BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Konservative Sehnsüchte»
von Henriette Orheim
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‹War is Peace›,
‹Freedom is Slavery›,
‹Ignorance is Strength›.
(George Orwell)

Nach Rechts!

Seit etlichen Jahren schon wird die politische ‹Großwetterlage› aus einer Richtung beeinflußt und geprägt, die sich als ‹rechts› bezeichnen läßt. Deswegen sammeln einige Autoren und Autorinnen der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› als treue Kulturphysiognomiker(innen) immer wieder Materialien, die diesen Trend beschreiben und verdeutlichen.

In unserem ‹Arbeitspapier Nr. 14› haben wir uns mit den Versprechungen des großen postmodernen Projektes beschäftigt, und was wir fanden, war eine Gesellschaft, die ganz treffend als ‹Merkatokratie› zu bezeichnen ist. Die ‹merkantilistische Demoralisierung› der Menschen durch ‹Tiefpreiskultur› und ‹proletische Ästhetik›, die geschickte attributive Verlagerung von Armut und Ungleichheit auf eine ‹Eigenverantwortung›, die ‹Neuen Spielregeln der Ausbeutung› und schließlich die Kapitulation der Politik im Zeitalter des darwinistischen Neoliberalismus wurden von uns bereits beschrieben. Wir arbeiten aber weiter daran, eines Tages eine umfangreiche Studie dessen vorstellen zu können, was wir unter einem ‹Weg nach rechts› zusammenfassen würden.

In diesem Traktat möchte ich ein weiteres Bestimmungsstück dieses Weges vorstellen, welches in wenigen Jahren eine große und dann ganz selbstverständliche, ja beiläufige Rolle spielen wird. In meinem Traktat ‹Newspeak-Badspeak› habe ich erste Gedanken zu diesem sich so deutlich abzeichnenden Trend fest gehalten:

  • Wir müssen nur an einige wenige ‹Krisenherde› auf dieser Welt denken, um zu verstehen, daß viele Leute heute ganz offensichtlich daran glauben, daß nur mit einem Krieg, in einem Krieg, mit Hilfe eines Dauerkriegszustandes ein Frieden, oder besser, ‹der Frieden› gesichert werden kann. Und daß unsere große Freiheit im Westen nur erhalten werden kann, indem sie immer weiter eingeschränkt und indem jeder einzelne ‹freie› Bürger immer mehr überwacht wird, ist fast schon ‹common sense›.

  • Ja, daß man Frieden schafft, indem man Krieg führt, daß die Freiheit verteidigt wird, indem man sie einschränkt, daß immer mehr Überwachungen, Überprüfungen und Spionierereien unseren Lebensraum leichter, heiterer und vor allem ‹sicherer› machen sollen, dies ist schon Alltagsrede. Dabei ist es überaus interessant, daß grobe Widersprüche in den geplanten und bereits etablierten politischen Aktionen offensichtlich niemanden interessieren. Das Motto ist: Erst die Einschränkung der Freiheit, erst die völlige und lückenlose Überwachung des Einzelnen schafft - Freiheit. Das erinnert doch sehr an George Orwell.

    Aber es kommen heute immer öfter martialische Posen, Absichten und Taten dazu. Der derzeitige ‹Verteidigungsminister› der Bundesrepublik zum Beispiel - der in Hessen schon einmal als ein Irgendwas-Partei-Funktionär zurücktreten mußte, weil ‹seiner› dortigen CDU wunderbare ‹jüdische Vermächtnisse› vom Himmel direkt in den Schoß fielen - würde schon gerne, sehr gerne, ganz persönlich den Befehl geben, ein Flugzeug abzuschießen, welches nebst unschuldigen Passagieren auch mit ‹fremden›, ‹bösen› Menschen über uns schwebend eine ‹Gefahr für die Allgemeinheit› darstellen könnte. Hach, diese köstliche Vorstellung, dieser Imaginationsrausch: Da ‹dringt› ein im Ausland entführtes Flugzeug in ‹Deutsches Hoheitsgebiet› ein und ein Verteidigungsminister gibt den Befehl, dieses Flugzeug nach ‹Kriegsrecht› abzuschießen. Herrlich!

    Daß das Verfassungsgericht unserer Republik derzeit noch dagegen ist, kann den Verteidigungsminister in seinem Diensteifer natürlich nicht bremsen. Er will handeln. Endlich handeln. Er will - ganz persönlich jetzt - die ‹Freiheit› verteidigen. Und alle wissen: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Und: Für die ‹Freiheit› müssen Opfer gebracht werden. Und: Wir sind kein schlapper Staat. Und: ‹Wir sind Deutschland›.

    Und der derzeitige ‹Innenminister› möchte nicht nur endlich im ‹Inneren› überall Soldaten sehen, die uns persönlich und unsere ‹Freiheit› mit der entsicherten Waffe in der Hand schützen und verteidigen, sondern auch das ‹Fremde› in den Griff bekommen, falls er es nicht wieder nach Hause befördern kann. Und sollte es bei diesem ‹Heimatschutz› zu Kollateralschäden kommen, zeigt das doch nur, wie ernsthaft dieser ‹Innenminister› - ganz persönlich jetzt - unser aller Freiheit verteidigt.

    Doch das ist noch nicht alles. Es gibt ernsthafte Diskussionen darüber, ob nicht ‹ein bißchen Folter› erlaubt sein sollte, wenn man dadurch ‹Leben retten› kann. Es gibt auch schon begleitende Begriffe dafür: ‹Rettungsfolter›, ‹Sicherheitsfolter›. Alles klar? Ja. Klar ist auch, daß irgendwann eine Ethik-Kommission mit Personen des ‹öffentlichen Lebens› eingerichtet werden wird, die uns allen erklärt, daß ‹ein bißchen Folter› gar nicht so schlimm sei, wenn es sich doch bei den Gefolterten um ‹fremde› Terroristen und andere ‹Schwerverbrecher› handele! Hey, die ‹Sicherheitsfolter› schützt uns alle! Und überhaupt: Opferschutz geht doch wohl vor Täterschutz! Tja. Wie schnell doch das Denken zum Stillstand kommt.

    Angeregt von den USA gibt es bei uns auch Überlegungen, Menschen, die zum Feind erklärt werden, das eigentlich allen Menschen unseres Landes zustehende Rechtssystem mit seinen besonderen Verfahrensweisen vorzuenthalten und ihnen einen ‹Sonderstatus› zuzuweisen. Nun, wenn es doch ein Feind ist? Natürlich sind die in diesen Zusammenhängen zur Rechtfertigung konstruierten Beispiele von einer ganz abenteuerlichen Dummheit, aber das macht nichts. Die Agenda ist gesetzt, die Schmierlappenpresse ‹springt› an und Politiker müssen zeigen, daß sie - ganz persönlich jetzt - auf der Höhe der Zeit sind. Sind sie ja auch.

    Es ist ein seltsam radikalisiertes Klima derzeit, welches - natürlich angeregt von den unglaublichen Vorgängen in den USA - unserer politischen Klasse den Kopf verdreht, da kommt ein Wind auf, nach dem vor allem unsere ‹christlich› orientierten Wichtigkeitswichtel ihre Mäntel drehen und hängen. Hoffen sie auf einen neuen Kreuzzug? Wir müssen uns das näher ansehen, lieber Leser und liebe Leserin, und vor allem diese Entwicklung auf ihren Bedeutungs-Kern zurückführen. Ganz so, wie Sie es von uns - zu Recht - gewohnt sind.


    Zwischenspiel

    In Delmer Daves' Western ‹Broken Arrow› von 1950 gibt es eine Szene, die uns auf den Hauptpunkt meiner Argumentation in diesem Traktat vorbereitet. Tom Jeffords (gespielt von James Stewart) erzählt in einem Saloon, er habe ein verletztes Indianerkind gefunden und gesund gepflegt. Dies stößt bei den anderen Saloon-Besuchern, für die ein ‹guter Indianer› nur ein ‹toter Indianer› sein kann, auf großes Unverständnis. Als Tom Jeffords später versucht, mit dem Indianerhäuptling Cochise (gespielt von Jeff Chandler) eine Art Friedensvertrag zu vereinbaren - mit Details einer beiderseitigen Konduite - und so ein Zusammenleben von ‹weißen› und ‹roten› Menschen in einer bestimmten Region zu ermöglichen, reagiert die übliche Saloon-Besatzung rabiat, als sie davon erfährt. Tom Jeffords wird als ‹Indianer-Freund› bezeichnet und verurteilt, sogleich im Saloon ergriffen, unter großem Gejohle nach draußen gezerrt und aufgehängt. Im letzten Moment wird er allerdings von einem Offizier der Nordstaaten gerettet. Schade, das war dann kein schöner Tag für den Saloon-Mob.

    Wie immer verraten uns Filme, und insbesondere alte Western, nicht nur viel über die Abgründe der menschlichen Psyche, sondern auch insbesondere über die Möglichkeiten des Zusammenlebens in sozialen Räumen. So auch hier. Man könnte den Film komplett in die Jetztzeit übertragen und neu drehen, statt der Gattung ‹Indianer› müßte man nur die Gattung ‹Terrorist› nehmen. Vermutlich würde der derzeitige Ministerpräsident von Bayern vehement gegen die Aufführung dieses Filmes wettern und sich darüber ‹schwarz› ärgern, daß er diese nicht verhindern kann. Na ja, kommt Zeit kommt Rat.


    ‹Gewaltenteilung›

    Im oben kurz skizzierten Film ‹Broken Arrow› gerieren sich die Saloon-Besucher als Gesetzgeber, als Richter und als Henker. Und das innerhalb einer Minute. Und im oben skizzierten Wunsch eines Verteidigungsministers, ein von ‹Terroristen› entführtes Flugzeug abschießen zu dürfen, vermengen sich rechtliche Sanktionen, die zugleich Strafverfolgung, polizeiliche Prävention und Krieg sind. In beiden Fällen stehen wir vor einem grandiosen Rausch der Omnipotenz. Und damit komme ich zum eigentlichen Punkt, zur Pointe dieses Traktätchens.

    Unter ‹Gewaltenteilung› versteht man gemeinhin die Trennung von gesetzgebender, ausführender und richterlicher Staatsgewalt. Das vornehme demokratische Prinzip der ‹Gewaltenteilung› sieht vor, daß Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Ausübung und Durchsetzung von Gesetzen) und Judikative (Rechtsprechung an Hand von Gesetzen und Regeln) von voneinander unabhängigen Staatsorganen (Parlament, Regierung, Gerichte) ausgeübt werden. Diese aufklärerische Idee der ‹Gewaltenteilung› wurde zuerst wohl von John Locke (1632-1704) skizziert, und dies zu einer Zeit, als Philosophen noch vom göttlichen Recht königlicher Herrschaft schwärmten. Locke schlug zur Verhinderung von Machtmißbrauch und um bürgerliche Freiheiten rechtsstaatlich abzusichern zunächst nur die Trennung von Legislative und Exekutive vor. Charles de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689-1755), sollte dann 1748 in seinem Werk ‹De l'esprit des lois› die Gewaltenteilung als ein System des Gleichgewichts präzisieren.

    Wir können die Leistungen Lockes und Montesquieus nicht hoch genug einschätzen. Beide haben das Bild vom bürgerlich-liberalen und demokratischen Verfassungsstaat entscheidend mit geprägt. Nicht ohne Grund lehnen sich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, der französische Verfassungsentwurf von 1791, die Weimarer Reichsverfassung von 1919 sowie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 an diese Idee an.

    Und jetzt, im Jahr 2006, machen wir die überraschende Feststellung, daß die aufklärerische Idee der Gewaltenteilung zur Disposition steht. Wer hätte das gedacht! Klar, wenn wir uns dieses hehre Prinzip betrachten, leuchtet uns sogleich ein, daß es zu allen Zeiten und durch alle handelnden Personen in allen sozialen Räumen gefährdet ist und war. Kleine Despoten, Operetten-Fürsten und dumme, dröhnende Menschen gibt es überall. Aber daß eine der größten Demokratien der westlichen Welt es zuläßt, daß ihr Präsident das Gesetz erfindet, ‹Feinden› die bürgerlichen Rechte abzusprechen (Legislative), diese daraufhin ohne rechtlichen Schutz irgendwo festnehmen (Exekutive) und auf Jahre hin einsperren läßt (Judikative), das ist neu. Und es steht zu befürchten, daß diese präpotente Verfahrensweise bestimmte Sehnsüchte konservativer Männer in Deutschland weckt.


    ‹Regeln sind für Schwache!›

    Wie kann das sein? Nun, hier trifft sich dieser ‹Sog nach Rechts› mit einem Spezifikum der Postmoderne, welches wir schon in mehreren Traktaten beschrieben haben. Die Sätze ‹Das muß doch jeder selbst am besten wissen!› oder ‹Das muß doch jeder selbst für sich entscheiden!› definieren ziemlich genau, um was es geht: Den absoluten Individualismus und die Verachtung von ‹fremden› sozialen Räumen und - Regeln und Gesetzen. In meinem Essay ‹So viel ‹Ich› war nie› schrieb ich:

  • ‹Ich›-Inflation! ‹Ich›-Welle! ‹Ich›-Flut! Sehr viele Menschen sprechen heute ununterbrochen von ihrem ‹Ich›. Das bedeutetet: Sehr viele Menschen behaupten heute - in einer großen Selbstverständlichkeit - ein ‹Ich› zu haben! Und, was besonders auffällt in Diskursen aller Art: Alle Menschen verlangen permanent, daß ihr ‹Ich› angemessen gewürdigt und berücksichtigt werde, daß es eine diskursive Wichtigkeit, ein Gewicht, eine Gewichtigkeit erfahre, ja daß es als Instanz von großer Bedeutung angesehen werden sollte. Sie stellen also Forderungen, leiten Ansprüche aus der schieren Existenz ihres ‹Ichs› ab. Und wenn wir weiter in die Diskurse und die kommunikativen Akte hineinleuchten, hören wir, daß sehr viele Menschen meinen, daß ihr ‹Ich› die letzte Rechtfertigungsinstanz für ein Geschehen aller Art sei.

  • Helmut Hansen hat in seinen Traktaten ‹Abschied vom ‹homo politicus››, ‹Als ‹Ich› in der Dienstleistungsgesellschaft› und in dem - mit mir zusammen geschriebenen - ‹Abschied von jeder Haltung› ziemlich genau aufgezeigt, wie ein postmodernes ‹Ich› eine ‹Haltung› nur zu sich selbst einnehmen kann und nicht zu ethischen oder ‹höheren› Dingen. Es kann nichts ‹Übergeordnetes› geben, keine Pólis von Interesse, keine sozialen Räume, die zu pflegen, keine sozialen Beziehungen, die zu beschwichtigen wären. Vor allem kann es keine Regeln und Gesetze geben. Es gibt nur das ‹Ich›. Und das ‹Ich› ist Gesetz. ‹Ich›-Stärke gilt als ‹Führungsstärke›. Und Regeln sind für Schwache.

    Wenn also ein Politiker meint, er ‹ganz persönlich› müsse sich um unsere Sicherheit kümmern, wird es gefährlich. Er sollte sich statt dessen schlicht an Recht und Gesetz halten.


    Schluß

    Das urdemokratische Prinzip der Gewaltenteilung ist in Bedrängnis. Wichtigkeitswichtel versuchen sich zu profilieren, indem sie vermeintliche ‹Gefahren› von unserer Pólis abzuwehren versuchen und dabei die Verfassung unseres demokratischen Gemeinwesens gefährden. Eine der großen Sehnsüchte konservativer Politiker (und vieler anderer geistig unbeweglicher Menschen) ist die Aufhebung der Gewaltenteilung, die eine der herausragendsten gesellschaftlichen Leistungen der Neuzeit ist. Und wenn wir an George Orwell denken, dann ist uns sogleich klar, daß diese Sehnsüchte sich am besten und glattesten erfüllen lassen, indem man als Exekutive schlicht einen ‹permanenten Notstand› ausruft, besser noch einen Krieg. Und wenn man dann noch gleichzeitig verspricht, daß dieser Krieg - etwa gegen den ‹internationalen Terrorismus› - bis zum ‹Endsieg› geführt wird, also überschaubar die nächsten einhundert Jahre, dann ahnen wir, wie es weiter gehen wird: Wer nicht für uns, ist gegen uns, und wer gegen uns ist, darf ein bißchen gefoltert und seiner Rechte beraubt werden. Schließlich ist ja Krieg, und die Heimat muß verteidigt werden. Sollte die Exekutive irgendwann feststellen, daß der Krieg so nicht zu gewinnen ist, und dies wird sie feststellen, dann zeigt das nur, daß die angewandten Mittel noch nicht ausreichend waren, um den ‹Feind› im Inneren wie im Äußeren endgültig zu besiegen. Also folgt ein ‹Mehr desselben›: Noch mehr Verdächtigungen, Überwachungen und Einschränkungen der Bürgerrechte.

    Die Demokratie verliert ihren Charme, und die vielen ‹Ichs›, die glauben, in ihrem Alltag alles für sich selbst entscheiden zu müssen, merken es nicht. Und registrierten sie es, würde es sie nicht interessieren. Sie würden mit einem Achselzucken darüber hinweg gehen.



    Erstellt: 20. März 2006 - letzte Überarbeitung: 20. März 2006
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