BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Newspeak - Badspeak»
von Henriette Orheim
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«Wenn er noch einen Funken Ehre im Leib hätte, dann ...»
(Christliche Politikerin)

Newspeak

Ist George Orwells kurz vor seinem Tod im Jahre 1950 erschienener Roman «1984» heute noch ein Thema? Bestimmt nicht, denn wir leben in Frieden und Freiheit. Wir genießen die beste aller Gesellschaftsformen, die Demokratie. Und wir leben im besten aller wirtschaftlichen Systeme, der sozialen Marktwirtschaft, die Wohlstand nicht nur für wenige, sondern für alle schafft.

Die Rezeptionsgeschichte des Romans «1984», besser, die Rezeptionsempfehlungen und -verpflichtungen in Alltag und Schule gingen in den 50er und 60er Jahren regelmäßig dahin, daß es sich bei dem in «1984» geschilderten sozialen System unbedingt um ein «kommunistisches» handeln müsse. Nun, der «Kommunismus» ist tot, er ist ‹vom Westen› besiegt worden. Fragen wir also noch einmal: Spielt der Roman «1984» noch eine Rolle?

Wenn wir heute auf die unvermeidlichen Medien achten, hören wir dann zum Beispiel «Newspeak», eines der wesentlichen gestalterischen Elemente dieses Romans und eines der wesentlichsten Merkmale der in «1984» geschilderten Gesellschaft? Hören oder lesen wir dann Worte, die das, was sie bedeuten, die das, was sie anrichten werden, verbergen, verhüllen, euphemisieren, ja, ins Gegenteil verkehren? Tja, es ist bitter, aber wir müssen ja sagen. Die politischen Profis von heute, die Spin-Doktoren, wissen, daß es nicht darauf ankommt, was geschieht, sondern wie darüber gesprochen wird. Also legen sie im Auftrag der «Herren des Wörterbuchs» fest, wie über die Welt gesprochen wird (Und liefern die dazu passenden TV-Bilder). Nehmen wir nur ein Beispiel: Wenn wir das Wort «Gesundheitsreform» hören, können wir dann davon ausgehen, daß unser aller Gesundheit reformiert, also verbessert, neu gestaltet, auf ein höheres Niveau gehievt wird? Sie lachen, lieber Leser, liebe Leserin, und das zu Recht!

Zu Beginn dieses neuen Jahrtausends läßt sich das, was George Orwell als «Newspeak» bezeichnet, allüberall beobachten. Orwell zitiert insbesondere drei Bedeutungsverkehrungen und -umkehrungen:
War is Peace,
Freedom is Slavery,
Ignorance is Strength.
Es bedarf keiner großen Phantasie, um zu erkennen, wie diese drei Newspeak-Paradoxa heute täglich mit Leben gefüllt werden. Wir müssen nur an einige wenige «Krisenherde» auf dieser Welt denken, um zu verstehen, daß viele Leute heute ganz offensichtlich daran glauben, daß nur mit einem Krieg, in einem Krieg, mit Hilfe eines Dauerkriegszustandes ein Frieden, oder besser, «der Frieden» gesichert werden kann. Und daß unsere große Freiheit im Westen nur erhalten werden kann, indem sie immer weiter eingeschränkt und indem jeder einzelne ‹freie› Bürger immer mehr überwacht wird, ist fast schon ‹common sense›. Und daß schließlich Ignoranz, also eine buchstäbliche, unverblümte Ahnungslosigkeit, Unwissenheit und Unkenntnis eines politischen ‹Führers› von vielen ‹freien› Bürgern gerade als Stärke gesehen wird, erleben wir nicht nur aktuell in den Vereinigten Staaten von Amerika, wir mußten auch in unserem Land über 16 Jahre lang damit fertig werden.

Interessant ist nun, daß zu allen Zeiten Newspeak-Paradoxa am häufigsten, gezieltesten und unverblümtesten von ‹Fundamentalisten› eingesetzt wurden und werden. Nur damit wir uns verstehen: ‹Fundamentalisten› sind Leute, deren Denken und deren epistemologischer Horizont so eingeschränkt ist, daß sie völlig kompromisslos an irgendwelchen ideologischen und/oder religiösen Überzeugungen und Grundsätzen festhalten, komme, was da wolle. ‹Fundamentalisten› wissen, daß sie im Recht sind. Immer.


Badspeak

In Orwells «1984» gibt es kein ‹Badspeak›. Dieses Wort habe ich erfunden, um zusätzlich zum ‹Newspeak› eine Möglichkeit zu schaffen, sprachlich etwas umschreiben zu können, was heute von fundamentalistischen Politikern mit Verve gepflegt wird: Das ‹Schlechtsprechen› des ‹politischen Gegners›. In unserem Land wird das Geschäft des ‹Schlechtsprechens› am eindrucksvollsten und nachhaltigsten von einer ‹christlichen› Partei beherrscht. Schon in der Einleitung zu unserem Arbeitspapier Nr. 5 über ‹Diskussionsskripte› haben wir auf Seite 8 geschrieben: «Wie die Protokolle des Deutschen Bundestages zeigen, kommen die ekelhaftesten und dümmsten Skripte meist von der politischen Rechten, insbesondere der CDU/CSU. Ob das ein Zufall ist?» Nein, das ist kein Zufall, denn nur wer ganz bedingungslos von der Bedeutung der eigenen Person und der Wichtigkeit der eigenen Partei überzeugt ist, das heißt, wem jeglicher Skeptizismus und Pyrrhonismus fremd ist, und das heißt also, wer unsäglich und ganz unverschämt - ohne Scham zu empfinden - sich ‹fundamentalistisch› geriert, kann ununterbrochen übel riechenden Sprachmüll über dem ‹politischen› Gegner ausleeren.

Wenn wir uns heute umschauen und umhören, stellen wir fest, daß die von einer ‹christlichen› Partei eingebrachten Schlechtsprech-Variationen zum großen Teil ganz und gar bedenken- bis besinnungslos sind. Nur Fundamentalisten können, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen, einen Bundeskanzler ‹ganz persönlich› zur Verantwortung dafür ‹heranziehen›, daß irgendwo ein kleines Kind umgebracht wurde. Nur Fundamentalisten dürfen und können in jedem Kommentar zum ‹politischen Gegner› nicht nur die Worte «Chaos, am Ende, Offenbarungseid, gescheitert, ratlos» sondern eben auch «verkommen» und «ehrlos» benutzen. Das ist Fundamentalisten nicht peinlich, denn sie sind ja von der Richtigkeit ‹ihres Weges› überzeugt.

Äußerst interessant zu Beginn dieses Jahrtausends ist, daß den Vertretern des ‹politischen Gegners›, auf die sich der Schlechtsprech-Müll ergießt, bei deren Anrede kein ‹richtiger› oder vollständiger bürgerlicher Name oder Titel eingeräumt wird. Unter Fundamentalisten ist zum Beispiel niemals vom ‹Bundeskanzler› die Rede, wenn vom Bundeskanzler die Rede ist. Und den Bundeskanzler mit einem ‹Bundeskanzler Gerhard Schröder› zu bezeichnen, ist unter Fundamentalisten gänzlich ausgeschlossen. Nicht einmal zu einem ‹Gerhard Schröder› lassen sich Fundamentalisten herab. Nein, der derzeitige Bundeskanzler ist für sie schlicht und einfach ‹Schröder›, sonst nichts. Die Mißachtung, wir könnten auch sagen, der abgrundtiefe ‹fundamentalistische› Haß, ist zu einem Wort geronnen.

Wer dazu neigt, ein wenig darüber nachzudenken, könnte recht schnell darauf kommen, daß allein schon durch diese von ‹christlichen› Fundamentalisten geprägte Wortwahl, dieses lapidare ‹Schröder›, ein Konnotations- und Argumentationshof aufgebaut wird, in dem die dann folgenden täglichen Schlechtsprech-Angriffe gerechtfertigt, ja notwendig erscheinen. Die Bezeichnung ‹Schröder› für den derzeitigen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland könnte somit aus dem ‹Wörterbuch des Unmenschen› stammen (Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W.E. Süskind, 1957). Denn Spin-Doktoren wissen, daß politische Feinde depersonalisiert, enthumanisiert, erniedrigt und entehrt werden müssen. Über den Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem ‹Schröder› zu sprechen, soll aus der Perspektive der Fundamentalisten also zweierlei zeigen, zum einen verdeutlicht ein verächtlich dahin geworfenes ‹Schröder› die Schändlichkeit, Verwerflichkeit, Böswilligkeit und Frevelhaftigkeit dieses Menschen und die dadurch zu Recht verdiente Geringschätzung und Achtlosigkeit bei der Nennung seines Namens, zum anderen rechtfertigt ein ‹Schröder› den unabwendbar folgenden und von fundamentalistischer ‹Gutwilligkeit› getragenen Angriff. ‹Politische Gegner› sind für Fundamentalisten offensichtlich Feinde. Da ist Krieg.

Ich möchte keine weiteren Beispiele für das christliche ‹Badspeak› aufführen, sondern nur noch das oben skizzierte Motto aufgreifen: Die Perfektion in dieser Insinuation läßt auf eine sehr lange und von Bedenken freie Übung schließen. Lassen wir uns das auf der Zunge zergehen: «Wenn er noch einen Funken Ehre im Leib hätte, dann ...» Alles an dieser Schlechtsprech-Attacke ist wohl überlegt, ja, ‹fundamentalistisch› perfekt. Ganz unabhängig vom zweiten Teil des Satzes, unabhängig davon, was die Sprecherin dieses Satzes im zweiten Teil von dem gemeinten ‹politischen Gegner› erwartet, macht der erste Teil des Satzes schon deutlich, daß der ‹politische Gegner› eben keine ‹Ehre im Leib› hat, also ehrlos, und damit rechtlos ist. Das ist eine psychische, keine physische Liquidierung. Da hat der Gegner noch einmal Glück gehabt.

Ich habe noch eine Weile überlegt, ob ich hier die spezifischen pastoralen und salbungsvollen Intonationskonturen der Sprecherin des Satzes «Wenn er noch einen Funken Ehre im Leib hätte, dann ...» beschreiben soll. Aber dann fiel mir ein, daß ich von eben derjenigen, die diesen Satz unter tausenden Schlechtsprech-Äußerungen nur ganz beiläufig formulierte, vor kurzem auch dieses ‹Newspeak› in eben dem pastoralen Tonfall gehört habe: «Wir von der CDU/CSU streben nicht nach Macht und Ämtern, wir möchten nur dabei helfen, die Lage der Menschen in Deutschland zu verbessern.» Und nun frage ich Sie, lieber Leser und liebe Leserin, kann man sich diesen Satz - in der Ihnen zur Genüge bekannten Intonation - in vivo anhören, ohne einen sofortigen Wutanfall zu bekommen und ohne dringlichst um eine Zwangsjacke zu betteln? Nein, das geht eben nicht. Finis.



Erstellt: 12. März 2005 - letzte Überarbeitung: 12. März 2005
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