BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Kultur ist Reichtum an Erregung» [1] Der Titel dieses kleinen Traktates ist natürlich dem Aphorismus «Kultur ist Reichtum an Problemen» von Egon Friedell nachempfunden, den A.D. schon einmal im Text «Die Wahrheit über Männer und Frauen (1): Grundkurs» zitiert hat. Der Aphorismus ist in folgendem Buch zu finden: Egon Friedell (1992): Ecce Poeta. Zürich: Diogenes Verlag. Photomechanischer Nachdruck der 1912 im S. Fischer Verlag in Berlin erschienenen Originalausgabe. Seite 16.
von Helmut Hansen
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1. Einführung

Wir besuchen ein Fußballspiel im Ruhrgebiet. Mitte der zweiten Halbzeit rutscht ein Stürmer einem gegnerischen Verteidiger mit beiden Füßen von hinten in die Fersen. Der Verteidiger sackt zusammen. Und jetzt schauen wir nicht auf die Zuschauer, die ohnehin außer sich sind, nicht auf die beiden Mannschaften, die sich gleich – ‹Rudel› und ‹Rotten› bildend – wechselseitig anbrüllen und hin und her schubsen werden, auch nicht auf den Schiedsrichter, der sich – in einer seiner Hosentaschen nach einer Karte nestelnd – dem Ort des Geschehens eilends nähert, sondern auf die Trainerbänke, denn dort geschieht etwas ganz Erstaunliches: Das gesamte versammelte Personal auf beiden am Spielfeldrand stehenden Bänken springt im Moment des Ereignisses auf und brüllt, hopst herum und gestikuliert mit abwertenden Armschwüngen ins Spielfeld hinein. Was diese beiden Parteien damit meinen, ist ziemlich klar: Die Partei des Verteidigers erregt sich über das ‹brutale Foul› des Stürmers, die Partei des Stürmers erregt sich über die ‹Schwalbe› (hier die Vortäuschung einer Verletzung) des Verteidigers. Wir schauen weiter hin: Auf den Stürmer, der nach einer ‹roten Karte› das Spielfeld verlassen muß, und auf diesem Weg von der Partei des Verteidigers wüst beschimpft wird; und auf den Verteidiger, der außerhalb des Spielfeldes auf dem Boden liegend behandelt und dort von einer hinzu geeilten ‹Rotte› der Partei des Stürmers ebenfalls wüst beschimpft wird.

Ein Fußballspiel eben. Nur ein Fußballspiel? Oh nein, was hier geschieht ist symbolisch und prototypisch für ein prominentes und in und durch die Medien konstruiertes Segment unserer Kultur, welches sich an der psychischen Ausstattung und den geistigen Möglichkeiten des ‹kleinen Mannes auf der Straße› orientiert. Kultur ist Reichtum an Erregung? Könnte sein. Das schauen wir uns näher an.


2. Facetten der Erregung

Wir brauchen uns weder lange noch intensiv umzusehen, um beobachten zu können, was zu Beginn eines neuen Jahrtausends in unserem Lande geschieht. Denn in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› herrscht nicht nur im Fußball ein erregter Tonfall, oh, nein, die spektaklistische Kultur erzeugt diesen Gestus in vielen Winkeln. Dort empören und erregen sich Zeitinsassen. Und worüber sind sie empört und erregt? Über was auch immer. Egal. Da findet sich schon was. Da wird uns – so wir uns den Medien aussetzen – permanent etwas Neues empfohlen.

Schon das Privatfernsehen bietet in allen Formaten täglich die Gelegenheit, sich zu erregen. Aber es gibt noch andere unsägliche Medien: So wurden schon vor vielen vielen Jahren etliche Untersuchungen über die Publikationslogik der sogenannten ‹Boulevardzeitungen› gemacht. Was damals dabei herausgekommen war, läßt sich heute Tag für Tag auf den Titelseiten der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes betrachten und bewundern: Erregung für den ‹kleinen Mann auf der Straße›. Daran beteiligen sich – neben anderen ‹Boulevardblättern› – aber auch das erste Nachrichtenmagazin ohne Nachrichten («Fakten, Fakten, Fakten», gemeint ist «Meinungen, Meinungen, Meinungen»), eine «Zeitung für Deutschland», die einst vielleicht wirklich mal ein ‹seriöses› Blatt war, und eine Zeitung, die sich sinnigerweise die ganze Welt als Namen gewählt hat, um dann im Kleinen und Parteiischen, im Larifari zu ersticken.

In wüst zunehmender Weise drückt jede ‹Nachricht› in diesen Blättern und in den TV-Formaten nur eins aus: Erregung. In der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes wird in den Überschriften der Titelseite deswegen auch sehr gerne das Wort «Wut» gewählt, um den Stammlesern – also denen, die beim Lesen ihre Lippen bewegen müssen – schon allein durch diese Wortwahl klar zu machen, daß sie sich gleich erregen werden. Hier nur wenige Beispiele aus TV und Printmedien, Facetten der Erregung:

  • Die immer noch verbreiteten Talkshows und die neu hinzugekommenen Gerichtsshows können die Niveau-Nulllinie erstaunlicherweise täglich immer noch weiter nach unten schieben: «Heute verlasse ich Dich. Und hier neben mir sitzt meine Neue!» «Heute nehme ich Dir die Kinder weg, Du Schwein!»
  • Auch das sogenannte Infotainment im TV arbeitet erfolgreich an der Vaporisierung seiner Qualitätsstandards: «Warum darf dieser Sexualstraftäter frei herumlaufen?», «Dürfen Politiker lügen?», «Hat Boris eine Neue?»
  • In allen Medien gibt es Dauer-Bashing-Themen wie die Deutsche Bahn, die Deutsche Telekom oder die ‹Preise›.
  • Dann gibt es gezielte Kampagnen-Bashings, um unliebsame politische Parteien oder Politiker zu liquidieren. In Deutschland gehören unliebsame Parteien und Politiker selbstredend dem eher ‹linken› Spektrum an. Denn der ‹kleine Mann auf der Straße› ist rechts. Er hat das Herz auf dem rechten Fleck. Wo sonst?

  • Auch Veranstaltungen im öffentlichen Raum, die allein inszeniert werden, um einen Platz in den Medien zu erhalten, haben schon seit langem den Gestus der Erregung kultiviert. Bei Reden auf Parteitagen etwa brandet der meiste Beifall des auf Erregung bedachten ‹kleinen Mannes auf der Straße›, der halt mal zwischenzeitlich auch größere Räume aufsucht, gerade an den Stellen auf, an denen der politische Gegner ‹frontal› angegriffen, ja vor sich ‹hergejagt› und dann ‹gestellt› und als ‹Betrüger›, ‹Lügner›, ‹Täuscher›, ‹Trickser›, ‹Fälscher›, ‹Verbrecher› und ‹Dummkopf› ‹entlarvt› wird. Da jubiliert das ‹Parteivolk›. Ja, wenn der politische Gegner beleidigt, verspottet und entehrt wird, nimmt der Jubel gar kein Ende. Nur nebenbei: Ist es erstaunlich, daß gerade ‹christliche› Politiker und ‹christliche› Parteien sich an der Kultur der Erregung, an der erregten Diffamierung des politisch Anderen beteiligen? Nein. Das ist seit 1950 so (vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 5, Seite 8). Mindestens.

    Auch bei anderen Veranstaltungen wie ‹Anhörungen› oder ‹Bürgerversammlungen› gibt es – unabhängig von den Themen – immer dasselbe zu beobachten: Die völlige Erregung des ‹kleinen Mannes auf der Straße›. Er moppert, er mosert, er lehnt ab, er ist dagegen: «Mit mir nicht!» Oder: «Nicht bei mir. Lieber woanders!» (vgl. dazu den Artikel «Abschied vom ‹homo politicus›»).

    Und über die Inhalte der Erregung hinausgehend, wie ist der Tonfall? Nun, abgesehen davon, daß die Töne der Erregung sich immer gegen irgendetwas richten, daß immer irgendein ‹Ereignis› negativ gesehen wird, herrscht in den oben genannten Medien eine moralisierende und dabei buchstäblich entfesselte Sprache, ja, ein maßloser und geradezu apokalyptischer Ton. [2] Erich Hörl in der Süddeutschen Zeitung vom 19.11.2002, Seite 11. Dazu später mehr.

    Noch eins: Gibt es in den Erregungsmedien auch Zonen der Eutonie? Klar, gelegentlich. Die kleine Glosse vom Hund, der ergeben am Grab seines Herrn ausharrt. Da freut sich der ‹kleine Mann auf der Straße›. So hat er sich die Treue seines Hundes vorgestellt. Auch wenn er diesen schon vor langer Zeit nachts an das Gitter eines Tierheims band und verließ. Ging nicht anders.


    3. Die Psycho-Logik der Erregungskultur

    Wir haben mit der Beschreibung einer Szene eines Fußballspiels begonnen und dann unseren Blick auf den medialen Alltag gelenkt. Im folgenden schauen wir etwas genauer auf das Funktionieren der Erregungskultur: Wenn also irgendetwas geschieht, erregt sich jede Seite der am Geschehen Beteiligten und sieht sich (allein) im Recht. Ob Rudelbildung oder nicht, die vermeintliche ‹Benachteiligung› wird herausgebrüllt. Es gibt und es kann in einer Erregungskultur kein Nachdenken, keine Contenance geben, keine Fairneß, kein Abwägen, keine Empathie, kein Abwiegeln, kein Deeskalieren, kein Beschwichtigen, kein Sehen beider Seiten oder beider Interessen, kein Reflektieren, sondern nur eins: Erregung. Sofort. Instant. Was ist da los? Und warum? Und welche Konsequenzen hat das?

    Schauen wir zunächst auf die Inhalte, die die Erregung stiften: Wir haben oben schon gesehen, daß diese eigentlich gleichgültig sind. Nur oberflächlich hat das, wogegen der ‹kleine Mann auf der Straße› sich angeblich wendet, etwas mit seinem Leben zu tun. Nicht nur am Beispiel des Dauer-Bahn-Bashing läßt sich das sehr schön zeigen: Wird dort zum Beispiel ein neues Preissystem eingeführt, erwartet der ‹kleine Mann auf der Straße›, der ohnehin niemals mit der Bahn fährt, daß er, falls er einmal mit der Bahn fahren würden täte, selbstverständlich höchstens 25 % des regulären Tarifs bezahlte, sonst fühlt er sich betrogen. Sonst erregt er sich.

    Betrachten wir uns nun die Erregung selbst, den ungesteuert erregten ‹kleinen Mann auf der Straße›: Seine Physiologie ist beschleunigt, er glüht, er ist aufgebracht, ruhelos und angespannt – wie nach 60 Zigaretten. Er zeigt seine Erregung, jetzt, hier, sofort. Die Halbwertzeit seiner Erregung beträgt nur Stunden. Und nur mit größter Mühe und ständiger Dosiserhöhung (sprich: Verschärfung des Tonfalls) kann sie von einem einschlägigen Medium über Tage aufrechterhalten werden. Dann muß ein neues Thema her. Aber trotzdem, jetzt gerade ist er erregt und führt seine Aufbringung vor. Zu Recht. Meint er. Wird ihm nahe gelegt.

    Nun zu den eigentlichen Mechanismen der Erregungserzeugung. Sie wurden schon im Essay über «Die schlimmste Lichtquelle der Welt» skizziert: Es sind dies die Personalisierung allen Geschehens – die ‹Ursachen› hochkomplexer Vorgänge werden auf Personen, auf ‹Schuldige› attribuiert – und die Emotionalisierung – hochkomplexe Vorgänge werden auf Gefühligkeiten reduziert.

    Betrachten wir nun die Ästhetik der Erregung, die Ästhetik des ‹kleinen Mannes auf der Straße›. Sie besteht aus einer mit Schadenfreude verbundenen völlig aggressiven Subjektivität, aus einer totalen und dem Prinzip der Übertreibung folgenden Exaggeration, aus einer unbedingten und gnadenlosen Einseitigkeit und Parteilichkeit, und aus einer Freude an der Eskalation und am Echauffement! Und die auf Groll, Haß und Neid bauende Ästhetik der Erregung hält sich an eine aggressive Abwertung des ‹Anderen›, an Hohn, Spott, Häme, Herabwürdigung, Erniedrigung, Beschimpfung, Beleidigung, Verachtung. Wir können auch sagen, die Ästhetik der Erregung des ‹kleinen Mannes auf der Straße› entspricht der Ästhetik und Mentalität eines Skinheads: Die eigene – gewalttätige – ‹Rotte›, das eigene ‹Rudel› ist im Recht, per sozialer Definition. Diese prähumane Ästhetik – und damit Ethik – nimmt überhand. Heute. Denn der Verwahrlosung des gesprochenen Wortes folgt die Verwahrlosung der Tat. Noch einmal: Ist es nicht erstaunlich, daß sich heute gerade ‹christliche› Politiker und ‹christliche› Parteien an der Kultur der Erregung, an der erregten Diffamierung des politisch Anderen beteiligen?

    Welche Konsequenzen die Ästhetik der Erregung hat, die dem ‹kleinen Mann auf der Straße› in den Medien immer wieder als seine angeblich ureigenste Erregung vorgeführt wird, läßt sich derzeit am öffentlichen politischen Diskurs gut verfolgen, nicht nur auf den oben erwähnten Parteitagen: Der politische Gegner ist das Fremde, das Unverstehbare schlechthin. Symbolisch gesehen wird der politische Gegner heute in eine xenophobische Tradition eingereiht und als ‹Schwarzer›, als ‹Neger› dargestellt. Und da muß der ‹kleine Mann auf der Straße› in seiner rottengestählten ‹Ich›-Herrlichkeit schon mal seinen Schäferhund loslassen, damit dann da eine Ordnung entsteht. Beim Anderen, Fremden, das nicht so ist, wie man selbst.

    Und das alles zusammen genommen ist natürlich eine perfekte Einübung in den Chauvinismus, wenn wir diesen ganz ursprünglich als übersteigerten Patriotismus, als übersteigertes Selbstwertgefühl eines Einzelnen, einer ‹Rotte› oder einer politischen Partei verstehen wollen. Und es ist ein Training in Ethnozentrismus, in dem eine soziale Gruppe sich immer als die einzig normale, anständige, saubere ethnische Gruppe, ja als das schlechthin ‹Normale› sieht. Und die andere soziale Gruppe – ‹Rot/Grün› zum Beispiel – kann in der Rottenlogik nur der Inbegriff des ‹Unnormalen› und ‹Unanständigen› sein. Da wird der ‹kleine Mann auf der Straße› dann schon mal zum Gartenlaubenfaschisten, zum Berserker. Jawohl. Soll er ja auch. Denn die Erregungskultur versucht, einen ‹Volkswillen› zu erzeugen, um sich dann auf ihn berufen zu können. Und im ‹Volkswillen› vereint erregen sich die ‹anständigen› Menschen im Volke und rufen: «Wir haben sie nicht gewählt!»

    Wenn wir uns ansehen, was so den ganzen Tag in den Medien geschieht, dann verstehen wir, daß die Erregungskultur in ihrem «verantwortungslosen Reden» «Züge demokratischer Verwahrlosung» und «rhetorischer Hemmungslosigkeit» zeigt. [3] Erich Hörl, ebenda. Der ‹kleine Mann auf der Straße› wird permanent dazu angehalten, ein Defätist, ja ein politischer Rassist zu sein, bis zur Halskrause angefüllt mit Ressentiments, ja so an-, ab- und aufgefüllt, daß er des öfteren von seiner Erregung in eine Hyperventilationstetanie gerät und die Besinnung verliert. Und weit und breit kein hilfreicher Geist, der dabei etwas ordnen oder retten könnte. Das soll so sein.

    Noch ein Wort: Wer ist der ‹kleine Mann auf der Straße› überhaupt? Gibt es ihn ‹wirklich›? «Arbeitet er bei Post und Bahn oder irrt er arbeitslos durch die Welt? Erfreut er sich bescheidenen Wohlstandes oder stöhnt er unter Schuldenlast?» [4] Joachim Riedl in der Süddeutschen Zeitung vom 22.11.2002, Seite 15. Die Antwort ist recht klar: Wir müssen uns den ‹kleinen Mann› an sich als Österreicher [5] Joachim Riedl, ebenda. vorstellen. Denn der war schon immer der bessere Deutsche.


    4. Schluß

    Warum müssen es alle Angehörigen unserer Kultur ertragen, daß Auseinandersetzungen in den verschiedensten Bereichen unseres sozialen Lebens mit der Ästhetik des ‹kleinen Mannes› ausgetragen werden? Der ‹kleine Mann auf der Straße› bildet doch nicht die Mehrheit! Und doch: Die visuellen Medien, die einschlägigen Zeitungen und einige politische Parteien haben seine Erregungsästhetik aufgesogen und übernommen, ja sie leben geradezu davon, sie prosperieren. Und sie tun alles, damit der ‹kleine Mann auf der Straße› erregt bleibt! Nur: Die Erregung führt zu nichts, sie soll und darf ja auch zu nichts führen. Es wird auch kein Ausweg aus der Erregung aufgezeigt, kein Ziel eines Bedachts entworfen, kein Gedanke an ein Nachher verschwendet. Denn die Medien in der Gesellschaft des Spektakels müssen den ‹kleinen Mann auf der Straße› erregen, aber nicht aufklären, um die Straßen weiterhin frei zu halten. [6] Guy Debord (1996): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat. Dabei ist der ‹kleine Mann auf der Straße› schon seit langem nicht mehr ‹auf der Straße› gewesen. Denn er ist doch nicht blöd, er sitzt – vereinigt mit den Proletariern aller Länder – vor seinem Fernsehgerät (vgl. Albertine Devilders schönen Essay «Abschied von der Arbeiterklasse»).

    Das letzte Wort, von Karl Kraus: «Die Welt ist taub vom Tonfall. Ich habe die Überzeugung, daß die Ereignisse sich gar nicht mehr ereignen, sondern daß die Klischees selbsttätig fortarbeiten. […] Die Sache ist von der Sprache angefault. Die Zeit stinkt schon von der Phrase.» [7] Leider hat unser treuester Sachbearbeiter Artus P. Feldmann trotz intensivster Suche dieses Zitat nicht in der «Fackel» wiedergefunden. Deswegen zitiere ich nach folgender Quelle: Karl Kraus (1986): Aphorismen. Sprüche und Widersprüche – Pro domo et mundo – Nachts. Schriften von Karl Kraus. Herausgegeben von Christian Wagenknecht. Band 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. (suhrkamp taschenbuch Nr. 1318.)



    Kommentare:


    28. November 2002

    Helmut,
    da habe ich schnell eine Anekdote parat, die leider zeigt, das sich der Erreger der Erregung weit über die Menschen hinaus ausbreitet, die beim Lesen die Lippen bewegen müssen. Ich begebe mich derzeit regelmäßig an eine Universität im Ruhrgebiet, wo ich Kontakt zu Senioren habe, die sich dort weiterbilden. Gestern begrüßte mich einer der älteren Herren mit der aktuellen Studentenzeitung in der Hand, in der eine junge Studentin auf einer ganzen Seite gegen die ca. 180 Seniorenstudenten hetzt, und sie mehr oder weniger als Hauptverantwortliche für schlechte und überfüllte Veranstaltungen identifiziert. Und damit wären diese natürlich auch ‹Schuld› an den längeren Studienzeiten der ca. 20.000 ‹normalen› Studierenden. Die Arme, die das geschrieben hat, hätte mir in ihrer Idiotie fast leid getan, hätte sich nicht an ihr ein urdeutsche Verhaltensmuster gezeigt: «Zukunftsangst fressen Seele auf», und die Sicherheit versprechende Rotte schafft sich außerhalb derselben ihren Sündenbock, den zu zerfleischen zumindest ein wenig vom eigenen Elend ablenkt.
    Stefan

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    4. Dezember 2002

    Lieber Helmut,
    Dein Artikel über «Kultur ist Reichtum an Erregung» hat mir gut gefallen. Ich finde, daß der eklige Zynismus deutlich geworden ist, mit dem in unserer ‹Gesellschaft des Spektakels› der «kleine Mann auf der Straße» täglich dazu verführt und angehalten wird, unter allen Umständen den «kleinen Mann auf der Straße» zu geben, ohne sich allerdings auch wirklich «auf die Straße» – als Symbol für klassenbewußte, revolutionäre, die eigene Lage umwälzende Aktionen – zu begeben. Das klappt schon recht gut bei uns. Der «kleine Mann auf der Straße» ist heute ohne Bewußtsein, ohne Verantwortung einer Pólis gegenüber, ja, selbst ohne Anstand. Er kämpft um sein Überleben. Und das Kapital sagt ihm, daß dieser Kampf darin besteht, erregt zu sein. Und das Kapital gibt ihm die Themen, an denen er seine Erregung proben kann. Und der Trick: Die Erregung läßt sich so geschickt auf diejenigen lenken, die seine unerfreuliche «Klassenlage» nicht verursacht haben.
    Ich will es mal so sagen: Der derzeitige Kapitalismus ist wirklich am Ende. Er hat ausgespielt. Damit der «kleine Mann auf der Straße» aber dies nicht ahnt, muß er täglich von denjenigen verarscht und erregt werden, die seine «Lage» permanent verschlechtern. So erscheint es auch völlig plausibel, daß im Endzeit-Kapitalismus ein Regierungschef in Europa gleichzeitig im Besitz der wichtigsten TV-Anstalten ‹seines› Landes ist. So muß das sein. Und wenn das nicht so ist, dann müssen wenigstens die Posten der Nachrichtenchefs und der wichtigsten ‹Programmgestalter› von Leuten aus der eigenen Rotte besetzt werden. Wie in unserer Republik. Das paßt schon alles zusammen. Was ich aber besonders lustig finde, ist noch dieses kleine Wortspiel: Der «kleine Mann auf der Straße» ist ‹tatsächlich› ganz oft ‹auf der Straße› – in seinem kleinen Autostabil, im Stau. Und da erregt er sich über all' die anderen «kleinen Männer auf der Straße», die in ihren Autos – völlig unberechtigt – mit ihm, neben ihm, ebenfalls auf der Straße stehen – und ihm, ihm ganz persönlich, den Platz, seinen Platz auf der Straße streitig machen.
    Wegnehmen. Lustig? Ja.
    Rainer



    Erstellt: 26. November 2002 – letzte Überarbeitung: 4. Dezember 2002
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