr ‹Aussehen› produziert? Könnte sein.

Es hört plötzlich auf zu regnen, und die Sonne bricht durch. Ich gehe ein paar Schritte zurück in den Park neben der Bushaltestelle und setzte mich mit meiner Regenjacke auf eine kleine Mauer. Ich sehe immer noch die junge Frau auf dem Plakat an. Da kommen zehn oder zwölf Kinder – vielleicht zehn Jahre alt – mit ihren Schultornistern von der anderen Straßenseite auf die Bushaltestelle zu. Sie albern herum, sie schubsen sich, freundlich und übermütig. Ich beobachte sie ganz genau. Werden sie auf das Plakat gucken? Nein, obwohl sie genau darauf zugehen, es eigentlich sehen müßten, schauen sie nicht hin. Sie sind mit sich und ihren Freunden und Freundinnen beschäftigt. Sie lärmen, sie lachen, sie sind glücklich, daß die Schule vorüber ist.

Da fällt mir ein, wie ich vor einigen Wochen lachen mußte, als ich am Zeitungsstand die Titelseite der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes sah. Unter der wie üblich auf der unteren Titelseite plazierten nackten jungen Frau stand eine fette Überschrift: «XY fordert: Sextäter härter bestrafen!» Und daneben war dann das Foto des christlichen Politikers, der diese Forderung erhob. Es war zu köstlich. Nicht nur, weil es so aussah, als würde der christliche Politiker auf die über ihm plazierte nackte Frau schielen. Sondern weil ausgerechnet die Zeitung, die mit einem «Mittags krieg ich Hunger. Auf Sex» möglicherweise alle Sexualstraftäter im Lande zu weiteren Straftaten anregt, fordert, eben diese Straftäter für ihre Straftaten härter zu bestrafen. Schon bei geringfügigem Nachdenken zeigt es sich, daß die Schmierlappenzeitung vermutlich genau den Geist produziert, auf den sich Sexualstraftäter berufen: Sie macht Frauen zu Objekten, sie stellt sie zur Verfügung, sie wirbt damit, daß Frauen genau das wollen, was Sexualstraftäter mit ihnen dann auch tun werden: «Mittags krieg ich Hunger. Auf Sex»

Die Sonne verschwindet hinter neuen Regenwolken. Mir ist kalt geworden auf der Mauer. Ich stehe auf und gehe wieder zurück zur Bushaltestelle, zurück zu dem Plakat. Ich gehe ganz nahe heran, wirklich ganz nahe, und betrachte mir noch einmal die Augen der jungen Frau. Auch sie sieht mich wieder an. Ungerührt. Und da erschrecke ich, denn plötzlich habe ich den Eindruck, daß sie versucht, selbst auf diesem Plakat ihre Würde zu bewahren. Sie will in dem, für das sie wirbt, glaubwürdig erscheinen. Sie will ihre Ehre retten. Sie will das ‹gut› machen, was sie machen soll. Und dann sehe ich, daß ihre Augen weder kalt noch lauernd noch auffordernd noch erbarmungslos sind, sondern zutiefst trostlos und traurig. Es sind die traurigsten Augen, die ich je gesehen habe.



Kommentare:


20. November 2002

Sehr geehrte Frau B.,
Ihr Artikel war gut zu lesen, er war nur, mit Verlaub, ein bißchen zu besinnlich, geradezu adventlich.
Ich möchte das lieber strukturell angehen: Diese Frauen sind Zahnarzthelferin, Azubi und Tänzerin – den Beruf der vierten Frau in dieser Artikel-Serie gibt die «Zeitung» nicht preis. Diese Frauen wissen, daß sie sich den Traum vom «guten Leben» – was ja wohl in ihren Augen vor allem Geld bedeutet – selber nicht verwirklichen können. Also setzen sie alles auf diese eine Karte – hübsches Gesicht, sexy Figur –, und sie spielen die Karte so früh wie möglich aus.
Das einzige Fazit, das ich daraus ziehen kann, als Akademikerin und Mutter von zwei Töchtern: Ja keine Kürzungen im Bildungsbereich, verstärkte Frauenförderung an den Universitäten und familienfreundlichere Arbeitszeiten. Alles, was eben Geld kostet!
Ich glaube, daß diese Kampagne erst jetzt, in der Rezession möglich geworden ist: Frauen werden verstärkt in die Küche, bzw. ins Bett abgeschoben um die kostbaren Arbeitsplätze für Männer zu erhalten.
Mit freundlichen Grüßen
Ulla S.



Erstellt: 14. November 2002 – letzte Überarbeitung: 20. November 2002
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