BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ego-Shooter»
von Henriette Orheim
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Subjektive Kamera

Die sog. ‹subjektive Kamera› ist in der Welt des Films ein ‹alter Hut›. Dieses schon vor zig Jahren eingesetzte filmische Mittel drängt den Zuschauer oder die Zuschauerin in die subjektive Perspektive eines Darstellers oder einer Darstellerin, indem es einen Ausschnitt der im Film skizzierten Welt präsentiert, der dem aktuellen Gesichtsfeld des Darstellers entspricht. Die Zuschauer und Zuschauerinnen sehen die Welt also gleichsam mit den Augen des Darstellers oder der Darstellerin. Dabei können Zuschauer und Zuschauerin den Darsteller selbst in den Filmpassagen, die mit einer subjektiven Kamera aufgenommen wurden, nicht oder nur in kleinen Ausschnitten sehen - etwa die Füße oder Hände.

Ein gutes Beispiel für einen Film, der in längeren Passagen mit einer ‹subjektiven Kamera› gedreht wurde, ist Delmer Daves Thriller ‹Dark Passage› von 1947, den Artus P. Feldmann in seinem Essay über den ‹Abschied von der Taxi-Kultur› vorgestellt hat. Meines unmaßgeblichen Wissens nach gibt es nur einen Film, der als Ganzes mit der Technik einer ‹subjektiven Kamera› gedreht wurde: Robert Montgomerys ‹Lady in the Lake›, seltsamerweise ebenfalls aus dem Jahr 1947 stammend.


Point of View

Die Technik der ‹subjektiven Kamera›, im Deutschen auch oft schlicht die ‹Subjektive› genannt, wird im englischsprachigen Raum als ‹Point of View› bezeichnet, abgekürzt POV. Wer nur geringfügig über pornographische Filme oder Fotos für Männer nachdenkt, wird schnell auf den Gedanken kommen, daß pornographische ‹Point of View-Filme› den Geschmack von Männern besser zu treffen scheinen als ‹Voyeur-Filme›, in denen eine sexuelle Handlung von außen betrachtet wird. In einem pornographischen ‹Point of View-Film› hält der Akteur selbst gleichsam die Kamera in der Hand und filmt, wie eine andere Person an ihm herum macht. Dies soll für die Zuschauer dieser Szenen den Eindruck erwecken, als würden die sexuellen Handlungen an ihnen selbst vorgenommen.


Ego-Shooter

Vermutlich ist der Begriff ‹Ego-Shooter› entstanden, um bestimmte Arten von Computerspielen zu beschreiben. Gemeint damit ist eine Kameraperspektive, die der oben beschriebenen ‹subjektiven Kamera› entspricht. Der Spieler eines ‹Ego-Shooter-Spiels› sieht und steuert also nicht die Spielfigur, die Hauptperson des Spiels, aus einer ‹Voyeur-Perspektive, wie das bei dem ganz alten Spiel ‹DonkeyKong› noch der Fall war, sondern er übernimmt selbst die Position der Spielfigur. Die Darstellung der verschiedenen Umgebungen der Spielwelt erfolgt also ausschließlich durch die Augen der Spielfigur, also desjenigen, der das Spiel spielt. In aller Regel ist von der Spielfigur selbst nur eine Hand oder ein Arm zu sehen. Und in der Hand befindet sich in aller Regel eine Waffe, mit der alle denkbaren auftauchenden Personen und Unpersonen zu töten sind. Nur in einigen kleinen Zwischensequenzen wird die ‹Ego-Shooter-Perspektive› gelegentlich aufgehoben und es werden Settings oder Spielumgebungen vorgestellt.


‹Ich›

Es geht mir in diesem kleinen Traktat nun nicht um ‹Point-of-View-Pornos› oder ‹Ego-Shooter-Computerspiele›, auch nicht um Blutbäder in Schulen, die von ‹Versagern› angerichtet wurden, bei denen eine sogenannte ‹Bildung› versagt hat, nein, es geht mir um ein Prinzip in unserer Kultur, welches immer deutlicher hervortritt und schon in mehreren Essays im Skepsis-Reservat beschrieben wurde: Die Individualisierung. Diese Individualisierung scheint - ganz unaufhaltsam - immer weiter fortzuschreiten, denn immer mehr Menschen in immer mehr alltäglichen Situationen ballern mit ihrem vermeintlichen ‹Ich› in ihren sozialen Räumen herum.

Hier ein paar Beispiele, die Sie, lieber Leser und liebe Leserin, vermutlich leicht nachvollziehen und erweitern können. Wenn es heute Diskurse gibt, die sich mit irgendeinem Konflikt irgendeiner Provenienz befassen (‹Zweier-Beziehung›, ‹Vorgesetzter›-‹Untergebener›), dann hören wir in fast allen Fällen von den Beteiligten nur ‹Ich-Aufplusterungen›. Erinnern Sie sich? Aber selbst den Außenstehenden fällt in fast allen Fällen nur ein, daß derjenige, für den sie Partei ergreifen, «nun an sich selber denken müsse und keine Rücksicht mehr nehmen könne». Was sich aus dieser Haltung für die andere am Konflikt beteiligte Person ergibt? «Das ist dessen Problem! Was hast Du damit zu tun?» Kennen Sie Diskurse dieser Art, in denen eingelenkt, ein Ausgleich gesucht, eine Gemeinsamkeit hergestellt wird? Können Sie sich einen Diskurs vorstellen, bei dem Sie als Außenstehender allen Ernstes jemandem empfehlen, sein ‹Ich› zurückzunehmen? Nein, das können Sie nicht, denn das wirkt in diesem Jahrtausend lächerlich.

Wir brauchen nicht viele Beispiele, um zu verstehen, was die beinahe vollständige Individualisierung in unserer Kultur mit sich bringt und noch mit sich bringen wird. Unsere Kultur selbst, die Gesellschaft des Spektakels, erzeugt auf allen Ebenen ‹Ich-Durchsetzer›, die Ansprüche anmelden, die sich berechtigt fühlen, etwas zu fordern, die mit ihrem ‹Ich› berücksichtigt, als ‹Ich› unbedingt beachtet werden wollen. Sei, der Du bist, locken die ‹Sonnenhüter›, also diejenigen in den Medien, die dafür sorgen, daß die Sonne über unserer spektaklistischen Kultur niemals untergeht und immer wieder irgendein ‹Ich› für fünf Sekunden beleuchtet.

Und was geschieht, wenn jeder einzelne Insasse unserer Kultur davon überzeugt ist, ein ‹Ich› zu haben, aus dem eine unbestimmte Berechtigung zu irgendetwas Unbestimmtem erwächst? Nun, die Ich-Durchsetzer prallen in großem Unverständnis und Unfrieden aufeinander, denn die Ansprüche, die sie jeweils zu haben glauben und zu denen sie sich berechtigt fühlen, passen nicht zueinander.

Und jetzt kommt die entscheidende Frage: Welcher Ich-Durchsetzer bemüht sich um mehr als um sich? Um etwas Größeres, Gewaltigeres, Wichtigeres? Etwa um die Pólis, in der er lebt? Welcher Ich-Durchsetzer zeigt eine Haltung, die nicht nur auf ihn selbst verweist? Gibt es eines Tages überhaupt noch einen Staat, der die in Eigeninteressen klebenden Ich-Durchsetzer zusammen halten könnte?

Ach ja, sie existieren noch, diese romantischen Seelen, die unbeirrt vom postmodernen Spektakel zum Beispiel Lehrerin an einer Regelschule werden wollen, nicht um alle zwei Jahre auf die nächste Besoldungsstufe gucken zu dürfen, das entspräche einer modernen Seele, auch nicht, um überhaupt einen Job zu haben, denn das entspräche einer postmodernen Seele, nein, die Lehrerin an einer Regelschule werden möchten, um einem unbestimmten Ganzen etwas Unbestimmtes zu geben. Diese romantischen Seelen spüren: «Was ihr gethan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.» [1] Evangelium des Matthäus, 25. Kapitel, Vers 40.

Die vielen anderen postmodernen Seelen aber ballern weiter mit ihrem vermeintlichen ‹Ich› in der Gegend herum, indem sie - sich selbst bloßstellend - einseitig auf ihren Befriedigungsinteressen und ihrer Anspruchsunverschämtheit beharren. Sie produzieren sozio-kulturelle Ich-Pornographie. Nennen wir sie von jetzt an ‹Ego-Shooter›.



Erstellt: 5. Januar 2007 - letzte Überarbeitung: 10. Januar 2007
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