BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die ‹Volksbibel›»
von Albertine Devilder
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Es begab sich aber zu der Zeit ...

Die größte Schmierlappenzeitung dieses unseres Landes hat im November 2004 eine «Volksbibel» (1.304 Seiten, 21 x 29 cm, Kopfgoldschnitt, Einband mit Goldprägung, «illustriert mit 24 hochwertigen Farbabbildungen von Werken Alter Meister», inklusive Familienchronik, für nur € 9.95) heraus gebracht. Warum ich das überhaupt erwähne? Weil es in dieser Volksbibel ein Geleitwort gibt, welches von Karl Kardinal Lehmann, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, von Dr. Wolfgang Huber, dem Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, und von Kai Diekmann, einem Chefredakteur, gemeinsam unterzeichnet wurde, und weil - zeitgleich zur Präsentation der «Volksbibel» - dem gerade erwähnten Chefredakteur eine ‹Privataudienz› beim Papst gewährt wurde.


Das Schmierlappenprinzip

Um verstehen zu können, was dieses Ereignis für die Kultur unseres Landes bedeutet, müssen wir uns zunächst daran erinnern, für was die Zeitung steht, die eine «Volksbibel» verkauft und dessen Chefredakteur vom Papst empfangen wird. Wir haben schon in verschiedenen Beiträgen des Skepsis-Reservates auf die verheerende Wirkung solcher Zeitungen hingewiesen. Schauen wir uns einige Traktate an, zur Erinnerung:
  • Boulevardzeitung! Wie das klingt! «Das Wort zeigt ja nicht nur auf eine große, breite, besondere oder gar berühmte Straße, sondern es erzeugt ... eine großzügige, eine kosmopolitische Assoziation, ja gar einen Hauch von Weltbürgertum und Toleranz. Und wie sieht die von den einschlägigen Schmierlappenzeitungen erfundene und beschrieene Wirklichkeit aus? Hat die etwas mit einer kosmopolitischen Großzügigkeit zu tun? Mit kultureller Bildung, mit Achtsamkeit, ja gar mit Toleranz? Also mit Verständnis, Nachsicht, Geduld, Schonung, Milde, Gnade, Rücksicht, Duldsamkeit, Behutsamkeit, Liberalität, Hochherzigkeit? Sie lachen zu Recht, lieber Leser und liebe Leserin, diese Worte lassen sich mit Schmierlappen kaum in Verbindung bringen. Wir sehen also, das Wort ‹Boulevard› soll die alltäglich in der Schmutzpresse verbreiteten Unsäglichkeiten nur verharmlosen und aufhübschen.» (Vgl. «Guck mal, wer da schreibt! The making of Schmierlappenzeitung»)
  • In einer Schmierlappenzeitung sind Personen in erster Linie als Körper und als Geschlechtswesen interessant: Frau X hat sich zum Beispiel die Brust vergrößern lassen, von Herrn Y gibt es ‹Nacktvideos› und Herr Z wird mit einem ‹Luder› in einer Nachtbar gesichtet. Ja, das ist überhaupt das Größte: In den geschlechtlichen Beziehungen sogenannter ‹Prominenter› herumzuschnüffeln - da erreicht der Spießer ungeahnte Erregungshöhepunkte. Merke: «Keine Schmierlappenzeitung ohne die obligatorische tägliche Nackte auf der Titelseite.» (Vgl. «Über die Nacktheit»)
  • In einer Schmierlappenzeitung sind Personen in zweiter Linie als emotionale Wesen interessant, wobei wir seit dem Zeitalter der Schmierlappenzeitungen wissen, daß Gefühle etwas mit dem Weinen zu tun haben. Also müssen Fotos von weinenden, entsetzten, verstörten, gequälten, verletzten Menschen gezeigt werden. Täglich.
  • «In der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes […] wird die Personalisierung des Politischen permanent und pervasiv inszeniert mit Hilfe einer Reduktion komplexer gesellschaftlicher Prozesse auf Personen.» (Vgl. «Abschied vom ‹homo politicus›»)
  • Die Publikationslogik dieser Zeitungen «läßt sich heute Tag für Tag […] betrachten und bewundern: Sie zielt ausschließlich auf die Erregung des ‹kleinen Mannes auf der Straße›. […] In der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes wird in den Überschriften der Titelseite deswegen auch sehr gerne das Wort Wut gewählt, um den Stammlesern - also denen, die beim Lesen ihre Lippen bewegen müssen - schon allein durch diese Wortwahl klar zu machen, daß sie sich gleich erregen werden». (Vgl. «Kultur ist Reichtum an Erregung»)
  • Das Ziel dieser Logik ist die Produktion «vieler bewußtloser, ja stuporesker Sklaven, die an […] die reaktionären Schmierlappenzeitungen als ihre Bewußtseinsproduktionsmaschinen gekettet sind und dort genau die Bilder und Sprachskripte ‹auswählen›, die sie in der ‹Wirklichkeit› sehen sollen.» (Vgl. «Über die Nacktheit»)
  • Nur ein Aperçu am Rande: «Die Partei der ‹Grünen› wird […] von der schlimmsten Schmierlappenzeitung Deutschlands […] gehaßt bis auf's Blut, weil sie als einzige Partei den Eindruck erweckt, sich tatsächlich und uneigennützig für die Zukunft unserer ‹Pólis› zu interessieren.» (Vgl. «Abschied vom ‹homo politicus›»)

  • Fassen wir zusammen: Eine Schmierlappenzeitung macht die Menschen nicht besser, sondern schlechter, nicht klüger, sondern dümmer, nicht gelassener, sondern erregter, nicht bewußter, sondern unbewußter. Eine Schmierlappenzeitung entfernt die Menschen von ihrem Menschsein. Und natürlich ist das ein Verbrechen.


    Eine Schmierlappenzeitung und die Kirchen

    Es begab sich also nun zu einer Zeit, daß eine Schmierlappenzeitung - als Aushängeschild postmoderner Medien - sich als «christlich» gerierte, sich an die Institutionen der Christen, die Kirchen also, heranschmiß, und siehe da, die höchsten Repräsentanten der Kirchen in Deutschland hatten nicht den Mut, sich über den täglich verbreiteten Schmutz und die dauerhafte Verletzung der «10 Gebote» durch eben diese Zeitung zu beklagen und sich so dieser schmierigen Umarmung zu entziehen; nein, die Kirchen freuten sich über dieses «joint venture» mit einem Medium, welches permanent gegen all das verstößt, für das die Kirchen eigentlich eintreten müßten, freuten sich also, endlich «das Wort Gottes» in Form einer zwischen Silikonbrüsten eingeklemmten «Volksbibel» auch zu denen tragen zu dürfen, die weder lesen noch schreiben können und die niemals eine Bibel aufschlagen werden. Mit der gemeinsamen Veröffentlichung einer Bibel, mit der Allianz von Kirchen und Schmierlappenzeitung, erteilen die beiden großen Kirchen der schlimmsten Schmierlappenzeitung dieses Landes die von ihr so sehnlichst ersehnte und doch so kalt und professionell erzwungene Absolution. Das zeigt das moralische Niveau der Kirchen in Deutschland. Denn vom moralischen Niveau der Schmierlappenzeitung war ja nie die Rede, kann nie die Rede sein. Eins steht fest: Die Schmierlappenzeitung darf jetzt mit dem päpstlichen Segen immer so weiter machen wie bisher. Von nun bis in alle Ewigkeit. Amen.


    Nietzsche hat es gewußt

    Friedrich Wilhelm Nietzsche sagt in seinem 1888 geschriebenen Essay «Ecce homo»: «Die Forderung, man solle glauben, daß alles im Grunde in den besten Händen ist, daß ein Buch, die Bibel, eine endgültige Beruhigung über die göttliche Lenkung und Weisheit im Geschick der Menschheit gibt, ist, zurückübersetzt in die Realität, der Wille, die Wahrheit über das erbarmungswürdige Gegenteil davon nicht aufkommen zu lassen, nämlich, daß die Menschheit bisher in den schlechtesten Händen war ...» [1] Friedrich Nietzsche (2000): Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Frankfurt am Main: Insel Verlag. Seite 100f.

    Es ist äußerst reizvoll, hier das Wort Bibel durch den Namen einer Zeitung zu ersetzen. Dann wird deutlich, wie weitsichtig Nietzsche war. Nach der in der Postmoderne vollendeten völligen Profanierung und Säkularisierung, also der Loslösung des Einzelnen aus den Bindungen an die Kirchen, wird heute eine neue Bindung, eine neue Fesselung der Menschen betrieben, nur diesmal nicht mehr an die Kirchen, sondern an das «Spektakel»). Medien, und insbesondere das «Privat-TV»), tun alles, um ihre «Kunden» zu binden, zu halten, zu versklaven: «Schalten Sie jetzt nicht um! Bleiben Sie dran!» Wer täglich die größte Schmierlappenzeitung dieses Landes liest, wird nie mehr ‹umschalten› können. Er wird festgeklebt in niedrigen Erregungen und Meinungen, abgerissen von eigenen Gedanken, allein gelassen im syntaktischen Irgendwo und semantischen Nirgendwo, erstickt im Schmutz des Unwesentlichen und Uneigentlichen, kurz: er wird «entselbstet». Gleichzeitig aber erweckt die Schmierlappenzeitung täglich den Eindruck, bei ihr - als dem einzigen wahren Gott - sei alles in den besten Händen! Dabei ist es in den schlechtesten Händen! Der Glaube an Gott ist heute schlicht ersetzt worden durch den Glauben an «das ganz persönlich jetzt ausgewählte Medium». Doch die Konsequenz ist die gleiche: «Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence.» [2] Friedrich Nietzsche (2000): Ecce homo, a.a.O., Seite 133. Ach Gott, was sind die Menschen handhabbar, handzahm geworden!

    Gehen wir mit Nietzsche noch ein Stück weiter in diesem Gedanken und schauen noch einmal auf die Rolle und die Aufgabe, die die spektaklistischen Medien heute so gerne übernehmen. Über den Christen selbst sagt Friedrich Wilhelm Nietzsche: «Der Christ war bisher das ‹moralische Wesen›, ein Kuriosum ohnegleichen - und, als ‹moralisches Wesen›, absurder, verlogner, eitler, leichtfertiger, sich selber nachteiliger als auch der größte Verächter der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Die christliche Moral - die bösartigste Form des Willens zur Lüge ...» [3] Friedrich Nietzsche (2000): Ecce homo, a.a.O., Seite 132f.

    Lieber Leser, liebe Leserin, versuchen Sie hier noch einmal den Zusammenhang zu postmodernen Medien herzustellen, die sich auf die «Pressefreiheit» berufen und tatsächlich behaupten, sie dienten der «Information» derjenigen, die sich ihnen ausliefern. Ja, die hier skizzierten Medien gerieren sich gar als ‹moralische› Institutionen, doch sind sie nur der Inbegriff des Schlechten. Denn täglich nehmen sie den Menschen ihre Würde. Und der ‹Christ›, der sich diesen Medien ausliefert, ist «sich selbst nachteiliger», als man sich das überhaupt vorstellen kann.


    Schluß

    In der Postmoderne sind Schmierlappen-Journaille und christliche Kirchen auf dem gleichen moralischen Niveau angekommen. Durch die Inszenierung der Herausgabe einer «Volksbibel» definiert die Schmierlappen-Journaille ihre Geschäftsgrundlage: Wir machen die Bibel, ihr erlaßt uns unsere Sünden. Und die Geschäftsgrundlage für die Kirchen besteht darin, sich ihrer Weltverlorenheit nicht mehr schämen zu müssen und die ‹Leute da abholen zu dürfen, wo sie stehen›, mitten im Leben, analphabetisiert und zugeklatscht von triefenden Schmierlappen.

    Doch die Schmierlappenzeitung vergißt eines: Die christlichen Kirchen verfügen schon längst nicht mehr über das moralische Fundament, eine Absolution erteilen zu können. Und die Kirchen vergessen ein anderes: Das Sich-heran-Schmeißen an diese Schmierlappenzeitung zeigt nur, daß die Kirchen dieses moralische Fundament niemals hatten. Nietzsche hatte Recht.



    Erstellt: 2. Dezember 2004 - letzte Überarbeitung: 2. Dezember 2004
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