BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Sisyphos heute: «Das Absurde und die Kunst»
von Lisa Blausonne
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In der Sonne sitzend trinke ich spanischen Kaffee und schaue auf die gelben Kacheln an der Wand gegenüber. Camus wollte ich lesen, doch die Großfamilie am anderen Tisch unterhält sich so lautstark, daß ich mich nicht konzentrieren kann. Spanien. Es ist Winter, Januar, gestern wurde das spanische Weihnachten gefeiert: die heiligen drei Könige. Hier sind es 19 Grad. Zu Hause in Deutschland frieren gerade Hunde an der eisigen Straße fest, wenn sie zuvor ihre Pfoten geleckt haben.

Ich fahre weiter, nach Ronda, um die Spuren von Rilke zu verfolgen. Auf der Fahrt durch die Berge begleiten mich zwei Adler bis in die Stadt. Im gepflegten Garten eines Hotels betrachte ich Rilkes Bronzefigur. Sie steht vor einem grün-braunen, hügeligen Tal. Die Gegend soll romantisch sein, sagt man. Dieses Gefühl stellt sich bei mir nicht ein. Ich bin schon seit zwei Monaten in diesem Land und fühle mich außenstehend. Ich hatte so viele Erwartungen an diesen Aufenthalt. Sowohl der Job als auch die Liebe, für die ich hierher kam, wurden zum Desaster, also gab ich meine Vorstellungen auf und reise seither von Ort zu Ort. Ich bin in der Fremde und finde keinen Anschluß; ich befinde mich in meinem persönlichen Drama. Es erscheint mir absurd. Ich muß wieder an Camus denken.

Camus schreibt im "Mythos des Sisyphos" [1] Camus, A. (2002): Der Mythos des Sisyphos. Hamburg: Rowohlt., daß Absurdität durch die Fremdheit der Welt erlebbar werde. Fremd erscheine eine Welt, wenn wir sie nicht mehr verstehen könnten, wenn wir nicht mehr die Bilder und Gestalten sähen, die wir zuvor in sie hineingelegt hätten. "Die Welt entgleitet uns, da sie wieder sie selbst wird. Die von der Gewohnheit verstellten Kulissen werden wieder, was sie wirklich sind" (S. 24).

Läßt sich dies auf den Umgang mit Sprache übertragen? Die Welt entgleitet den Begriffen, die wir haben und wird dadurch fremd. Die durch unsere gewohnte Sprache verstellten Kulissen erkennen wir nicht mehr. Das Erfahrbare findet kein Wort und die Wörter finden nicht ihre Kulisse. Ich sitze also auf den Trümmern des Sagbaren und erlebe dadurch die Begrenztheit meiner bisherigen Welt, die durch meine Sprache hergestellt wurde. Ich werfe mich in eine vor mir gestellte, mir vorgestellte Welt und folge meiner Sehnsucht nach Klarheit, nach Verstehen. Aber die Welt verstehen heißt, ihr meine Begriffe aufzudrücken. Und wenn die Kraft der Begriffe nicht mehr ausreicht, um etwas zu bezeichnen und die Sprache nicht bewältigen kann, wofür ich einen Ausdruck suche, wird Fremdheit erfahrbar. In meinem Verlangen nach Verstehen treffe ich das Absurde. Das Absurde, eine Kluft zwischen dem, was ich zu verstehen vermeine und dem, was ich nicht benennen kann. Mein Leben wird erschüttert und ich leide. Wovon ich ausgegangen bin, ist nicht mehr das, was ich erwartet hatte. Das Leiden erwächst durch die beständige Sehnsucht und Hoffnung auf Klarheit, durch die Erkenntnis der Sinnlosigkeit der bisher scheinbar so vertrauten Welt.

Immer dachte ich, daß mein Drang zu schreiben nur durch eben jenes Leiden gespeist würde. Jetzt sehe ich, daß es nicht das Leiden allein, sondern auch die Erfahrung von Absurdität ist, die zur Kunst führen: Die eingerissenen Kulissen sollen wieder aufgebaut werden, Sinn soll entstehen, den wir im Weltlichen nicht finden. Also erschaffen wir eine parallele Welt, jenseits der Begrifflichkeiten, die im Weltlichen abprallen. Musik, Text, Skulptur und die anderen Künste, die Menschen schaffen, um Seelenfrieden wiederherzustellen, sind Versuche, der Absurdität der Welt Ausdruck im Außerweltlichen zu verleihen und die Absurdität damit zu überwinden. Die Kunst enthebt sich weltlicher Bezeichnung, ist ihre eigene Sprache. In dem Sinne ist sie tröstend, erlösend, wenngleich sie das ewige Leiden des Sisyphos nicht aufhebt. Es fällt Schnee. Eigentlich ist das absurd; es hat hier 30 Jahre nicht geschneit. Ich freue mich.



Kommentare:


1. Oktober

Liebe Lisa,

ich versuche diesmal meinen gefürchteten maternalen Ton zu vermeiden, versprochen.

Erlaube mir also eine sehr persönlich gefärbte kritische Anmerkung zu Deinem Text. Du beschreibst sehr elegant, wie Dein Impuls zu schreiben aus dem Graben zwischen Deinem Erleben und den Wörtern zur Kommunikation dieses Erlebens erwächst. Diese Kluft kenne ich gut, obwohl ich anders als Du nicht darunter leide, sondern es genieße, von Wörtern unbefleckte Erfahrungen zu machen. Was natürlich an meiner situationistisch geprägten Voreingenommenheit gegenüber den Wörterbüchern als Werkzeugen der Macht liegt. Aber das weißt Du ja. Worum es mir in dieser kurzen Kritik viel mehr geht, sind die eskapistischen Tendenzen in Deinem Kunstverständnis. Mir sträuben sich - mit allergrößtem Respekt und Verlaub - sämtliche Nackenhaare, wenn Kunst als ein Ort des Seelenfriedens in einer Parallelwelt gesucht wird. In größtem Gegensatz dazu lasse ich als Kunst nur gelten, was eine gesellschaftliche Relevanz hat, was Stellung bezieht und eine Haltung einnimmt. Kunst noch nicht einmal um der Kunst, sondern um der Flucht willen, wäre: reaktionär.

Wobei ich - auch wenn obige Interpretation insgesamt vielleicht ein wenig zu nahe liegt - Deinen Text selbst eigentlich viel mehr als ein gutes Stück Gegenkultur lese. Schon das Ringen mit den durch den öffentlichen Diskurs vordefinierten Worten, um endlich zu einem persönlichen Ausdruck zu finden, ist in unseren Zeiten ein bemerkenswerter Akt der Revolte. Wenn weiterhin, wie in Deinem Fall, diese Revolte ihren Ausdruck nicht allein im Außerweltlichen sucht, sondern in die Welt getragen wird, ist die notwendige Voraussetzung schon erfüllt, um einen kleinen Text in meinen Stand der Kunst zu erheben. Weil die parallele Welt des Textes nicht am Weltlichen abprallt, sondern als Baustein der Welt das Weltliche schon verändert hat.

Liebe Grüße,
Edna



Erstellt: 22. September 2003 – letzte Überarbeitung: 1. Oktober 2003
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