BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«‹Wissen› als Ware»
von Artus P. Feldmann
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Wissen ist Macht.
(Francis Bacon)

Einführung

Am 15. Juli 2005 schrieb ich eine notwendige Kolumne zum Gang der Wissenschaften in der final-kapitalistischen Postmoderne. Nun, es sieht so aus, als halte die Wissenschaft in ihrem Lauf weder Ochs noch Esel auf. Fast täglich werden der Welt der Tatsachen von hart arbeitenden, ‹unabhängigen› und ‹objektiven› Wissenschaftlern neue, überzeugende, einmalige, grandiose ‹Erkenntnisse› und ‹Befunde› abgerungen. Aber damit nicht genug, denn ebenfalls fast täglich hören wir aufregende Botschaften, was sich unsere kapitalistische Grundordnung unter dem Etikett ‹Wissenschaft› vorstellt, was sie sich von den ‹Wissenschaften› also verspricht und wie folgsam die ‹Wissenschaften› sich nach diesen Erwartungen strecken. Ja, das ist eigentlich mit das Interessanteste, welch vorauseilenden Gehorsam die Leute der ‹Wissenschaft› entwickeln und wie sie sich immer mehr darum bemühen, das Schaffen von ‹Wissen› dem Schaffen von beliebigen Gütern und Produkten anzugleichen. Das sollten wir uns anschauen - indem wir zunächst ein wenig zurück schauen.


Humboldts ‹Universität› - und was daraus geworden ist

Eigentlich kann man von einer Universität, von einem Insgesamt unterschiedlichster Wissensbestrebungen also, nur sprechen unter einer romantischen Perspektive. Wilhelm von Humboldts Ende des 18. Jahrhunderts entworfene ‹Theorie der Bildung des Menschen› sah die zentrale Aufgabe des Menschen darin, sich zu einer umfassend gebildeten, reichen Persönlichkeit zu vervollkommnen. Und gerade die ‹Universitas›, die Gesamtheit der Lehrenden aus den verschiedensten Bereichen des Denkens, sollte die Möglichkeit gewähren, diesen Weg zu gehen. Und wie aktuell erscheint uns heute Wilhelm von Humboldts Kampf für eine Reorganisation des öffentlichen Schulwesens in Preußen aus dem Geist des Humanitätsideals: 1809, zum Leiter des Kultus- und Unterrichtswesens ins Preußische Innenministerium berufen, widersprach Humboldt den damals bereits andauernden und hartnäckigen Bestrebungen, die Universitäten zu höheren Fachschulen umzuformen und die Schulen nach dem Prinzip der unmittelbaren Nützlichkeit auszurichten. Ist das nicht faszinierend? Und: ‹Nützlichkeit› für wen?

In der folgenden und mit der Industrialisierung einher gehenden Moderne wurden die Universitäten gezwungen, zu Fachschulen zu werden. Karl Jaspers sagte 1947 dazu: «Es gilt als selbstverständlich, daß die Wissenschaften mit ihren in Lehrbüchern dargebotenen Ergebnissen gelernt und in den Examina geprüft werden... In einem geordneten Studienplan lernt man in der gehörigen Reihenfolge, was man braucht. Um das andere kümmert man sich nicht. Die Universität ist ein Aggregat von Fachschulen. Diese Auffassung, die weit verbreitet ist, ist der Tod des lebendigen Geistes der Universität.» Der ‹lebendige Geist der Universität›! Ist das nicht rührend? Stellen Sie sich vor, lieber Leser, liebe Leserin, diese Worte würden von irgendjemandem in irgendeiner der üblichen TV-Runden gesagt. Das können Sie sich nicht vorstellen? Hm.

In unserem Arbeitspapier Nr. 11 haben wir uns ausführlich mit den Verschiebungen beschäftigt, die an den Universitäten zu beobachten waren und sind. Auf Seite 27 sagen wir: «In der Romantik war die Institution Universität verbunden mit den Worten Bildung, Gedanken, Verantwortung, geistige Freiheit, Dienst am Menschen und Vertrauen in die Studierenden. In der Romantik wurde in Personen investiert. In der Moderne nun kämpft die Universität ziemlich vergeblich dagegen, zu einer Fachschule gemacht zu werden, in der statt Bildung Fachwissen vermittelt wird, statt Gedanken Meinungen, statt Verantwortung Verantwortungslosigkeit, statt geistiger Freiheit Sachzwänge und statt eines Interesses für einen Dienst am Menschen ein Interesse für einen Dienst an der Sache. Und ganz folgerichtig hat die moderne Universität kein Vertrauen in die geistigen Eigenbewegungen von Studierenden, sie zeigt stattdessen eher ein Mißtrauen. Die wiederum daraus folgende Gängelung der Studierenden durch Studienpläne aller Art vermittelt den Eindruck, als läge unseren UniversitätsbetreiberInnen nur etwas daran, hoch qualifizierte spezielle ProblemlöserInnen für das Kapital auszubilden und sonst gar nichts. Wir meinen, daß die Tendenz, aus Universitäten Fachschulen zu machen, in der Moderne, etwa seit der Jahrhundertwende, kontinuierlich zugenommen hat. Dies zeigt sich vor allem auch in der Tendenz, die Studienorganisation auf Fachschulniveau zu drücken. Das Hauptmotiv aller Beteiligten ist die Effektivierung des Studienablaufs und die Funktionalisierung der Studierenden für die herrschende Wirtschafts- und Geistesordnung. Am liebsten haben alle die StudentInnen, die nach einem Studium bruchlos, übergangslos, gleichsam ohne benötigte Einarbeitungszeit in spezielle Stellennischen passen und sofort im Sinne von AuftraggeberInnen funktionieren. In der Moderne wird nicht in Personen, sondern in deren Qualifikation im Sinne eines Auftragsverständnisses und einer möglichst unbedingten Auftragserfüllungsbereitschaft investiert.»

Und was ist in der derzeitigen Postmoderne aus den Universitäten geworden? Nun, im oben genannten Arbeitspapier Nr. 11 sagen wir: «In der Postmoderne ist die Universität endgültig zu einer Fachschule geworden, was allerdings von kaum jemandem bedauert wird. Die Universität hat sich aufgegeben, sie dient keinen übergeordneten moralischen Werten mehr, sondern allein der Gewinnmaximierung ihrer Angehörigen. Jeder Professor ist ein kleiner Unternehmer, und Unternehmer wollen nicht nur Spaß haben, sondern dabei auch was verdienen. Und StudentInnen wollen auch mal UnternehmerInnen werden, deswegen lernen sie in möglichst kurzer Zeit so viel ‹Wissen› wie möglich.»

Wie hellsichtig wir in der Bochumer Arbeitsgruppe waren und sind, zeigt sich darin, daß Universitäten heute dazu gedrängt werden, im ‹Wettbewerb› zu stehen. Nur naive Romantiker fragen sich, wie die Schafferinnen, die Erzeugerinnen von Wissen in einem ‹Wettbewerb› stehen können, und vor allem, in welchem? Geleitet vom neokonservativen Einheitssprachbrei gibt es da neuerdings einen ‹Wissenschaftsmarkt›, den Universitäten bedienen sollen, gibt es Herausforderungen, die Universitäten anzunehmen haben. Marion Schick hat das ‹verstanden›, deswegen durfte sie Präsidentin der Fachhochschule (sic!) München werden und in der Süddeutschen Zeitung vom 15./16. Oktober ganz zeitgetreu dieses sagen: «Vor allem junge Kolleginnen und Kollegen erwarten heute, daß die Hochschule als eine Wissenschaftsorganisation funktioniert, die ihnen den Support bietet, um am Wissenschaftsmarkt erfolgreich sein zu können.»

Tja, Karl Jaspers hätte sich das vermutlich überhaupt nicht vorstellen können, daß das, was einstmals als ‹Wissenschaft› bezeichnet wurde, sich heute in Gänze dem Kapital an den Hals schmeißt, und daß das, was einstmals ‹Wissen› war, sich heute auf einem Wissenschaftsmarkt zu behaupten hat. Ein Wissenschaftsmarkt. Was wird auf diesem Markt gehandelt? Wissen? Wissensprodukte? Markenartikel des Wissens? Das müssen wir uns anschauen.


‹Wissen›

Mein altes Langenscheidt-Taschenwörterbuch der lateinischen und deutschen Sprache aus dem Jahre 1910 verzeichnet unter ‹scientia› diese Einträge: «Kenntnis, Kunde, Einsicht, (gründliches) Wissen, Wissenschaft.» Bleiben wir beim gründlichen Wissen. Was ist ein gründliches Wissen? Nun, der gesunde Menschenverstand wird hier sagen, das sei ein Wissen, welches mit der Realität, der Wirklichkeit, den Tatsachen übereinstimme. Einmal ‹festgestellt›, gelte es - als Wahrheit - für lange Zeiten. Wir sehen, die Begriffe Wissen und Wahrheit purzeln dem Volksmund gern gemeinsam aus dem Mund. Ein Sozialer Konstruktivist wird dagegen sagen, ein gründliches Wissen sei ein Wissen, welches in mehr oder weniger großen sozialen Räumen als ein gründliches Wissen angesehen werde. Und damit verweist er auf die Transzendenz des ‹Wahren›, auf die Kultur der Wissensproduktion, auf die Bedeutung der Zeitläufte und darauf, daß Wissen von dem, der es sich aneignen möchte, immer wieder neu erfunden und hinterfragt werden muß.

Und wo kommt dieses gründliche Wissen her? Nun, der gesunde Menschenverstand wird sagen, daß Wissenschaftler dieses Wissen ganz selbstlos und in einer objektiven Weise ‹entdecken›. Das ist die naiv-realistische Perspektive. Und ein Sozialer Konstruktivist wird sagen, es werde in mehr oder weniger großen sozialen Räumen hergestellt, konstruiert. Das ist die sozial-konstruktivistische Perspektive. Und ein Sozialer Konstruktivist wird auch sagen, es seien immer soziale Räume, die behaupten, daß sich ein bestimmtes Wissen der Wahrheit annähere - oder gar ‹wahr› sei.

Und jetzt kommt der hoch interessante Knackpunkt einer neokonservativen Definition des ‹Wissens›: Ausgehend von einer fast überall verbreiteten naiv-realistischen Grundhaltung im Wissen schaffenden Alltagsbetrieb und in den das ‹neueste› Wissen gierig rezipierenden Medien - Dank Sir Karl Raimund Popper nennt man diese Naivitäten auch gerne ‹Kritischer Rationalismus› - hat sich in der Postmoderne ein Wissensbegriff etabliert, der immer noch ganz in den Armen des Wahrheitsbegriffs liegt, gleichzeitig aber unter zynischer Verwendung eines ‹schwarzen› Sozialen Konstruktivismus diesen so umdefiniert, daß ‹Wissen› zu einer Ware wird, die mit allen Tricks vermarktet werden kann. Warum sollten für den Verkauf von ‹Wissen› auf dem Wissensmarkt andere Regeln gelten als für den Verkauf von Mobilphonen in einem Kaffeegeschäft? Eben. Nur, wie kann es unter einer naiv-realistischen Perspektive konkurrierendes Wissen geben? Entweder ist ein bestimmtes Wissen doch ‹wahr› oder nicht?

Die neokonservativen Wissenschaftsmanager ‹wissen›, daß der Wissensbegriff selbst heute noch einigermaßen romantizistisch belastet ist, deswegen sprechen sie lieber von ‹Informationen›. Diese Sprachregelung ist sehr geschickt, denn naturgemäß hat ‹Wissen› aufgrund der oben erwähnten stetig zu erneuernden Aneignungsbemühungen nichts mit ‹Informationen› zu tun. Nur Eigenbemühungen und -bewegungen führen ja zu den erwünschten kognitiven Affordanzen. Und es ist sehr geschickt, da beim Reden über ‹Informationen› alle virulenten erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Probleme der Wissenskonstruktion ignoriert werden können. Informationen sind einfach da. Und sie können leicht manipuliert werden.


‹Wissensproduktion›

Interessanterweise wird das Phänomen ‹Wissenschaft› auch heute noch in aller Regel ohne die das jeweilige ‹Wissen› schaffenden Personen und die jeweils dazu gehörigen sozialen Räume gesehen. Das ist aber nicht sinnvoll. Denn Wissenschaft war und ist ein jeweils soziales Projekt, das lokale Vereinbarungen erzeugt, bestimmte Phänomene auf eine bestimmte Art und Weise zu deuten. In diesem sozialen Projekt, in diesem jeweiligen Raum, entstehen also wissenschaftliche Theorien und wissenschaftliche Schulen, in denen das, was als Wissenschaft bezeichnet wird, auch als Wissenschaft gilt, und das, was außerhalb dieses sozialen Projektes als Wissenschaft betrieben wird, nicht als Wissenschaft bezeichnet und somit abgewertet wird. Jeder soziale Raum, in dem Wissenschaft betrieben wird, macht also das Jeweilige zum Allgemeinen.

Von Gutachten in irgendwelchen Prozessen sind wir das ja längst gewohnt, daß jede Seite ‹ihren› Professor vorzeigen kann, der eine für die jeweilige Seite günstige Sicht der Dinge konstruiert. Wir müssen hier nicht über absichtlich falsche oder schlechte Gutachten oder Befunde oder über Betrug und Täuschungen reden, nein, das ist zu billig. Jede wissenschaftliche Aussage, insbesondere die von ‹Wirtschaftsweisen›, läßt sich von dem sozialen Raum, in dem sie getroffen wurde, nicht trennen. Das ist der Witz! Deswegen diese Wirrnis und dieses allfällige Erstaunen: Wissenschaftler, die jeweils die reine Lehre ihres Faches vertreten, können zu diametral entgegengesetzten Befunden kommen und ein völlig unterschiedliches Wissen konstruieren. Wie kann das sein? Nun, Soziale Konstruktivisten haben die Antwort.

Strukturen, Attitüden und Gebärdungen von Wissenschaftlern werden von der jeweiligen Kultur und den Zeitläuften sehr geprägt. Nehmen wir nur einmal ein Verhalten, welches auf das Wohl ‹anderer› Menschen ausgerichtet ist. Gut, das kann man sich heute nicht so gut vorstellen. Beleuchten wir dennoch einmal altruistische Phänomene: Es gab Zeiten in unserer Kultur, wo jemand etwas ‹Gutes› tat und darüber geschwiegen hat. Dann kam die Zeit, in der jemand etwas ‹Gutes› tat und darüber sprach. Heute nun ist die Zeit, in der jemand so tut als tue er etwas ‹Gutes› und er spricht darüber in der einschlägigen Schmierlappenpresse und in diversen Talkshows.

Und jetzt schauen wir mal auf die Wissenschaft: Es gab einmal Zeiten in unserer Kultur, in denen ein Forscher oder eine Forscherin forschte und dazu geschwiegen hat. Klar, alle paar Jahre berichtete der Forscher oder die Forscherin über seine oder ihre Bemühungen die Welt zu entdecken in einer Fachzeitschrift oder auf einem Fachkongreß. Dann kam die Zeit, in denen ein Forscher oder eine Forscherin forschte und immer öfter darüber redete. Denn es mußten ‹Gelder›, gar ‹Drittmittel› besorgt werden. Heute nun tun Forscher und Forscherinnen so, als würden sie forschen, und setzen in jeder Phase ihrer Bemühungen alle erreichbaren Medien ein, um sich am Wissenschaftsmarkt durchzusetzen.

Ein seltsamer Vergleich? Oh nein, deswegen gibt es heute ja Wissenschaftsparks und Kompetenzzentren, in denen ‹Events› stattfinden. Was könnte das sein? Nun, Werbung für einen ‹Wissenschaftsstandort›.


Wissen ist Macht

Zurück zum Motto dieses Traktätchens. Das alte, auf den englischen Philosophen Francis Bacon (1561-1626) zurückgehende, Schlagwort ‹Wissen ist Macht› erfährt in der Postmoderne des entfesselten Kapitalismus eine neue und folgenreiche Bedeutung. Früher meinte man, daß derjenige, der über ein bestimmtes Wissen verfüge, anderen gegenüber in einem Vorteil sei und somit zugleich eine bestimmte Macht ausüben könne. Ach, wie brav gedacht. Heute ist der Begriff des ‹Wissens› ganz und gar undurchsichtig und zynisch geworden. Auf der einen Seite wird in konventioneller Weise behauptet, ‹Wissen› habe ‹wahr› zu sein, und auf der anderen Seite degeneriert ‹Wissen› zur Instant-Information, zu einem Produkt, zu einer Ware, die verkauft werden muß und deren ‹Wahrheitsgehalt› ‹kommuniziert› wird, um es neutral auszudrücken.

Heute versucht man sich Machtpositionen in Alltag, Politik und Wissenschaft zu ergattern, zu erkämpfen und zu erkaufen, indem man irgendetwas als aktuelle Information ausgibt, es damit zu einem Produkt wie jedes andere macht, zu einer Ware, und es anschließend mit allen Mitteln der Werbung vermarktet, bis es zu einer Marke, einem Markenzeichen geworden ist. Und die einschlägigen final-kapitalistischen Dumm-Zeitschriften wie ‹Focus› veröffentlichen dann Ranglisten, welche Wissensproduktionsorganisation zum Beispiel die höchste Credibility hat und die glaubwürdigsten ‹Informationen› abliefert. Wir vermuten mal, daß das diejenige ‹Fachschule› ist, die zur ‹Abschlußfeier› ihre Absolventen in Talare kleidet, mit Narrenkappen versieht und darüber hinaus noch deren Eltern einlädt. Habe ich etwas vergessen?



Erstellt: 11. November 2005 - letzte Überarbeitung: 17. November 2005
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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