BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Rebound: Wie einem in der Postmoderne das ‹eigene Ich› an den Kopf geworfen wird» von Helmut Hansen
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Rebound

Klar, jeder weiß im Zeitalter der Schwarmintelligenz, was ein ‹Rebound› ist. Dies Wort hat seine eigentliche Heimat in der Basketballsprache und soll auf einen vom Brett oder Korbring abprallenden Ball zeigen. Auch in der Medizin spricht man von einem Rebound-Effekt, wenn eine Krankheit nach dem Absetzen eines Medikamentes in fröhlicher Frische und im Vollbild einer florierenden Exazerbation wieder auflebt.

Im Englischen gibt es aber nun eine sehr schöne weitere Möglichkeit, dieses Wort zu verwenden: So kann man etwa sagen, ‹this action rebounded on his head›. Klar, dieser Gedanke ist ‹Sozialen Konstruktivisten› sehr vertraut, daß uns Meinungen über die Welt oder Handlungen, mit denen wir in den Lauf der Welt eingreifen wollten, uns eines Tages wieder entgegen kommen, uns begegnen. Soziale Konstruktivisten haben es ja mit dem Zen-Buddhismus, und sie erfreuen sich an dem Gedanken, daß unsere Meinungen und Handlungen nicht folgenlos bleiben sondern – zu gegebener Zeit – auf uns selbst zurück fallen. Das nennt man auch ‹Karma›.


Das ‹Ich› in der Postmoderne

Die ‹Bochumer Arbeitsgruppe› hat sich schon vor Jahren mit dem kuriosen Phänomen des ‹Ichs› in der Postmoderne beschäftigt. Insofern sind wir ziemlich amüsiert bei der Beobachtung, daß heute immer mehr Medien erstaunt darüber berichten, daß unsere Kulturinsassen im finalen Kapitalismus immer stärker darauf pochten, sie hätten ein ‹Ich› und daraus ergäben sich beachtliche Konsequenzen.

Ach, diese vielen ‹Ichs›! Ausgeschmückt müssen sie werden, als Benutzeroberfläche, mit Tatoos und metallischen Applikationen. Auf den Ruf ‹Sei, der du bist!› müssen sie beherzt und biblisch antworten, ‹Ich bin, der ich bin!›. Das Leben, die Arbeit, die Liebe müssen sie als ein fröhliches Surfen erleben, um als vollgültig cooles ‹Ich› gelten zu dürfen. Anspruchsunverschämt müssen sie sein, und zwischen nur zwei Bekanntmachungen an die Welt außerhalb ihres ‹Ichs› oszillieren, einem ‹Das steht mir zu!› und einem ‹Was habe ich davon?›.

Klar, das hat Konsequenzen, schmerzlich ist insbesondere, daß die vielen ‹Ichs› sich von jeder Haltung, außer der zu sich selbst, verabschiedet haben. Jeder kümmert sich heute um seinen eigenen Kram. Oikos statt Pólis. Und mit den Begriffen Scham, Schuld oder Gewissen kann ein postmodernes ‹Ich› nichts mehr anfangen. Wozu auch? Jeder muß doch selbst am besten wissen, was er tut.

Henriette Orheim skizziert in ihrem Traktat ‹So viel ‹Ich› war nie› die kulturphysiognomischen Grundlagen dieser postmodernen ‹Ich›-Behauptungen und schreibt: «Alle Menschen verlangen permanent, daß ihr ‹Ich› angemessen gewürdigt und berücksichtigt werde, daß es eine diskursive Wichtigkeit, ein Gewicht, eine Gewichtigkeit erfahre, ja daß es als Instanz von großer Bedeutung angesehen werden sollte. Sie stellen also Forderungen, leiten Ansprüche aus der schieren Existenz ihres ‹Ichs› ab. Und wenn wir weiter in die Diskurse und die kommunikativen Akte hineinleuchten, hören wir, daß sehr viele Menschen meinen, daß ihr ‹Ich› die letzte Rechtfertigungsinstanz für ein Geschehen aller Art sei.»

Ja, das ist sehr anstrengend, mit solchen ‹Ichlingen› zu tun zu haben. Wie angenehm ist es doch da, einmal in Ruhe zu beobachten, was aus dieser Haltung erwächst, ich meine, ganz persönlich jetzt.


Wie einem in der Postmoderne das ‹eigene Ich› an den Kopf geworfen wird

Wenn man sich ein wenig umschaut in Internetforen aller Art, in denen zweifelnde Menschen Hilfe und Antworten suchen bei Beziehungsproblemen, erotischen Wirrungen, Bewerbungen, Schul- und Bildungsproblemen oder bei der Wahl eines Motorrades, trifft man immer wieder auf einen wunderbar einfachen Ratschlag: «Du musst doch wissen, was du willst». Ist das nicht allerliebst? Da ist ein suchender, unsicherer, grübelnder, ja vielleicht sogar leidender und zerpatschter Mensch, der einen Ratschlag möchte für sein weiteres Leben. Und was bekommt er? Tatsächlich einen Schlag, einen Ratschlag, mit dem er nicht gerechnet hat, aber wir. Das müssen wir uns unbedingt in ein paar Beispielen anschauen (die folgenden Zitate sind aus den verschiedensten Foren heraus kopiert, dabei wurden die vielen gravierenden Rechtschreib- und Grammatikfehler von mir liebevoll und gnädigst korrigiert):

  • Ähm, das musst du doch selber wissen, was du für deine Zukunft willst.
  • Du fragst uns, was du aus deinem Leben machen sollst? Muss jeder selber wissen, was er für seine Zukunft will.
  • Naja, das musst du schon selber wissen. Man muss selber entscheiden, welchen Weg man geht und ob dieser der richtige für einen ist.
  • Du musst doch wissen, was du willst, wenn du es nicht weißt, lass es bleiben.
  • Ich meine, einen höheren Schulabschluss zu machen, ist nie dumm, aber du musst doch wissen, was du willst.
  • Hm, ob du die Schule weiter machen willst? Musst du doch selber wissen, ob du weiter lernen möchtest oder nicht.
  • Und ob du ein Praktikum machen sollst, müsstest du ja auch selber wissen, was dir gefällt.
  • Also wenn man das nicht selber weiß ...
  • Du mußt doch wissen, was du willst, oder scheint es so, dass du das selbst nicht weißt?
  • Planung ist das halbe Leben, du musst doch wissen was du willst, wer nichts will, kriegt auch nichts. Ziele haben ist wichtig!
  • Ja, aber du musst doch wissen, was du willst. Kannst doch nicht einen Weg beschreiten, ohne ein Ziel zu haben.
  • Dazu gehören immer zwei. Du musst doch wissen, was du willst. Besprich doch alles mit Ihm. Du kannst auch aktiv werden und Ihn mal umarmen.
  • Aber du musst doch wissen, was du willst. Entweder du fragst sie, probierst es aus, siehst ein, dass es nur Freundschaft ist oder spielst den guten Freund, obwohl du eigentlich mehr willst.
  • Rom wurde auch nicht an einem Tag erobert! Du musst doch wissen was du willst.
  • Du mußt doch wissen, was du willst. Meine Meinung: Was nützt viel Hubraum wenn man ihn nicht ausnutzt?
  • Du musst doch wissen, was Du willst. Was machst Du am liebsten?
  • Die Entscheidung solltest du letztendlich selber treffen und für dich entscheiden.


  • Schluß

    Ist das nicht köstlich, was da an ‹Hilfe›, an ‹Einfühlungsvermögen›, an ‹commitment› angeboten wird, welche Qualität diese schwarmintelligenten Handreichungen haben und wie viele Übereinstimmungen es in den Lebensäußerungen der ratschlagenden Menschen gibt? Unter uns und nur nebenbei: Wie kann das sein, bei so vielen verschiedenen und einzigartigen ‹Ichs›?

    Halten wir fest: Wer meint, ein ‹Ich› zu haben und Fragen mit diesem ‹Ich› als vermeintlichem Urheber formulieren zu müssen, sollte sich über die Qualität der Ratschläge nicht beklagen. Wer ein ‹Ich› sät, wird es als Rebound ernten.

    Doch der rhetorische Schlenker, der Ihnen, liebe Leser und Leserinnen, die größte Freude bereiten wird, folgt erst jetzt. Dazu müssen wir uns ansehen, wer denn diese oben aufgeführten Ratschläge gibt. In den Internetforen sind das ganz ‹normale› Menschen, die im finalen Kapitalismus der Postmoderne leben, die ‹Gesellschaft des Spektakels› lieben und sich von den vom TV engagierten ‹Sonnenhütern› ins Bett begleiten lassen. Das Verständnis dieser Menschen von Psychologie kann deswegen nur so weit reichen, daß sie meinen, jeder Mensch habe ein ‹Ich›, welches frei und unbedingt über eben dieses ‹Ich› zu entscheiden in der Lage sei.

    Erst mit diesem wirren Klang von Psychologie im Ohr hört sich ein ‹Du mußt doch wissen, was du willst› für ‹Soziale Konstruktivisten› so lustig an. Denn dieser Satz ist zum einen – mit der besonderen Erlaubnis der ‹Herren des Wörterbuchs› – der derzeitig verpflichtenden Zentralrede entnommen, und zum anderen wird dieser Satz von Menschen gesagt, die ja selbst nicht nur voll in den Leitseilen der kulturell definierten Sagbarkeiten hängen, sondern dazu auch noch von den Gummibändern ihres sozialen Raumes in eben diesem Raum festgezurrt werden und von diversen ideologischen Leitplanken als Meinungs-, Urteils- und Verhaltensvorschriften umstellt sind. Wir können also mit Fug und Glimpf sagen, daß die Leute, die leichtherzig und leichtfertig den Ratschlag ‹Du musst doch wissen, was Du willst› geben, selbst gar nicht gesprochen haben, es war das derzeit ‹Sagbare›, das ihnen aus dem Mund purzelte, es war keine kognitive Leistung, keine Willensanstrengung von Nöten, um zu diesem Satz zu kommen.

    So, und jetzt ganz genau: Da hat jemand, ohne es zu wissen, einen der – auch für das Kapital – wichtigsten Sätze der Postmoderne mal eben nicht richtig memoriert und für sich immer wieder aufgesagt, nein, er hat gar gewagt zu fragen, wie es denn in seinem Leben und mit seinem ‹Ich› weiter gehen könnte. Und die Antwort, der Schlag, war zu erwarten. Und die übereinstimmende Antwort wurde gegeben von Leuten, die die Sprachfigur ‹Du musst doch wissen, was Du willst› aus der etwas umfassenderen Figur ‹Da weiß man doch, was man zu tun hat› entlehnen und somit selbst keine Ahnung haben, was sie selbst wollen könnten. Sie sitzen doch nur der Gewißheit auf, daß ‹man› schon weiß, was ‹man› will. Aber woher wissen wir das?



    Erstellt: 8. Mai 2008 – letzte Überarbeitung: 12. Mai 2008
    Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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