BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«'…und raus bist Du!' - Ein kulturphysiognomischer Blick auf ein populäres TV-Format» von Bethchen B. & Edna Lemgo
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Einführung

TV-Formate, in denen nur einer [1] Von unseren Überzeugungen abweichend verwenden wir im folgenden ausschließlich die männliche Form. Welchen Sinn das macht, werden Sie, lieber Leser und liebe Leserin, am Ende des Traktates verstehen. Falls nicht: Kapitalismus ist männlich.gewinnen kann und viele verlieren, gab es schon immer. Das ist nicht neu. «Einer wird gewinnen». Klar. Weswegen schreiben wir aber dann dieses Traktätchen, das sich mit einem derzeitigen TV-Spektakel befaßt, in dem dieses altbekannte Prinzip anscheinend nur fortgesetzt wird? Weil sich einiges verändert hat, und vor allem, weil der Blick auf die Sieger solcher spektaklistischen Veranstaltungen irreführend ist, denn um den Sieger dieser Arrangements geht es nicht. Worum geht es – neben der Totalvermarktung des Formats – also dann? [2] Simon Fuller, der die ‹Idee› für eine Show hatte, die in England «Idols» und bei uns «Deutschland sucht den Superstar» heißt und die bisher in 42 Länder verkauft wurde, hat eine eigene – ganz persönliche – Meinung, um was es in ‹seiner› Show geht: «Pop-Stars sind nichts als Marken, die man bis zum Letzten ausnehmen muß.» Sind die Sieger vielleicht gar keine Sieger? (Zitiert nach: Westdeutsche Allgemeine (WAZ). 21. Januar 2003, Seite 3.)

Seit dem Big-Brother-Spektakel gibt es TV-Formate wie Casting-Shows, Inselaufenthalte oder Eigenheimbauereien, in denen nach und nach, oft über Monate hinweg, immer wieder mal ein Teilnehmer ausgeschlossen und hinausgekegelt wird. So läßt es sich mit 10.000 Bewerbern anfangen, und übrig bleibt einer. Was aber ist mit den anderen 9.999? Mit den Abgewiesenen? Genau, darum geht es. Hauptereignis und Hauptziel dieser TV-Formate ist nicht die Vorstellung von Siegern, sondern die Produktion von Verlierern. Das schauen wir uns an!


Essenz

TV-Shows dieses Kalibers haben essentielle Gemeinsamkeiten:
  • Es muß zum einen viel geweint werden. Um das zu unterstützen, genügt nicht allein die Ablehnung selbst. Nein, damit reichlich Tränen fließen – und die Zuschauer allüberall was zu lachen haben – müssen die Ablehnungs-Sprüche selbst schon weh tun, muß das Abschätzen dessen, was da jemand vorgeführt hat, abschätzig ausfallen, muß das Gesagte schon schäbig wirken: «Du klingst wie Kermit, wenn man hinten drauf tritt.» Oder: «Du hast so eine Allerwelts-Klein-Puschi-Stimme.» [3] Zitiert nach: WAZ a.a.O. Seite 3.Tränen müssen fließen: «Sie heulen vor Mitleid, weil einer von ihnen gehen muß. Sie heulen vor Trauer, wenn es sie selbst erwischt hat. Aus. Raus aus dem Haus.» [4] Zitiert nach: WAZ a.a.O. Seite 3.
  • Es muß zum anderen viele Bewerber geben, über die man sich lustig machen kann, die vorgeführt, verspottet, bloßgestellt, beschimpft und abqualifiziert werden dürfen. Es muß da eine Schadenfreude bei den Zuschauern erzeugt werden. Also gibt es in der weiteren Verwertungskette dieser Shows selbstverständlich auch Videos zu kaufen, in denen die ‹schlechtesten› Auftritte der Kandidaten zu sehen sind.
  • Zum dritten muß das TV-Format den Eindruck erwecken, als dürfe der Zuschauer zu Hause auf irgendeine Art und Weise an der Ablehnung teilhaben, dürfe mitbestimmten, wer «rausgekegelt» wird. Selbstverständlich muß die ‹Zuschauerentscheidung› letztlich im Interesse der Veranstalter manipulierbar bleiben.
  • Und schließlich viertens: Es muß eine ‹Jury› geben, die aus TV-Bekannten besteht. Die Jury muß eine TV-Credibility haben, auf die sich Kapital und Veranstalter verlassen können.


  • Logik

    Läßt sich die streng kapitalistische Logik dieser TV-Formate beschreiben? Aber klar:
  • Der finale Kapitalismus braucht immer weniger ‹Arbeitskräfte›. Täglich werden Menschen von ‹irgendjemandem› entlassen. Für dieses Entlassungsritual braucht unsere Kultur einen Begründungszusammenhang. Und es ist – für alle Beteiligten – besonders ‹einsichtig›, wenn die Ursache für die Entlassung in die Person des Entlassenen hineinverlegt werden kann. Niederlagen werden personalisiert. Klar, zur Not lassen sich schon mal ‹konjunkturelle Ursachen› oder gar ‹schlechte Zeiten› heranziehen, niemals darf die Entlassung jedoch etwas mit dem kapitalistischen System selbst zu tun haben. Die Entlassung muß verkauft werden als ‹wirtschaftliche› Unumgänglichkeit. Der Entlassene war einfach nicht gut genug. Hat seinem Arbeitgeber leider nicht deutlich gemacht, warum man ihn unbedingt weiter beschäftigen sollte. Ihn nicht rauszuschmeißen – Aus. Raus aus dem Haus. – wäre wirtschaftliche Dummheit.
  • Die spektaklistische Kultur im finalen Kapitalismus braucht ganz viele Verlierer, denn die Siegerpodeste sind schon längst besetzt. Im finalen Kapitalismus können nur noch ganz wenige Auserwählte gewinnen. Und alle anderen müssen leider abgelehnt werden. Und das ist gut so – für diejenigen, die eh schon in der Sonne stehen. Und «die im Dunkeln sieht man nicht.» [5] Dies bekannte Zitat wird üblicherweise Bertolt Brechts Dreigroschenoper zugeschrieben, genaugenommen entwarf Brecht den Text aber erst ein Jahr nach der Uraufführung, die am 31. August 1928 stattfand, für das Drehbuch zum Dreigroschenfilm, in dem er die ihm wichtigen Aussagen der Dreigroschenoper hinsichtlich einer Kritik des Kapitalismus verstärkte und verdeutlichte. Natürlich akzeptierte die Filmgesellschaft sein Drehbuch nicht und produzierte den Dreigroschenfilm in sehr starker Nähe zur Dreigroschenoper. Im abgelehnten Drehbuch aber ließ Brecht am Schluß des Stückes den Moritatensänger der Eingangsszene der Dreigroschenoper noch einmal auftreten und das folgende Gedicht singen: Und so kommt zum guten Ende - Alles unter einen Hut. - Ist das nötige Geld vorhanden - Ist das Ende meistens gut. - Daß nur er im Trüben fische - Hat der Hinz den Kunz bedroht. - Doch zum Schluß vereint am Tische - Essen sie des Armen Brot. - Denn die einen sind im Dunkeln - Und die andern sind im Licht. - Und man siehet die im Lichte - Die im Dunkeln sieht man nicht. So wird auch ganz verständlich, warum in den nächsten Jahren zum Beispiel die Hochschulen, also letztlich einzelne Professoren, sich ihre Studenten selber aussuchen dürfen. Endlich haben wir wieder feudalistische Zustände, wo ein besorgter, begüterter Vater eines wenig studierfähigen Sohnes an der Zulassungsentscheidung eines Professors aktiv mitwirken kann.
  • Die Gesellschaft des Spektakels braucht Shows, in denen die Millionen Entrechteten, die am Rand stehenden, die Hoffnungslosen, die Ausgegrenzten, die sekundären Analphabeten, denen man ihre Sprache längst geraubt hat und denen eine Schmierlappenzeitung erzählen kann, ‹Glamour› würde sich auf ‹pur› reimen, Shows also, in denen all' die Zurückgewiesenen sehen und erleben, wie jemand, ein anderer Mensch, abgelehnt wird, wie diesem eine Abfuhr erteilt wird. Die Vorführung des öffentlichen Scheiterns von Tausenden besänftigt die gescheiterten Zusehenden. Sie sehen vor allem eines: Denen geht es nicht besser wie mir. So bleiben sie in ihrem geistigen und materiellen Elend festgeklemmt. Klar, sie dürfen sich darüber erregen, daß der da gescheitert ist und nicht die da, die dumme Kuh, die sie verschmähen. Ja, klar, bestimmt, wenn sie was zu sagen hätten, dann sähe alles anders aus: «Die ganze Jury. So wie sie da sitzt. Alle weg!» Das gehört zum spektaklistischen Spiel. Das trübt nur das Bewußtsein der Zuschauer bei der Einschätzung ihrer eigenen Lage. Darum geht es. Nur darum.


  • Schluß

    Und die Zuschauer spielen mit, klar, das machen sie doch so gerne. Sie dürfen zu Hause, in gemütlicher, ganz persönlicher Atmosphäre, Kandidaten mit mehr oder weniger gemeinen Sprüchen ablehnen. Selbst die Abweisungs-Metaphern kriegen sie noch souffliert, damit sie auch was lernen. Sie wissen nicht, daß sie mit der aktiven Teilhabe an einer Ablehnung stellvertretend ihre letzte eigene Ablehnung und Zurückweisung von den Fleischtöpfen der Gesellschaft nachbereiten und entschuldigen und ihre nächste Ablehnung bereits vorbereiten. Das sagt ihnen keiner. Und von selbst kommen sie nicht drauf. Wie auch? [6] Die Zuschauer werden ja vor allem über die Illusion einer ‹freien› Wahl, einer ‹eigenen› Entscheidung in ihrem Elend eingefroren (vgl. Bethchens Artikel zum Geheimnis des Großen Bruders). Die Zuschauer sollen zu sich sagen: «Ich entscheide!». So werden sie zu kleinen Fernsehrichtern und erhalten ihre eigene kleine Sofamacht, die dem spektaklistischen System garantiert nicht gefährlich werden kann. Wie einst die römischen Plebejer bei den Gladiatorenkämpfen. Daumen hoch, Daumen runter. Hat sich anscheinend nicht viel getan. Und die Zuschauer merken nicht, wie sie dem eigentlichen heimlichen Lehrplan auf den Leim gehen, der ihnen permanent verklickert, daß immer der Einzelne verantwortlich ist für dies und das, niemals das gesellschaftliche System.



    Kommentare:


    24. Januar 2003

    Liebe Bethchen, liebe Edna,
    ich möchte euch zu der alten Brecht-Zeile «Die im Dunkeln sieht man nicht» noch einen Gedanken schicken. Zunächst einige Vorbereitungen.
    Da sind also viele Bewerber für irgendwelche Shows, manchmal gar 10.000. Leben sie alle im Dunkeln? Vermutlich viele. Das wissen wir nicht. Was wir aber sagen können, ist, daß die gesellschaftliche Definition, die soziale Konstruktion von ‹Im Dunkeln leben› oder ‹Im Lichte stehen› in der derzeitigen Gesellschaft des Spektakels eindeutig ausfällt. Deswegen glauben alle diejenigen, die sich – unabhängig davon, ob sie im Dunkeln leben oder nicht – dem Medium TV ergeben haben, fest daran, daß sie dann wichtig werden, wenn sie im TV erscheinen.
    Diese Bewerber, diese Kandidaten, diese Vorzuführenden und Vorgeführten wünschen sich auf diesem Hintergrund sehnlichst also nur eines: Am Spektakel teilzuhaben, genauer, an die mediale Öffentlichkeit zu kommen, genauer, ‹in› das TV, noch genauer, endlich mal vor irgendeiner Kamera zu stehen. Genau das bedeutet leider für die meisten Medienkonsumenten – endlich ans Licht zu kommen, ans Licht, ans Licht.
    Und was heißt hier ‹Licht›? Licht heißt – Erfolg. Wer im TV auftaucht, hat Erfolg und ist wichtig. Ist ein Popstar. Unabhängig davon, ob er singt, Gesetze macht, ein Land regiert oder Bücher verreißt. Der Kontext des Auftauchens und Ausgeleuchtet-Werdens ist wurscht. Talk-Show, Soap, Casting, ja selbst als Angeklagter vor Gericht kann man eine ‹gute Figur› abgeben. Ebenso ist es völlig egal, zu welchem Behufe jemand vor einer Kamera erscheint, denn es gibt nichts zu sagen, es gibt nichts zu transportieren, es soll keinerlei Bedeutung vermittelt werden. Man ist als TV-Gemeinde, als Sekte von TV-Believern halt zusammen und hat Spaß. Es geht nur um Selbstreferenz des Mediums TV. TV ist TV ist TV – und TV produziert sich selbst: TV.
    Und nun mein Gedanke: So werden dann in diesen spätdarwinistischen evolutionsbiologischen Shows tatsächlich 9.999 Menschen für kurze Zeit ans Licht gezerrt. Aber bevor sie sich an das Licht gewöhnt haben, bevor sie ihre Augen ganz öffnen können, ja gerade in dem Moment, in dem sie mit ihren Augen angesichts der berauschenden Lichtfülle nicht mehr blinzeln müssen, werden sie schon wieder zurückgestoßen und zurückgeschickt: Ins Dunkel. «Die im Dunkeln sieht man nicht.»
    Ja, aber für Sekunden war man im Licht, alles andere interessiert nicht. Das war die einzige Chance. Da hätte was draus werden können. Davon kann man ein ganzen Leben lang – im Dunkeln – zehren. Als Opfer. Im Dunkeln.
    Dunkle Grüße von
    Rainer

    _______


    2. Februar 2003

    Liebe Bethchen, liebe Edna, lieber Rainer,
    ihr habt es getroffen: «Die im Dunkeln sieht man nicht». Vor allem, wenn alle auf den «Superstar» schielen. Die von euch beschriebene Show macht wieder einmal ganz deutlich, was eigentlich die Hauptaufgabe von Medien in diesen Zeiten ist: Täglich Apologien auszusenden, also Verteidigungs- und Entschuldigungsschriften vorzulesen! Den Leuten also zu bestätigen, daß das, was sie ohnehin machen, schon in Ordnung sei, und daß sie sich dafür auf keinen Fall zu schämen bräuchten! Und was machen die meisten Leute so? Fernsehen. Rausgehen nur zum Kaufen. Was machen die Medien mit ihren Apologie-Anstrengungen? Sie sorgen dafür, daß die spektaklistische Gesellschaft, die der finale Kapitalismus ja unbedingt braucht, sich immer weiter fortsetzt, mit den entschuldigten Leuten als schweigender, passiver, aber immer besserwisserischer Mehrheit. (Deswegen müssen die Leute ja auch angeblich an Entscheidungen im TV (um Gottes Willen nicht in der Politik) beteiligt werden.)
    Klar, auch die Mehrheit kann sich gelegentlich schon mal ein bißchen schämen oder Bedenken kriegen bezüglich der TV-Formate, die sie sich da regelmäßig reinzieht. Aber ist die Not am größten, naht das Rettende auch: Diesmal in Gestalt eines kleines Kommentars in einer – angeblich – seriösen Zeitung. (Von derjenigen, die ihr im Skepsis-Reservat so gerne Schmierlappenzeitung nennt, ist hier also nicht die Rede.) Schauen wir uns mal an, wie die Apologie aussieht:
    In der WAZ vom 31. Januar 2003, auf Seite 3, ist neben dem großen Bericht über eine 17-jährige, «die gerne ein Superstar wäre», eine kleine Glosse. Da ist von einer Show die Rede. Und daß die Zahl der Kritiker groß sei und wachse. Von «Niveaulosigkeit, billigem Kommerz-TV und absoluter Belanglosigkeit» sei gar die Rede – wohlgemerkt, die Rede der Kritiker.
    Und nun ist in dieser kleinen Glosse ganz wunderbar nachzulesen und nachzuvollziehen, wie man ein unter Umständen noch vorhandenes Rest-Gewissen, eine Rest-Schamhaftigkeit bei den Guckern beschwichtigt und die Leute darin bestärkt, weiterhin völlig unpolitisch – darum geht es natürlich – ihre Zeit totzuschlagen und auf keinen Fall darüber nachzudenken, wer von einer solchen Veranstaltung profitiert und wie 9.999 junge Menschen ans Licht gezerrt und dann ins Dunkel zurückgestoßen werden. Und wie geht das? In vier Schritten:
    Schritt eins: «Richtig ist aber auch: Schneller als die Zahl der Kritiker wächst die der Fans. Und nicht alle können Dummköpfe sein.» Na, liebes Bethchen, liebe Edna, lieber Rainer, ist das nicht großartig? Ist damit nicht schon der größte Brocken weggeräumt? Wer hält sich schon für einen Dummkopf!? Ach, das ist aus dem Urlehrbuch aller Apologien geklaut! Man muß den Bewußtlosen nur sagen, sie seien keine Dummköpfe. Geht in Ordnung! Genau!
    Schritt zwei: «Die Show ist spannend, sie weckt Emotionen. Man muß sagen: Sie ist gut gemacht.» ‹Man› muß sagen! Niemand persönlich sagt das. Sondern ‹man› muß das jetzt einfach faktisch zugeben, daß spektaklistische Shows in der letzten Phase des Kapitalismus gut gemacht sind. Mehr braucht man nicht zu wissen. Inhalt? Hintergründe? Oh bitte! Es geht doch um nichts! Ja, aber das stimmt leider nicht. Es geht um sehr viel. Es geht darum, ob ich anderen einen Zugriff auf mein Gehirn erlaube.
    Schritt drei: «Sicher – es gibt wichtigere Themen dieser Tage. Es gibt gehaltvollere Unterhaltung.» Jetzt folgen die beiden dicksten und schlimmsten Lügen, die die ohnehin schon angeschlagenen Kulturinsassen kalmieren und tranquilieren sollen: « […] es gibt wichtigere Themen dieser Tage.» Nein, die gibt es eben in einer spektaklistischen Gesellschaft nicht. Das ist es ja gerade. Und final zu behaupten, es gäbe gehaltvollere Unterhaltung, ist eine bodenlose – allerdings nützliche – Unverschämtheit. Die gibt es eben nicht! Nicht im TV. Das ist per Definition ausgeschlossen. «Und abends noch groß was lesen? Ach nee!»
    Schritt vier: Jetzt kommt der argumentative Höhepunkt, der kleinste gemeinsame Argumentationsnenner, den schon Kinder und Jugendliche in dieser Kultur in fast jedem Diskurs immer wieder aufsagen und heranziehen können: «[…] niemand wird zum Zuschauen gezwungen.» Das ist es: ‹Muß doch jeder selbst am besten wissen, was er tut!› Genau: Was jemand guckt, entscheidet seine Ich-AG. Punkt. Natürlich ist diese Behauptung noch schlimmer und ekelhafter als die Lügen in Schritt drei. Menschen ohne Bewußtsein, ohne die Fähigkeit und Möglichkeit zur Eigenbewegung, ohne eine geistige Repräsentation dessen, was sie sich da eigentlich ansehen, können sich nicht (mehr) entscheiden. Sie sind am Ziel angelangt. Sie sind Verbraucher. Punkt.
    Ganz dunkle Grüße
    von Johanna

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    6. Februar 2003

    Hallo,
    mal grundsätzlich: Wenn alle Leute sagen, daß jeder selbst am besten wissen muß, was er tut, und wenn man das dann schließlich selbst auch sagt, wieso wundert man sich dann nicht, daß man sich selbst – an einem bestimmten Abend – mit so vielen anderen Leute gleichzeitig, ganz persönlich und ganz von selbst dafür entschieden hat, sich ein bestimmtes TV-Spektakel anzugucken? Wieso entsteht da nicht der ungefähre Gedanke, daß es gar keiner eigenen Entscheidung bedarf, das zu tun, was ohnehin alle tun?
    (Auch: Wieso rufen die Menschen immer lauthals, ein Mitschwimmen sei doch auch ein Schwimmen? Wieso wundert – oder ärgert – man sich als in einem Stau stehender Autofahrer, daß so viele andere Autofahrer sich auch ganz persönlich dazu entschieden haben, jetzt und hier im Stau zu stehen?)
    Und: Aus der Aussage, aus der Richtlinie, daß man selbst am besten wissen muß, was man macht, entsteht ja noch kein Wissen darüber, was man selbst am besten wissen muß, sondern nur, daß man es wissen muß. Und wenn man dann das weiß, was ohnehin alle wissen, und wenn man dann das tut, was ohnehin alle tun, weiß man dann, was man weiß, und weiß man dann, was man tut?
    Nachdenklich
    Tiffi



    Erstellt: 23. Januar 2003 – letzte Überarbeitung: 6. Februar 2003
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