BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«‹Je-ka-mi›-Nachrichten»
von Albertine Devilder
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Im fünften Kapitel seines Buches «Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman» beschreibt Wilhelm Genazino einen ‹Je-ka-mi›-Abend. Können Sie sich, lieber Leser und liebe Leserin, an dieses altertümliche «Unterhaltungsformat» noch erinnern, das es vor vielen, vielen Jahren einmal gab? Wissen Sie noch, was das ist, oder besser war? Nun, ein ‹Je-ka-mi›-Abend war eine spezifische öffentliche Veranstaltung, bei der «jeder mitmachen konnte». Zelebriert wurde dieses Ereignis meist im Festsaal irgendeiner Gaststätte und in aller Regel gab es gar eine kleine Combo, die Musik von Hand machen konnte. Damit war der Boden bereitet für die Auftritte von verkleideten Laien, also von kostümierten Menschen ohne besondere Fachkenntnisse, die nun in einer Art Karaoke irgendwelche bekannten Stars imitierten. Das war alles. Wie, das kennen Sie, das kommt Ihnen überhaupt gar nicht ‹altertümlich›, sondern sehr ‹modern› vor und «Formate» dieser Art seien heute doch überall im TV zu sehen? Stimmt.

Laien zu etwas zu bewegen, das sie nicht können, scheint gestern und heute eine Urquelle der Freude für den gesunden Menschenverstand zu sein. Doch darum geht es mir in diesem winzigen Traktätchen nicht. Was ich sagen will, ist: Dieses ‹Je-ka-mi›-Format breitet sich aus, es diffundiert in andere Formate, etwa in ‹Nachrichten›. In ‹Nachrichten›? Ja, achten Sie mal darauf: Immer öfter werden im Radio und im TV statt einer Berichterstattung, eines ‹features› über das, was es angeblich zu berichten gibt, Menschen gefragt, was sie denn zu dem und dem zu sagen hätten. Als Satire mag das ja noch durchgehen, obwohl es nicht besonders pietätvoll ist, sich an den semantischen und syntaktischen Wirrnissen unserer Einwohner zu erfreuen, aber als Nachricht?

Bei großen Ereignissen, Festen und Fußballspielen geht das schon etliche Jahre so, daß ein aufgekratzter Moderator ‹im Studio› einen weiteren aufgekratzten Moderator irgendwo da draußen aufruft und ihn fragt, «wie denn die Stimmung dort gerade so sei?» Die Antwort ist natürlich ein «Wahnsinn, Super, Toll!» Begleitet wird diese Stammelei in aller Regel dann noch von grölenden und kakophonisierenden Hintergrundchören, bei denen man, wenn man Glück hat, ein «Deutschland, Deutschland!» oder ein »So ein Tag, so wunderschön wie heute!» heraushören kann. So weit, so gut. Denn ich bin ganz grundsätzlich dafür, daß wir unsere Einwohner über Art und Lautstärke ihrer Lebensäußerungen selbst befinden lassen.

Relativ neu ist nun aber, daß auch bei kleinen Ereignissen - wie der Einführung einer ‹Praxisgebühr›, dem Steigen des Benzinpreises oder anderen alltäglichen Allfälligkeiten - die Macher der Nachrichten im Radio und TV in zunehmendem Maße den Volksmund zu Worte kommen lassen. Nur, sind diese belanglosen Meinungsäußerungen dann Nachrichten? Ich meine wirklich Nachrichten? Also Meldungen, Botschaften, Neuigkeiten?

Bei der Beantwortung dieser Frage sollten wir uns überlegen, woher das Wort ‹Nachricht› eigentlich kommt: Vor hunderten von Jahren verstand man unter einer Nachricht etwas, nach dem man sich zu richten hatte. Keiner von uns kommt auf den Gedanken, das für Nachrichten zu halten, was Volkes Stimme in den Medien verkündet, und danach richten werden wir uns sowieso nicht. Wenn es aber keine Nachrichten sind, was soll dann diese Vorführung des Volksmunds? Wir werden es gleich sehen.

Aus den ‹Nachrichten› ist schon seit einiger Zeit ein ‹Infotainment› geworden, also eine ganz ‹lockere› und lustige Präsentation von Unwichtigem: Mal geht es um die Schwangerschaft eines Singsternchens, mal um den außerehelichen Geschlechtsverkehr eines Fußballspielers. Immer aber geht es um Ironie und Coolness. Und selbstverständlich ist die Dauer-Ironisierung allen Geschehens in den angesagten Medien eine Dauer-Affirmation des Bestehenden. Das soll ja auch so sein. Das ist der tiefe Sinn einer ‹Gesellschaft des Spektakels›.

Doch das «Jeder-kann-mitmachen» scheint sich nun zu einem weiteren Bestimmungsstück postmoderner medialer Dauerveranstaltungen auszuwachsen. Unmaßgebliche, unschöne, unliterarische soziale Geräusche, kurz, idiosynkratische Verirrungen werden als Nachricht eingefangen und als Nachricht weitergegeben. Statt einer Aufklärung gibt es Gerede, statt einer kritischen journalistischen Analyse gibt es Geschwätz. Und «Geschwätz gebiert Geschwätz» - sagt Søren Kierkegaard.

Bleiben wir noch ein wenig dran und malen uns die Zukunft des Infotainments aus: Diejenigen, für die die Nachrichten eigentlich konstruiert werden, werden selbst zur Nachricht; die Endverbraucher produzieren also das, was ihnen anschließend in den Medien als Nachricht verkauft wird. Welche Konsequenzen hat das? Nun, zunächst einmal wird alles billiger, die Nachricht selbst, und vor allem die Nachrichtenproduktion. Redaktionen können ‹verschlankt›, Korrespondenten und Journalisten können eingespart werden, dem Gott des Kapitalismus sei Dank. Interviews auf der Straße können und sollten von Praktikanten, Aushilfskräften und Ungelernten durchgeführt werden, weil hier die Qualität der Fragen der Qualität der Antworten entsprechen wird und die Gesamtsequenz wesentlich authentischer und volksnäher wirkt.

Gleichzeitig erschaffen die ‹Je-ka-mi›-Nachrichten die Fiktion einer Medien-Öffentlichkeit. Man gaukelt dem ‹Mann auf der Straße› vor, daß er in unserer Merkatokratie etwas zu sagen habe, daß er ernst genommen werde. Und das erinnert uns an einen Aphorismus von Ödön von Horvath: «Das Ziel jedes Staates ist die Verdummung des Volkes. Keine Regierung hat ein Interesse daran, daß das Volk gescheit wird. Also steht jede Regierung in Feindschaft gegen die Vernunft, nämlich gegen die Vernunft der anderen. Die Regierung ist umso stärker, je fester sie darauf schaut, daß das Volk verdummt wird. Und das Volk will nur hören, daß es wichtig ist.»

Das sollten wir uns durch den Kopf gehen lassen. Wenn das Volk nur hören will, daß es wichtig ist, wie ließe sich das besser und einfacher erreichen, als dadurch, daß man es an den Nachrichten beteiligt, daß man also glückselige Ausrufe provoziert wie «Guck mal, da bin ich, da bin ich in den Nachrichten»? Deswegen also sind die meisten Radio- und TV-Stationen längst zum ‹Menschenfunk› geworden, wo jeder auch mal anrufen und seinen Senf dazu geben darf, locker-flockig natürlich. Und gibt es nicht gar einen TV-Sender, der davon lebt, daß Zuschauer und Zuschauerinnen unentwegt versuchen, ihn telefonisch zu erreichen? Ja, den gibt es.

‹Je-ka-mi›-Nachrichten als Menschenfunk. «Denn bei uns steht im Mittelpunkt der Mensch!» Ach, das möchten doch alle so gerne hören.



Erstellt: 22. Juni 2004 - letzte Überarbeitung: 22. Juni 2004
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