BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Dramolette des Alltags: «Garagenfest»
von Holger Wyrwa
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Sarah und Klaus stehen am hochgezogenen Garagentor und begrüßen die ersten Gäste, die sie zur Taufe ihres Sohnes Vittorio eingeladen haben. Ulf, der Vater von Sarah, drückt die ganze Tochter, Marlene, seine Frau, drückt ihr nur die Hand. Herta, die Mutter von Klaus, kommt mit wiegenden Schritten auf ihren Sohn zu und strahlt.

Mitten in der Garage ist ein großer Tisch aufgebaut, an dem fünfzehn Personen Platz nehmen können. In einer Ecke steht ein alter ausrangierter Schrank mit offenen Türen, der als Bar fungiert. Ein alter Heizofen wärmt den Raum. Eine Kette aus Lichtern hängt an einer Wand.

Marlene steht vor dem gedeckten Tisch und macht schnell noch ein Photo davon, bevor sich alle setzen. «Tolles Motiv!» sagt einer und grinst. Marlene nickt und macht ein zweites Bild. Barbara, die Mutter von Sarah, setzt sich. Marlene geht auf sie zu, und beide Frauen umarmen sich. Sofort beginnt Marlene zu erzählen: Von dem Flug, der Pension, in der sie abgestiegen seien, von der Arbeit, von zu Hause.

Währenddessen baut Markus sein Keyboard auf. Er wird die Taufe musikalisch begleiten. Er sagt, er habe sehr viel zu arbeiten. Schon in der Nacht habe er los gemußt, weil er bei einem Musical Regie führe. Klaus legt seinem Bruder die Hand auf die Schulter.

Marlene hat sich in der Zwischenzeit bei Barbara über die Diskothek neben ihrer Wohnung beschwert, die immer so laute Musik spiele, obwohl man sie zuerst nicht höre, die dann aber doch immer lauter werde. «Seltsame Gestalten gehen da ein und aus», berichtet sie, und ihre Augenbrauen hüpfen auf und ab. «Die sind alle schwarz gekleidet und ganz blaß geschminkt. Schlimm sehen die aus. Ganz schlimm!» meint Marlene. Sie spricht sehr schnell.

Ulf, ihr Mann, versucht indes ein Gespräch mit einer Jung-Psychologin zu beginnen, die er vor einem halben Jahr bei Sarahs Hochzeit kennen lernte. «Na, was gibt es denn noch so in Österreich, außer dem Prater!» sagt er und lächelt sie an. Die Jung-Psychologin verzieht keine Miene und blickt kurz zu ihrem Freund hinüber, der ebenfalls Psychologie studiert hat. Dann sagt sie etwas. Ulf fragt nun etwas anderes. Aber sie hört ihm nicht zu und kaut an einer Käsestange. Schließlich packt Ulf seinen Photoapparat aus. Er sagt, er habe sich vorgenommen, viele Bilder zu machen, und nachher werde er Fisch für alle grillen.

Klaus bittet die Anwesenden Platz zu nehmen. Die eigentliche Feier zur Taufe soll nach dem Kaffeetrinken und Kuchenessen beginnen. Herta bewegt sich mit wiegenden Hüften auf Barbaras Mann zu. «Na, alles klar auf der Andrea Doria!?» sagt sie und setzt sich mit Schwung an den Tisch. Für einen Augenblick verstummen die Gespräche. Markus ergreift das Wort: «Dann eßt mal schön - auf meine Kosten!» sagt er in die Runde und schenkt sich Kaffee ein.

Marlene hört nicht auf zu reden. Sie erzählt von ihrer Tochter, die noch keinen Freund habe, weil sie soviel für die Schule lernen müsse. «Mit Zwanzig hat sie immer noch Zeit für einen Freund!» sagt sie, und «Das ist schon schwierig heute. Alles!» Sie schiebt sich ein Stück Kuchen in den Mund. «Aber alles negativ sehen, tue ich nicht!» «Diese jungen Leute!» fügt sie hinzu und nickt, während ihre Augenbrauen wieder in Bewegung sind.

Nach dem Kaffeetrinken findet die Feier zur Taufe von Vittorio statt. Markus hält eine Ansprache. Sofort steht Ulf auf und macht ein Photo von ihm. «Heute an diesem 12. Juni 2004!» beginnt Markus, «wollen wir für Vittorio eine Heimtaufe durchführen. Eine Taufe ohne Priester, ohne Kirche, ohne alles, nur Familie. Ist das alles komplett unwirksam? Als ich im Januar in Indien war, war ich um den ersten Januar komplett aufgeregt - hat´s geklappt, ist er gesund draußen. Wir hatten um diese Zeit Beratungsgespräche mit Pater Tos - und meine erste Frage an ihn war: Kommt der kleine Vittorio gesund und munter nach draußen? Er schaute mich an, lächelte wie nur die Inder lächeln können und sagte: ‹Oh yes, everything´s fine›. Dann fragte ich Pater Tos, wie es denn mit der Taufe sei. Schließlich sind Sarah und Klaus nicht mehr in der Kirche und da bekommt man im erzkatholischen München schon Probleme. Pater Tos schaute mich gütig an und sagte nur: ‹Home Baptism ist enough!›»

Alle hören zu. Markus lächelt und legt den Kopf schief. «Wir wollen jetzt ein Lied für den kleinen Vittorio singen», sagt er und blickt zu Sarah und Klaus hinüber. Markus, seine Schwester Bettina und seine Mutter singen:

«Hallo Vittorio
Jetzt bist du hier bei uns
Du warst ein schöner Wunsch
Den Eltern brachtest du Glück
Du lehrst sie füreinander da zu sein
Ehrlich zu sein
Denn der Grund für ihre Liebe der bist Du
Wir wünschen Dir ein Leben
Ein Leben ohne Angst
Vertrau auf deine Stärke
Und eine Macht die trägt Dich entlang.»

Alle klatschen. Markus nickt den Anwesenden von seinem Keyboard aus zu. Dann spricht von Taufe und Wiedergeburt: «Warum sollte also ein Kleinkind, das erst vor wenigen Monaten die Gnade der gesunden Geburt erlebt hat, jetzt wiedergeboren - getauft werden? Wahrscheinlich, damit er auch in die Welt aufgenommen wird. Damit er den Geist der Leute aus seiner nächsten Umgebung spüren und in sich aufnehmen kann. Ich schreibe gerade ein Stück über einen Luftschiffer, der weltberühmt wurde, weil er aus eigenem Antrieb heraus die Überfahrt eines Luftschiffes von Friedrichshafen nach New York erreichte. Für ihn gab es keine Kirche, keine Religion, er wollte alles aus sich selbst heraus erklären. Aber er fand keine Erklärung für den Ertrinkungstod seiner Tochter vor seinen Augen, für das Mobbing innerhalb der Nazizeit! - Laßt uns jetzt alle zusammen ein Lied singen!»

Es werden Photokopien verteilt, auf denen wortwörtlich alle Lieder und die bisherigen und noch folgenden Ansprachen von Markus stehen. Markus spielt auf dem Keyboard eine Einleitung. Dann wird gesungen. Die Jung-Psychologin und der Jung-Psychologe stieren schweigend auf das Blatt Papier. Marlene rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, während Ulf weiter Photos schießt. Barbara hat Tränen in den Augen. Marlene sieht sie von der Seite an und schüttelt dann den Kopf. Das Lied ist zu Ende.

«Ich möchte jetzt!» fordert Markus die Anwesenden in einem feierlichen Tonfall auf, «daß ihr alle auf einen kleinen Zettel einen Wunsch für den kleinen Vittorio schreibt - und ihn nachher an dieses kleine Tischbäumchen heftet!» Die Zettel, die zusammengerollt und mit einer roten Schleife versehen sind, werden verteilt. Marlene überlegt angestrengt. «Soll ich auch meine Anschrift schreiben?» fragt sie. «Mit Ort und Postleitzahl!» sagt Barbaras Mann und grinst. Marlene ist betroffen. «Ich wollt ja nur wissen, ob wir…!» Dann schüttelt sie den Kopf und schreibt etwas auf ihren Zettel. Jeder der Anwesenden erhebt sich von seinem Stuhl und bindet mit einem Ende der roten Schleife den zusammengerollten Zettel an das Bäumchen.

Als alle wieder sitzen, bittet Markus wieder um Gehör. Er erzählt von der Bedeutung des Taufwassers in der jüdischen Literatur. Dann sieht er alle erneut feierlich an. «Jeder von uns soll nun zu Vittorio und seinen Eltern hingehen und sie segnen. Segen erbeten für diesen jungen Menschen, der auf unser aller Leben mit seiner Persönlichkeit Einfluß haben wird. Und Segen erbeten für die Eltern, damit Sie Vittorio zu einem Menschen erziehen, der durch sein Sein ein Vorbild für andere wird!» Nacheinander stehen alle auf, tauchen ihre Hände in eine Schale mit Wasser und berühren damit Vittorio. Marlene nimmt sich besonders viel Zeit, um dem Kind ihren Segen mitzuteilen.

Nach der Zeremonie singt Markus ein Solo. Die beiden Jung-Psychologen sitzen mit verschränkten Armen vor der Brust und starren vor sich hin. Während Markus noch singt, fragt Marlene Barbara, ob man nicht das kleine Nachbarskind, das vor der Garage steht, hereinholen sollte, damit es nicht so alleine ist. «Pst!» sagt Barbaras Mann und Marlene zuckt zusammen. Nach dem Gesangs-Solo wird wieder Kaffee getrunken und Kuchen gegessen.

Sarah kommt auf ihre Mutter zu und reicht ihr Vittorio. Herta die nicht weit von ihr sitzt, lächelt unglücklich und schaut zu, wie Barbara mit ihrem Enkel schmust. «Darf ich auch mal den Kleinen halten?» fragt Herta. «Aber natürlich!» sagt Barbara und reicht ihr das Kind.

Ulf geht auf Markus und Klaus zu. «Können wir nicht das Lied singen ‹Lebt denn der alte Holzmichel noch?› fragt Ulf Markus, der noch immer am Keyboard sitzt. Klaus dreht sich zur Seite. Markus wendet sich ab. «Können wir nicht das Lied singen?» fragt Ulf wieder. «Das ist doch so schön!» Klaus und Markus sagen kein Wort. «Können wir nicht das Lied singen?» versucht er es noch einmal und gibt es dann auf, als wieder keiner reagiert. «Lebt denn der alte Holzmichel noch?» summt Ulf und greift zum Photoapparat.



Erstellt: 28. Juni 2003 – letzte Überarbeitung: 28. Juni 2003
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