BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Bildung»
von Albertine Devilder
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Einführung

Nein, nein, liebe Leser und Leserinnen, dies wird kein hämischer Text über das ‹Abschneiden› deutscher Jugendlicher in irgendwelchen PISA-Tests [1] Vgl. etwa: Baumert, J., Artelt, C., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U., Schneider, W., Tillmann, K. J., & Weiß, M. (Hrsg.) (2003). PISA 2000. Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + Budrich.. Es geht auch nicht um die vielen jungen Leute, die in unserem Land keinen Schulabschluß ‹erwerben›. Auch werde ich nicht über die Ökonomisierung von Studiengängen oder den nicht mehr zu vermeidenden Abschied von der ‹Universität› jammern. Nein, ich möchte nur ein wenig nachdenken über das, was wir heute, zu Beginn dieses gerade angebrochenen Jahrtausends, unter ‹Bildung› verstehen. Eine kleine Wirklichkeitsprüfung könnte uns hier die Augen öffnen.


Was ist Bildung?

Der Begriff ‹Allgemeine Bildung› ist schon weit vor der Romantik [2] Vgl. dazu das Arbeitspapier Nr. 11: Zur Kulturphysiognomik von Romantik, Moderne und Postmoderne. diskurriert worden. Der berühmte Johann Amos Comenius [3] Die hier folgenden Zitate sind entnommen der ‹Office-Bibliothek›. Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2004. zum Beispiel vertrat bereits 1657 den Anspruch, «alle alles zu lehren», und damit meinte er, daß «alle Heranwachsenden einer Generation unabhängig von Herkunft und Stand» zu bilden und als «Lernende in öffentlichen Schulen mit den Grundlagen der Kultur vertraut zu machen» seien. Das hehre Ziel schimmert durch diese Worte: «Schüler sollten selbstständig in der Gesellschaft lern- und handlungsfähig werden und zur Zivilisierung der Kultur beitragen». Und viele der folgenden Bildungsforscher und Pädagogen haben Comenius zugestimmt, daß dieses hohe Bildungsziel nicht zu erreichen sei, indem junge Leute nur Kenntnisse und Fertigkeiten erwürben. Nein, Ziel einer ‹Bildung› von jungen Menschen war immer ein ‹Mehr›, etwas weiter gehendes; einige würden heute sagen, es gehe hier um das ‹Lernen des Lernens›, andere würden von der ‹Formung des Menschen im Hinblick auf seine geistigen, seelischen, kulturellen und sozialen Fähigkeiten› reden, und wieder andere davon, daß ‹Bildung› die Teilhabe an einer bestimmten Kultur ermöglichen sollte, ja einige sprechen gar über so etwa wie ‹Herzensbildung›. Soll ich noch Wilhelm von Humboldt erwähnen? Nein, wir ahnen was gemeint ist. Vielleicht kann ich es so sagen: Bildung ist Lernen durch Aneignung, ist ein mühseliges eigenes Nachvollziehen, ist Akkomodation, also ein sich die Dinge selbst ausdenken, mit dem Ziel, sich in einer Pólis zurechtzufinden und diese mitzugestalten.

Halten wir also etwas ganz wesentliches fest: Bildung ist mehr als Ausbildung. Wir können vielleicht sagen, daß Bildung im Idealfall zu einer Freiheit des Urteilens und Handelns führt, während bei einer Ausbildung die Anpassung an vorgegebene Verhältnisse im Mittelpunkt steht. Und schon wird uns verständlich, warum das dreigliederige Schulsystem ‹die da unten› nur auf ‹Ausbildungsplätze› vorbereitet, während die Bürgerkinder in Universitäten gebildet werden. Wir kommen gleich darauf zurück.


Bildung in der Postmoderne

In dem bereits oben in einer Fußnote erwähnten Arbeitspapier Nr. 11 hat die Bochumer Arbeitsgruppe liebevoll die unterschiedlichen Bildungs- und Erziehungsziele in Romantik, Moderne und Postmoderne dekliniert. Wenn Sie, lieber Leser und liebe Leserin, diese Kapitel studieren, dann werden Sie sehen, daß ‹Bildung› als pädagogisches Konzept sich in der Postmoderne verschiedenen Dilemmata gegenüber sieht. Solange es noch etwas ältere Bildungsforscher gibt, wird in Festreden weiter leicht romantisch argumentiert werden, indem man sagt, Bildung könne nicht nur ein spiegelbildliches Pendant zur Arbeitswelt sein. Nun, diese zunehmend leiser werdenden Stimmen werden aber bald verschwunden sein. Vermutlich wird das Wort ‹Bildung› selbst bald verschwinden, denn seit Jahren schon lassen die ‹Herren des Wörterbuchs› ihre Prediger predigen, alle ‹Bildung› in Schule und Universität habe auf das Leben oder die ‹Realität› vorzubereiten. Was ist hier mit Leben und Realität gemeint? Nun, die Realität des Berufs- und Wirtschaftslebens. Das können wir aber noch genauer sagen: ‹Bildung› heißt in der Postmoderne, zu verstehen und zu akzeptieren, daß unser gesamtes Leben an betriebswirtschaftlichen und ökonomistischen Maßstäben zu messen ist. Oder anders: Überall ist der Drang zu beobachten, die Prinzipien des Marktes und der Betriebswirtschaft auf Schule und Universität zu übertragen! Schulen stehen heute im Wettbewerb und nehmen Herausforderungen an. Das muß man sich einmal vorstellen.


Qualifikation statt Bildung

Schauen wir kurz auf die Institutionen, die früher einmal ‹Universitäten› hießen. Karl Hauer sagte es im Jahr 1907 (!) so: «Wir haben die Bildung zu einem Kinematographentheater umgestaltet, in dem auf einem endlosen Film eine Kette von wahl- und zusammenhanglosen Momentbildern sich abhaspelt. Und wir ergötzen uns an dem Hastigen, Flimmernden, Unruhigen, Flüchtigen und Halbgesehenen ...» [4] Zitiert nach: Karl Kraus. Die Fackel Nr. 230 vom 15. Juli 1907, Seite 10. Ach, welch ein Weitblick. Und Karl Jaspers sagte 1947 (!): «Es gilt als selbstverständlich, daß die Wissenschaften mit ihren in Lehrbüchern dargebotenen Ergebnissen gelernt und in den Examina geprüft werden... In einem geordneten Studienplan lernt man in der gehörigen Reihenfolge, was man braucht. Um das andere kümmert man sich nicht. Die Universität ist ein Aggregat von Fachschulen. Diese Auffassung, die weit verbreitet ist, ist der Tod des lebendigen Geistes der Universität.»

Und diese Auffassung war noch das Erziehungs- und Lehrkonzept der sachlichen Moderne. Die mittlerweile völlige Verschulung, die große Eile, die allen Studierenden anempfohlen wird, und die aktive Ausmerzung von Refraktärphasen, Besinnungsmöglichkeiten, Frage-Diskursen oder epistemologischen und wissenschaftstheoretischen ‹Grübeleien› ist in der Postmoderne perfektioniert worden.

Dazu kommt, daß unter dem Primat des Ökonomistischen selbst Hochschulen, also Fachschulen, sich irgendeinem Wettbewerb zu stellen haben. Worin dieser Wettbewerb besteht, weiß keiner zu sagen. Welche Auswirkungen er hat, ist im neuen Besoldungsrecht für Professoren zu sehen. Wer Gelder vom Kapital in die Fachschule lenken kann, darf ganz persönlich mehr verdienen. Die Hauptaufgabe postmoderner Professoren ist also nicht, schöne Lehrveranstaltungen zu machen, sich selbst zu bilden oder nachhaltige Ideen in ihr Fach einzubringen, nein, es ist das ‹Eintreiben von Drittmitteln›. Auf Deutsch: Professoren versuchen vom Kapital Geld dafür zu bekommen, daß sie in den Räumen der Fachschule - ohne Miete dafür zu zahlen - ‹wissenschaftliche› Untersuchungen durchführen, deren Ergebnisse dem Kapital zu Gute kommen. Selbstverständlich entscheidet der Geldgeber, ob wissenschaftliche ‹Befunde›, sagen wir mal, ‹Befunde› einer Pharmastudie, veröffentlicht werden. ‹Wer zahlt, schafft an.› Ökonomistische Logik auf Fachschulniveau.

An den Fachschulen, die einmal Universitäten waren, geht es heute nicht mehr um Bildung, sondern um Qualifikationen. Diese Qualifikationen sollen darauf verweisen, daß der Qualifizierte sich im finalen Kapitalismus nicht nur auskennt, sondern ihn auch unterstützen wird. Am besten ist es, Studierwillige nur ein wenig in ein Fach hineinschnuppern zu lassen, um sie dann, bevor auch nur einem von ihnen eine Frage einfallen könnte, hurtigst mit einer BA-Belobigung zu entlassen. ‹Bachelor of Arts›: Das wird die Qualifikation aller Erfolgreichen in der Zukunft sein!

Nur nebenbei: Wenn es um Qualifikationen geht, lassen sich Hochschulprüfungen ganz wunderbar mit Hilfe von Multiple-Choice-Fragen erledigen, die das Auswendiglernen belohnen und nicht das Verstehen. Akzeptiert werden diese Fragebögen von den Studierenden, da jeder von ihnen schon einmal «Wer wird Millionär?» gesehen hat. In diesem TV-Format wird Guckern ja vorgegaukelt, die Beantwortung einer dieser wahllosen Fragen habe etwas mit Bildung zu tun. Damit sprechen wir über interessante Synergieeffekte in der Gesellschaft des Spektakels.

Für die Professoren sind Multiple-Choice-Tests, die von Hilfskräften ausgewertet werden können, natürlich sehr angenehm, sind sie doch - ganz persönlich jetzt - der zeitraubenden mündlichen Prüfungen enthoben. Tja, das sollten wir als Abschied festhalten: Es wird bald keinerlei ‹mündliche Prüfungen› mehr geben. Professoren werden nicht mehr die Gedankenwelt ihrer Studierenden und ihre wunderbar anregenden Idiosynkrasien kennen lernen.


Bildungsfeindlichkeit

Weiter oben habe ich skizziert, wie Comenius, der Urvater aller Pädagogen, die Forderung erhob, «alle alles zu lehren», und damit meinte, daß «alle Heranwachsenden einer Generation unabhängig von Herkunft und Stand» zu bilden seien. ‹Unabhängig von Herkunft und Stand›? Um Gottes Willen, da sei des Bürgers Wille davor. Deswegen geht es seit Mitte des vorvorigen Jahrhunderts in unserem Gemeinwesen eben nicht um Bildung für alle, sondern um Auslese. Nur etwa ein Drittel eines Schuljahrganges machen derzeit bei uns Abitur und könnten damit eine Hochschule besuchen, die Abiturientenzahlen sind in den meisten Ländern der EU fast doppelt so hoch. Und damit sind wir beim Kern angelangt, bei der Drei-Klassen-Schule.

Unser gegliedertes Schulsystem ist vom Bürgertum geschaffen worden, um Sozialschichten voneinander abzugrenzen und die Kinder, die in diesen unterschiedlichen sozialen Strata geboren werden, möglichst schon ganz früh und dann ein für allemal in ihre jeweilige Klasse einzusperren. Heute wird über Neun- bis Zehnjährige entschieden, ob sie mit 18 oder 19 Jahren geistig in der Lage sein werden, eine Hochschule zu besuchen. Das scheint in dem Alter bereits festzustehen, sagt der bürgerliche Volksmund. Vermutlich liegt die Studierfähigkeit gar in den Genen, denn eine Entwicklung zum Guten hin scheint hier nicht vorgesehen zu sein. Völlig konsequent ist daher die Forderung einer christlichen Landesregierung, den Eltern bei der Entscheidung, ob ein Besuch des Gymnasiums für ihr Kind angebracht erscheint, kein Mitspracherecht einzuräumen. Schichtwechsel? Wo kämen wir da hin?

Wir merken, wie seit weit über hundert Jahren versucht wird, Sozialschichten festzuzurren und Mobilität und Flexibilität zu vereiteln. Förderung, oder das Entdecken von Talenten, ist in diesem Drei-Klassen-Schulrecht nicht vorgesehen, statt dessen wünschen alle Bürger eine rigorose Selektion und beten, daß ihre eigenen Kinder zu den happy few gehören werden. Da diese Selektionen nicht nur nach Schulleistung, sondern auch nach der gesellschaftliche Stellung der Eltern vollzogen werden, können die meisten Bürger beruhigt sein. Ihr Kind wird zwar nicht gebildet, aber es darf dazu gehören. Wohin diese rigorose Selektion führt, läßt sich am besten in Bayern beobachten.

Und das sollten wir noch einmal aufgreifen: Wer dazugehören darf, wer studieren darf, wird dennoch nicht gebildet werden, sondern ausgebildet. Bildung heißt eben nicht, in einem ‹Aldi-Süd-Hörsaal› eine Power-Point-Präsentation, die hin und wieder von Werbeeinblendungen weiterer Sponsoren unterbrochen wird, mit dem vor einem liegenden Ausdruck derselben Power-Point-Präsentation zu vergleichen und die Wörter zu markieren, die für den nächsten Multiple-Choice-Test auswendig zu lernen sind.

Und worin werden die Studierenden ausgebildet? Sagen wir es noch einmal: In einem marktwirtschaftlichen Auftragsverständnis. Studierende sollen - möglichst schnell - die Grundidee des ‹freien› Marktes und die Überlegenheit ökonomistischer Lehren akzeptieren, um später bei der Auftragserfüllung für andere für eben diese einen Mehrwert zu schaffen. That's all you've got to know. Punkt.



Erstellt: 12. November 2006 - letzte Überarbeitung: 16. November 2006
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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