BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Selten gestellte Fragen zu Ökonomie und Gesellschaft, oder: Worauf wollen wir hinaus?»
von Søren Benn
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Einführung

Welche konkreten Existenzbedingungen brauchen wir, um die sein zu können, die wir sein wollen? Wie wollen wir sein? Wollen wir die sein, von denen wir möchten, daß sie uns begegnen? Wollen wir edel sein, hilfreich und gut? Haben wir überhaupt die Möglichkeit dazu, von unseren Voraussetzungen her gesehen, ganz prinzipiell?

Unabhängig davon, ob uns solcherlei Fragen interessieren: Ständig verbringen wir dennoch Zeit damit, Standards menschlicher Existenz zu setzen oder einzufordern, moralische Standards, Vorstellungen darüber wie der (andere) Mensch sein soll, wie man erwarten könne, daß der Mensch sei. Jedes Mal, wenn wir uns über das Verhalten eines anderen mokieren, wenn wir an das Verhalten eines Anderen appellieren, wenn wir mit uns selbst ins Gericht gehen, wenn wir uns anderen gegenüber so oder anders verhalten, immer wirken im Hintergrund Bilder über das Richtige. Aber gibt es das eine richtige Sein, das für alle gelten kann oder gelten muß?


Zwei Wirklichkeiten

Auf die Vergangenheit haben wir keinen Einfluss mehr. Das Gewesene ist nicht mehr beeinflussbar. Wir können es nicht manipulieren. Diese Wirklichkeit 1. Ordnung (Watzlawick), der Stein der zu Boden fiel, der Mord der geschah, die Seuche die grassierte, die Kinder, die geschlagen wurden, eine Eiszeit, welche Land formte, Gesetze, die galten - all das ist festgezurrt, ein für allemal Grundlage dessen, was wir heute tun und morgen noch tun können oder müssen.

Da wir aber Menschen sind, stehen wir in der Notwendigkeit der Interpretation, der Bewertung. Wir können gar nicht anders, selbst wenn wir es wollten. Das Gewesene ist zwar nicht mehr beeinflussbar, sein Lauf nicht veränderbar. Da wir aber in einem ausgeprägten Maße interpretierende Wesen sind, laden wir das Gewesene mit Bedeutung auf. Wir können seine Folgen bagatellisieren, es gar ganz leugnen, seine Wirkung im heute bestreiten, es ins Monströse mit Bedeutung aufladen usw.

Diese Wirklichkeit 2. Ordnung macht die Dinge allerdings kompliziert, denn sie wirkt zurück auf die Erste, wird ein Teil von ihr, und verzerrt die eigentlich eindeutige Vergangenheit. Durch die Linse unserer Gegenwart suchen wir in der Vergangenheit die Rechtfertigungen unserer heutigen Überzeugungen und Handlungen und nach den Beweisen für die haltlosen Behauptungen der Anderen. Was uns immer wieder rettet (retten kann): Unsere angeborene Neugier. Selbst wo wir das Bestätigende suchen, finden wir doch immer auch das Überraschende, das unsere Welt- und Selbstbilder erschüttert und verändert.

Wahrscheinlich sind wir dann auf etwas aus der Wirklichkeit 1. Ordnung gestoßen und werden unverzüglich versuchen, das Verstörende durch Interpretation, Vergessen oder Verheimlichung für unsere so stimmig zusammengesetzte Wirklichkeit 2. Ordnung verträglich zu machen. Da wir aber viele sind und mit unseren Überzeugungen und Weltbildern (ökonomische, soziale, biologische, kulturelle, religiöse, anthropologische usw. ) ständig konkurrieren, ist die Kommunikation darüber vielleicht ein Werkzeug, uns der Wirklichkeit 1. Ordnung wieder anzunähern. Letztlich bekommen wir scheibchenweise dann doch etwas über uns heraus, das aus einer Wirklichkeit 1. Ordnung stammen könnte - bis zum Beweis des Gegenteils. Und vielleicht lassen sich sogar einige Gewissheiten aus der Wirklichkeit 2. Ordnung benennen, die keinen allzu heftigen Widerspruch erzeugen. Aber welche können das sein?


Über das, was gewiß sein sollte

1. Wir sind soziale Wesen. Unserer Fähigkeit zu Kooperation und unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion haben uns als Art in zunächst rein biologischem Sinne erfolgreich gemacht.

2. Wir sind gleich mit gleichen Rechten geboren. Da, wenn überhaupt, dann doch niemand von uns die Welt erschaffen hat, da niemand sein Leben einem anderen verdankt, es sei denn den eigenen Eltern, da niemandem von irgendeiner übermenschlichen Instanz qua Geburtsrecht ein höheres Maß an Lebensrecht gewährt wurde als irgendeinem anderen.

3. Wir alle streben danach, ein Leben führen zu können, das wir als ein gutes Leben empfinden. Wir wollen satt werden, eine Wohnung haben, Dinge tun, die uns Befriedigung verschaffen. Wir wollen den Grad und die Art unserer Freiheit selbst bestimmen können. Und es gibt kein einziges gutes Argument, uns dieses Recht zu verwehren. Die materiellen Voraussetzungen dafür haben wir lange geschaffen. Wir leben längst in einer Welt, die genügend bereit hält und täglich Nachschub schafft für Jeden und Jede von uns. Nur mit der Verteilung dieses Reichtums tun wir uns schwer.

Wir haben uns in eine gesellschaftliche Wirklichkeit katapultiert, in der wir die Sozialität und Interdependenz unserer je individuellen Existenz zunehmend verleugnen und unsere grundlegende Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung des Zugangs zu gemeinsamen Ressourcen täglich bestreiten. Wir sind mit gleichen Rechten geboren, aber wir haben nicht alle die gleichen Chancen. So haben wir zum Nutzen der Produktivität eine Arbeitsteilung entwickelt, die für die einen höchst lukrativ und für die andern ruinös ist, obwohl der Reichtum insgesamt stetig wächst. Das Bild, das wir uns somit implizit und auch zunehmend explizit von uns selber machen, hat also anscheinend mit dem, was gewiß sein sollte, wenig zu tun.


Die Illusion des ‹Ichs›

Wir sagen:

  • Unsere Rente haben wir uns selbst erarbeitet.
  • Mein Unternehmen habe ich aus eigener Kraft aufgebaut.
  • Ich kann schon für mich selbst sorgen.
  • Wer keine Arbeit hat, ist selber Schuld.

  • Aber wer ist wir, wer tut hier was? Wer spricht? Wie entstehen diese Bilder, die wir uns von uns machen, individuell und gesellschaftlich? Die Suche nach einer eigenen, authentischen Antwort, d.h. nach einem eigenen Bild von mir, den Anderen und unserem Verhältnis zueinander, wird erschwert und begleitet durch die vielen Angebote auf dem Markt der Interpretationen. Daher scheint es zunächst wichtig, die eigene Involviertheit zu verstehen. Was an meinem Denken und Fühlen folgt eigenen Spuren, wo folge ich den von anderen gelegten Fährten und wo führen mich diese hin?


    Die Herren des Wörterbuchs

    Was wir reproduzieren, wenn wir reden, sind zunächst meist hegemoniale Diskurse. Auch die Binnendiskurse von Minderheitengruppen weisen in sich Hegemonien auf. Auf kaum etwas von dem, was wir sagen, sind wir selbst gestoßen. Nichts ist ureigene Erfahrung, alles ist gesellschaftlich vermittelt. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das individuelle - anthropologische Bewusstsein.

    Die so genannte demokratische Öffentlichkeit, aus der wir unsere Weisheiten beziehen und die uns die Interpretationsfolien unserer Erfahrung nahe legt, hat durchaus keinen demokratischen Charakter, in dem Sinne, daß alle Milieus, Lebenslagen und Haltungen in ihr gleichwertig zur Geltung kämen. Sie spiegelt auch keineswegs die Hierarchie der gesellschaftlichen Notwendigkeiten wider. Was sie widerspiegelt, sind die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die an sie unmittelbar angekoppelten hegemonialen Diskurse der so genannten gesellschaftlichen Eliten. Diese wenigen tausend Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Wissenschaft und Unterhaltung prägen qua medialer Vervielfältigung mit ihrer Sicht der Verhältnisse das, womit der überwiegende Teil der rezipierenden Nation sich beschäftigt. Hier wird die Tagesordnung bestimmt, die thematische Eingrenzung besorgt, hier werden die Wörter definiert, die die öffentlichen Diskurse prägen. Und die sprachlose Mehrheit ist nur Zuschauer und Zuhörer eines zunehmend selbstreferentiellen Diskurses, der ihr Teilhaberschaft am Diskurs vorgaukelt.

    Natürlich liefert die Realität ständig Impulse für diesen Diskurs, doch ändert das nichts an seiner Matrix. Den ‹Verdauungsvorgang› der Wirklichkeit 1. Ordnung besorgen die Leute, die ihn immer besorgen, und so kommen auch immer nur wieder deren Exkremente dabei heraus. Der Humus der daraus entsteht, ist ein Dünger, der nur eine Pflanze nährt: Den finalen Kapitalismus.

    Die Profiteure des Diskurses besorgen den Diskurs. So führen vermeintlich gesellschaftliche Debatten über tatsächlich ja notwendige Reformen, Umstrukturierungen, Anpassungen an gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu den immer gleichen Ergebnissen in dem Sinne, daß die Profiteure auch weiterhin profitieren. Das Wirtschaftswunder - beileibe keines. Und die unausweichliche Globalisierung, der wir uns stellen müssen, ist anscheinend eine Art Klimawandel, mit dem wir nichts zu tun haben. Wir verleugnen die Urheberschaft der von uns selbst geschaffener Rahmenbedingungen.

    Anders ist es kaum zu erklären, daß politische Entscheidungen in der Wirklichkeit 1. Ordnung zu immer prekäreren Lebensverhältnissen für einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerung führen, daß die Einkommensschere sich immer weiter öffnet, daß Bildung in Deutschland nur mit sozialer Selektion zu tun hat usw., und daß sich dies in der Wirklichkeit 2. Ordnung, in der Art und Weise also, wie darüber gesprochen wird, nicht widerspiegelt. Nein, mit dem üblichen ‹Newspeak› (Orwell) wird über Leid und Benachteiligung hinweg geplaudert.


    Vom Nutzen des Begriffs ‹Bildungsferne Schichten›, ein Exkurs

    So ist es, um das Gemeinte an einem Beispiel aus dem Wörterbuch zu exemplifizieren, kein Zufall, daß in einer Zeit, in der das Konzept der bildungsfernen Schichten sich als Diskursbestandteil etabliert, parallel dazu über den Ausbau des Niedriglohnsektors debattiert wird, kaschiert mit dem paternalistischen Gestus, auch Geringqualifizierten Chancen auf Arbeit geben zu wollen. Von einem auskömmlichem Einkommen ist dabei nur am Rande, als Zugeständnis die Rede. Wobei naturgemäß nicht für ein auskömmliches Einkommen der ‹Working Poor› gesorgt wird.

    Schauen wir uns diesen Begriff von den ‹bildungsfernen Schichten› näher an, was suggeriert er sprachlich? Nun, die Herren des Wörterbuchs haben das Wort geschickt gewählt und in das offizielle, verpflichtende Wörterbuch aufnehmen lassen: ‹Bildungsferne Schichten›, dieser Begriff klingt wertfrei, harmlos. Denn es wird nicht von Unbildung gesprochen, nicht von Dummheit, nicht von Verweigerung. Es wird ein abstraktes räumliches Bild bemüht, das eine wahrgenommene Differenz als Entfernung definiert.

    Darüber hinaus wird den Gemeinten eine Fremdheit zugeordnet, die dem Begriff der Ferne innewohnt. Jemand der fern ist, ist auch fremd, oder wird mit seiner Verweildauer in der Ferne fremd, damit entzieht er sich der Möglichkeit der Einflussnahme. In der Ferne, in der Fremde, das sind fast Synonyme. Und der Gegenpol? Hier, wo die Bildung ist, ist Heimat, ist Nähe, ist das Gute. Die der Bildung fern sind, sind nicht im Guten, sind nicht mehr Teil des Guten, sind nicht mehr Teil der heimatlichen Gemeinschaft und ihrer guten Umgangsformen. Sie sind uns fremd, auch unverständlich. Sie sind nicht mehr die Edlen, die sind wir, sie sind eher die Wilden, die Heiden.

    Im Übrigen sind sie eine Schicht, ein vom Ort der Bildung aus gesehen abgesunkenes Sediment in der Tiefe. Sie sind auch nicht heraufzuholen, denn das ist eine weitere implizite Behauptung des Begriffes ‹bildungsferne Schichten›: Sie wollen nicht ‹herauf geholt›, sie wollen nicht gebildet werden. Sie sind der Bildung nicht nur fern. Bildung ist ihnen auch fern. Sie sind ein Heer Hoffnungsloser, und nur als hoffnungslosen Fällen wenden wir uns Ihnen mit unserer Aufmerksamkeit zu. ‹Bildungsferne Schichten›: Da ist nichts mehr zu wollen. Dafür tragen wir auch keine Verantwortung im ursächlichen Sinne. Sie sind ein Naturphänomen, und als solches nehmen wir uns ihrer an.

    Wer - wie die Herren des Wörterbuchs - einen Begriff von den ‹bildungsfernen Schichten› entwirft, bleibt übrigens in der Schuld zu erklären, was denn dann ‹bildungsnahe› Schichten sind. Immerhin wird ein polares Begriffspaar entworfen. Keine Ferne ohne Nähe. Und wer ist dann am Beobachtungsorte selbst, im Zentrum der Bildung? Wer ist identisch mit dem Orte, von dem aus die Ferne gemessen wird? Diese Leerstelle ist die Quelle der größten Suggestionskraft dieses Begriffs. Denn wann immer ich ihn höre, vollziehe ich ihn mit, ordne ich mich ein auf der Meßlatte der Entfernung.

    Das Perfide des Begriffes ist, daß er im Grunde nichts beschreibt und doch jeder zu wissen glaubt, wer gemeint ist: Die Zuschauer des so genannten Unterschichtenfernsehens, Geringqualifizierte, Schulabbrecher, das ‹Prekariat›, Leute also, die weder ins Theater noch in die Oper gehen, Leute, die die Klassiker nicht kennen, die nicht wissen, was ein Portfolio ist. Oder ein Diskurs. Leute, deren Bücherregale gar nicht existieren.

    Wer auch immer diesen Begriff von den bildungsfernen Schichten entwickelt hat, erzählt mit ihm sehr wenig über die so Bezeichneten. Daß er so begierig aufgegriffen und verwendet wird, erzählt allerdings sehr viel über seine Benutzer.

    Unbildung, im Sinne mangelnden Wissens, ist weder Folge einer individuellen Fehlschaltung noch individueller Neigung, noch eine schichtenspezifische Eigenart. Sie ist - unendlich müßig, es immer noch einmal erwähnen zu müssen - unmittelbarer Bestandteil systematischer Zurichtungen innerhalb der gesellschaftlichen Organisation. Mensch sein heißt zunächst immer neugierig sein, wissbegierig sein, verstehen wollen, handhaben wollen, begreifen wollen. Mit diesen Gaben fangen wir alle an, unabhängig davon, wo wir irgendwann einmal landen. Erst im Rahmen sozialisatorischer Prozesse in spezifischen sozialen Räumen wird Neu- und Wissbegier ausgetrieben, verleidet, abtrainiert.

    Nicht zuletzt schwingt im Begriff der Bildung auch immer noch mehr an als die systematische Anhäufung und Anwendungskompetenz von Wissen. Bildung meint im deutschen Sprachraum auch immer Bildung von Charakter, Haltung, Umgangsform, Gerichtetheit, kurz Herzensbildung. Indem der Begriff ‹Bildung› eben dies impliziert, wird ‹bildungsfernen Schichten› auch hierin eine Unterentwicklung, Degeneration, Fremdheit und Ferne attestiert.

    Nichtsdestotrotz hat der Begriff eine hohe Verführungskraft. Eine griffige Formel, eine vermeintlich zielgenaue Beschreibung, hohes Assoziationspotential, Vermassung der Gemeinten, und, nicht zuletzt immer auch eine Selbstaufwertung seiner Nutzer. Herrschaftssprache.

    Dabei ist ‹bildungsferne Schichten› kein zentraler Begriff, er ist eher Bestandteil eines legitimatorischen Nebendiskurses des neoliberalen Paradigmas, Baustein eines umfassenderen Begründungszusammenhangs, eher Interpunktionszeichen als Buchstabe im Alphabet einer ‹Neuen sozialen Markwirtschaft›. Gerade seine Randständigkeit verdeutlicht aber stärker als es zentrale Begriffe - wie etwa ‹Wettbewerb›, ‹Standort› oder ‹Freiheit› - könnten, die Tiefenwirkung der Schaffung von Wirklichkeiten 2. Ordnung. Indem ich ihn unreflektiert nutze, er mir auch kaum auffällt, weil er kein umkämpfter Schlüsselbegriff ist, folge ich der fremden Fährte, die die Herren des Wörterbuchs gelegt haben, strukturiere ich mein Denken vor und lande in einer Diskursfalle.


    Fetisch ‹Vollbeschäftigung›

    Die Rede von und der Glaube an die Möglichkeit von Vollbeschäftigung ist unter kapitalistischen Bedingungen Lüge oder Selbsttäuschung. Vollbeschäftigung im Sinne von Erwerbsarbeit war historisch immer die Ausnahme und nie die Regel. In der Bundesrepublik steigt die strukturelle Arbeitslosigkeit seit Jahrzehnten an, egal welche politische Konstellation gerade an den vermeintlichen Schalthebeln der Macht sitzt.

    Genauer betrachtet ist ‹Vollbeschäftigung› auch nur eine sprachliche Nebelkerze. Denn sie ist überhaupt nur unter zwei Voraussetzungen denkbar: Zum einen nach einer Phase der Zerstörung (Krieg), im Wiederaufbau, und zum anderen in einer durchorganisierten, dirigistischen Gesellschaft. Dort gibt es dann allerdings auch noch eine verdeckte Arbeitslosigkeit. Und diese Konstellation unterminiert die freie Entfaltung des Einzelnen wie die Aller.

    Die Realität menschlichen Daseins bringt es mit sich, daß wir nur ausnahmsweise genau in eine bestimmte Kultur und Gesellschaft hinein passen, denn unsere Vitalität schießt quer und unser Leben bleibt eine Suchbewegung, die mit ökonomisch optimalen Prozesserfordernissen nie zusammen zu bringen ist. Es ist keine freie Gesellschaft denkbar, in der zu einer bestimmten Zeit die Art und Menge der Qualifikationen ihrer Mitglieder deckungsgleich mit der Art und Menge der im ökonomischen System angebotenen Erwerbsarbeitsplätze ist. Daraus wäre aber nun zu schließen, daß eine gewisse strukturelle Arbeitslosigkeit - bezogen auf Erwerbsarbeit - nie verschwinden und immer vorhanden sein wird.

    In dieser Betrachtungsweise erscheint es nicht mehr sinnvoll, Phasen der Erwerbsarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Vielmehr gilt es, sie als das zu betrachten, was sie phänomenologisch mehrheitlich sind oder doch potenziell sein könnten: Als Phasen schöpferischer Differenz zwischen individueller und ökonomischer Entwicklung. Und als solche wären sie gesellschaftlich zu betrachten, zu gestalten und abzusichern, anstatt sie in die Nähe von Delinquenz zu rücken.


    Ökonomie und Globalisierung

    Eine wertschöpfende Ökonomie ist zwar die Vorraussetzung für freie Individuen, «weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen muß» (Marx 1875). Die Frage ist also nicht, ob Arbeit im Sinne der Verfügbarmachung naturgegebener Rohstoffe zur menschlichen Bedürfnisbefriedigung notwendig ist und auch notwendig effektiv sein muß. Die Frage ist, wie, d.h. unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen, diese Effizienz erreicht wird und wie hoch sie sein muß. Die gegenwärtige Antwort darauf ist ökologisch kurzsichtig und sozial destruktiv. Nicht zuletzt zeitigt sie ungerechte Folgen.

    Der relative materielle Wohlstand der Industrienationen verdankt sich heute, wenn nicht in erster Linie, so doch u.a., der billigenden Inkaufnahme von ökologischen und sozialen Standards in ärmeren Regionen der Welt, zu deren Bedingungen wir zu existieren uns hoffentlich nie mehr bereit finden werden. Die Einzelhandelspreise, an denen wir die Werthaltigkeit unserer Löhne errechnen, werden in weiten Bereichen des Warenangebotes mit Lohnkosten und Arbeitsbedingungen erzielt, wie sie in Südostasien und Lateinamerika Standard sind. Niedrige Einzelhandelspreise und niedrige Löhne im Einzelhandel: Das ist die doppelte Lidlisierung.

    Die neoliberale Vorstellung des ‹survival of the fittest›, der wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand erst ermögliche, blendet völlig die destruktiven und damit auch teuren gesellschaftlichen Wirkungen dieser Form ökonomischen Wirkens aus, wie auch die destruktiven Wirkungen auf die vielen Einzelnen, die aufgrund ihrer individuellen Gewordenheit nicht ins System passen. Effektivität und Effizienz als absolut gesetzte Größen, ohne Relativierung in Bezug auf andere Voraussetzungen menschlicher Entfaltung, führen zur Verarmung der menschlichen Möglichkeiten, zu sozialer, kultureller und individueller Verelendung. Das weit verbreitete, selten ausformulierte und dennoch stark spürbare Unbehagen in der postmodernen Arbeitskultur ist hierfür ein Indiz.

    Wer wir sind, was uns ausmacht und wie wir leben wollen, das sind die Fragen, die sich stellen, wenn wir diesem Unbehagen nachgehen. Politische Fragen der ökonomischen Produktionsweise und der gesellschaftlichen Organisation sind diesen Fragen aus meiner Sicht zunächst nachrangig.


    Worauf wollen wir hinaus?

    Entwickelte Ökonomien mit einem hohen Maß an Innovation und Wertschöpfung bedürfen auf lange Sicht des freien, seine Potenziale lebenden Menschen. Freiheit des Individuums, d.h. frei von existenziellen Ängsten und frei zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, und effektive Ökonomie sind kein Widerspruch.

    Befriedigende Lösungen lassen sich nur finden, wenn auf die primären Fragen besonnene Antworten formuliert werden, im Wortsinne. Daß alles zum Gelde drängt, daß alles am Gelde hängt, und somit für die meisten an der Erwerbsmühle, ist auf der besinnungslosen Erfahrungsebene wohl erlebbar. Dennoch spiegeln sich darin tiefer liegende Bedürfnisse, eigentliche Bedürfnisse und immer noch ganz archaische Bedürfnisse. Für eine langsam und stetig größer werdende Zahl von Menschen werden sie in Ermangelung der monetären Grundausstattung auch wieder unmittelbar bedrängend. Es geht um einfache Dinge, an denen unsere menschliche Existenz ganz unverzichtbar hängt: Eine Behausung, Nahrung, soziale Integration verbunden mit der ihr innewohnenden Anerkennung und Wärme. Lernen, Bewähren. Transzendenz, verstanden als Teilsein, teilhaftig, anteilig werden eines Dings, einer Sache, die hinausweist über eigenes Selbst und seine Sterblichkeit. Individuum sein.

    So ist der Mensch, ist jeder Mensch. Um das Gravitationsfeld dieser Existenzialien kreisen alle sozialen Kämpfe und alle Einzelkämpfer. Weil wir uns diese nicht selbstverständlich und bedingungslos gewähren, da wir ihrer nicht mehr gewahr werden, kämpft jeder für sich um sie, kämpfen Gruppen um sie gegen andere Gruppen.

    Nun lässt Gesellschaft sich nicht neu entwerfen, nicht ingenieurhaft organisieren wie ein Gerät. Die Tabula rasa, die es dafür bräuchte, gab es nie. Gesellschaft ist immer Fortsetzung, neu anfangen lässt sich nicht, Revolutionen scheitern in der Regel genau daran, daß sie dies ausblenden. Gesellschaft ist die Art und Weise, in der wir uns gesellen. Wie wir uns gesellen, darüber kommunizieren wir auf vielfältige Weise. Die Kommunikationen entscheiden. Inhalt und Form der Kommunikation prägen den Diskurs. Auf ihn kommt es an. Worum kreisen wir, worauf wollen wir hinaus? Wer ist wir, wer spricht mit? Wessen Sprechen messen wir Bedeutung zu? Wer deutet uns die Wirklichkeit? Das ist nicht Haarspalterei, nicht Spielerei weltabgewandt, nicht ängstliches Verkriechen. Das will Besinnung. Die fällt uns schwer, ist Arbeit.


    Also, worauf wollen wir hinaus?

    Daß es allen gut gehe, sagen alle. Das kann so nicht ganz stimmen. Und was es hieße, daß es jedem gut ginge, darüber herrscht Ratlosigkeit, Uneinigkeit, Ahnungslosigkeit. Denn der herrschende Diskurs läuft genau anders herum. Er stellt die Frage: Wie müssen wir sein, damit der ökonomische (kapitalistische) Prozess funktioniert?

    Und die Antworten sind dementsprechend: Kenne das System, sei flexibel, sei mobil, sei leistungsbereit, konsumiere nach Kräften, sei autark (private Rentenvorsorge, private Krankenversicherung etc.), lerne das Gewinnbringende usw. Prinzipiell ausgeschlossen sind Sinnfragen.

    Wird eingewendet, Wohlstand sei der Sinn, so sei dem entgegengehalten: Wohlstand ist kein Sinn, hat keinen Sinn. Wohlstand ist ein Zustand. Einen Zustand anzustreben muß aber immer scheitern, denn Gesellschaft, weil Menschen sie bilden, ist dynamisch. Es lassen sich keine Zustände herstellen, bestenfalls günstige Situationen, die vorübergehen.

    Auch die Linke hat sich seit langem im von den Herren des Wörterbuchs gelenkten Diskurs verheddert. Ihre vermeintlich alternativen Antworten auf die Verfaßtheit der Gesellschaft kreisen fast ausnahmslos um Fragen der Organisation von Verteilungsgerechtigkeit. Linke Kritik dockt nicht mehr an die Frage an: Wie wollen wir leben? sondern an: Wie viel bekommt der einzelne und wer entscheidet das? Natürlich ist das keine unwichtige Frage, und doch, eine nachgeordnete. Wichtig ist, wie viel wovon bekommt der Einzelne, und Geld ist dabei nur eine Kategorie unter anderen. Ein bestausgestattetes Sinnvakuum macht kein gelingendes Leben und keine gelingende Gesellschaft.

    Daß es allen gut gehe, hieße, daß jeder und jede die Möglichkeit hat, einen Platz in unserer Gesellschaft zu finden, der eine Bedeutung hat, der Anerkennung findet und ihn und sie mit Sinn erfüllt. Daß dazu auch ein Geld gehört, ist fraglos richtig. Aber die Frage aufs Geld zu reduzieren, reduziert auch die Antwort aufs Geld. Und schafft eine Schieflage bei der Suche nach Lösungen, bei denen dann alles wieder nur am Gelde hängt.

    Gesellschaftskritik muß eine Idee davon haben, was das gute Leben denn sei und worauf wir hinaus wollen. Gesellschaftskritik muß eben dies durchdeklinieren, zeichnen und ausmalen. Dann kommt zur Verteilungsgerechtigkeit noch einiges andere hinzu.



    Erstellt: 20. August 2007 - letzte Überarbeitung: 21. August 2007
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