BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Die ‹Herren des Wörterbuchs› (2): Lektionen in Trialektik»
von Edna Lemgo & Stefan Bärnwald

gelesen von Dond & Daniel  -  www.dondunddaniel.de               Als PDF-Datei laden

Gegen sein Vergessen: Um eine ins Unermessliche ragende Verzweiflung zu vergegenwärtigen, fühlen wir uns in Ciorans letzte Tage: Ein radikal ins Freie strebendes Wesen hospitalisiert. Eingekerkert in den Mauern einer vaskulären Demenz. Das bedeutet: Der Raum immer enger. Kein gütiger Schleier des Vergessens. Gemartert von Blitzen höchster Luzidität, messerscharfer Blick auf das eigene Elend. Körperliche Fehlfunktionen. Ausgeliefert jenen Menschen, von denen er sich als Eremit, mitten in Paris, so weit entfernte. Jeder Bruchteil eines Augenblicks vergiftet durch allgegenwärtige Kränkungen von Scham und Ehre. Gevierteilt, zerstückelt, verloren in einem derangierten Geist. Selten war der Tod ein so willkommenes Kurativ. [1] Akademische Referenzen langweilen. Interessierten geben wir an den jeweiligen Stellen Empfehlungen. Cioran-Freunde müssen die herausragende Thanatographie von Bernd Mattheus lesen (Cioran. Portrait eines radikalen Skeptikers. Matthes & Seitz Berlin). Unserer Dankbarkeit für den Großen Spielverderber haben wir versucht, in verschiedenen Texten für dieses Skepsis-Reservat Ausdruck zu verleihen. Die Idee von der Idee der Eremitage findet sich auch in der Reisegeschichte „Cioran und Paris“

Von Cioran dankbar übernommen haben wir die Idee einer Eremitage mitten unter Menschen. Das ist möglich und macht das Leben leichter. Im Korsett der alltäglichen Pflichten und Gewohnheiten verzurrt, widmen wir uns dem Treiben des stetig fremder werdenden Anderen mit höflich distanzierter Anteilnahme. Die Kurve der zwischenmenschlichen Berührungspunkte nähert sich stetig der Nulllinie, ohne sie jemals zu erreichen. Interventionen erfolgen ausschließlich gegen pekuniäre Vergütung und zur Beweihräucherung des eigenen ethischen Narzissmus. Man ist ja schließlich noch nicht ganz tot. [2] Mit der egobeweihräuchernden Form des ethischen Narzissmus räumt die verehrte Judith Butler auf (Kritik der ethischen Gewalt, Suhrkamp). S. 146: «Unsere Verantwortung gilt nicht der Reinheit unserer Seele, sondern der Gestalt der gemeinsam bewohnten Welt.» Versuchen Sie das einmal einem ethischen Menschen beizubringen. Wiglaf Droste: «Lichterketten aus Friedenstauben und –blinden.»

Um einmal Blixa Bargeld zu würdigen: Die Einstürzenden Neubauten behaupten in ihrem schönen Lied mit der Weltraumpflegerin, die sich an der versteckten Schnapsflasche delektiert: Life on other planets is difficult. Das stimmt unseres Erachtens nur teilweise. Mit einem gut gefüllten Werkzeugkasten lässt es sich als Außerirdische selbst auf diesem fremdesten aller Planeten ganz gut aushalten. Braucht halt etwas kreatives Terraforming, dann wird das schon mit dem Habitat. In der Kammer am Ende der Welt ist es nach wie vor ganz gemütlich. [3] Einstürzende Neubauten > Perpetuum Mobile > Selbstporträt mit Kater. Shellac > Terraform. Bethchen B. & Helmut Hansen > Die gemütliche Kammer am Ende der Welt.

Moment, wir machen nur mal eben den Eskapismus-Kamin an.

So, jetzt ist es wieder schön puschelig. Wir schweifen ab? Aber natürlich, wir wollen ja zu den Herren des Wörterbuchs, und da gilt es vorher die Situationisten zu finden. Da ist bekanntlich derivieren unerlässlich. Hallo, ist da jemand? Keine Antwort. Vielleicht fühlen sich die geneigten Leserinnen und Leser angerufen. Das wäre nicht nur ein gutes Beispiel für die Form von Höflichkeit, um die wir im Umgang mit dem Anderen bemüht sind. Gleichzeitig signalisiert es auch unser Bemühen, auf gar keinen Fall in überholte narrative Schemata abzugleiten. Wobei die fadenscheinig ausgefransten postmodernen Erzählstrukturen ja mittlerweile selbst zum Kanon gehören. Weswegen manche glauben, der Rückgriff auf Tradition und Reaktion habe schon wieder etwas Subversives. Das Autorenpaar sei ja schließlich auch verheiratet! [4] Zur Geschichte und Einordnung des Situationismus wärmstens ans Herz gelegt: Stewart Home: The Assault on Culture. Utopian Currents from Lettrisme to Class War. AK Press. Das Leben ist danach ein anderes. Zur Postmoderne ist alles gesagt: Arbeitspapier Nr. 14: Was von der Postmoderne übrig blieb – Zeitgemäße Betrachtungen.

Hallo, ist da jemand? Es ist ein infiniter verflochtener Regress. Den lösen wir nicht. Wir können nur damit leben lernen. Die Regel ist die Ausnahme ist die Regel ist die Ausnahme ist die Regel ist die Ausnahme. Et vice versa ad infinitum. Der Rest ist Ideologiesülze. An dieser Stelle wollen wir uns darüber nicht zu viele Gedanken machen. Der Hinweis darauf, dass die Vereinnahmung alternativer Entwürfe durch den omnipotenten Markt unvermeidbar ist, wenn sich Richtung Öffentlichkeit bewegt wird, sei aber trotzdem gestattet. Zum Beweis sagen wir mal vorher, dass es Diederich Diederichsen bestimmt ähnlich traurig machen wird wie uns, wenn das ‹Animal Collective› demnächst populär wird. Wobei wir dem Kollektiv den verdienten Erfolg selbstverständlich von Herzen gönnen. Auch wir haben nicht die Größe eines David Foster Wallace, der aus dem Hamsterrad aussteigt, bevor er in der eigenen Scheiße erstickt. Um das persönliche Schicksal von Cioran noch einmal drastisch vor Augen zu führen. [5] Edna Lemgo: Et vice versa ad infinitum? Das Rätsel meines Lieblingspalindroms. Diederich Diederichsen Musikzimmer. Avantgarde und Alltag. Kiepenheuer und Witsch (Danke, Sandra!). Suizidrhetorikern, die ihren Minderwertigkeitskomplex füttern wollen, empfehlen wir dringend David Foster Wallace’ Good Old Neon. Das beste, was je zu diesem Thema verfasst wurde. Für alle Ethnologen, Spiritualisten, Narkobotaniker und Sozialkonstruktivisten: Incarnations of burned children, Aufstieg und Fall der technologischen Zivilisation in knapp 30 Seiten (Beide in David Foster Wallace: Oblivion. Back Bay Books)

Entschuldigung, musste mal sein. Dafür sind wir jetzt aber endlich da, wo wir hinwollten: Bei den Wörtern und ihren Herren. Als eremitierte Situationsmus-Beauftragte der Bochumer-Arbeitsgruppe wurde uns die kleine Anfrage zugeleitet, ob es die von uns in jüngeren Jahren so gerne beschimpften ‹Herren des Wörterbuchs› denn nun wirklich gäbe, so im Sinne von real existierenden Personen. [6] Die kleine Anfrage kam von dem geschätzten Skepsisreservat-Autoren und Postfußballexperten Christian Hennig. Hallo Christian, schön von Dir zu hören. Originalquelle der Herren des Wörterbuchs: Mustapha Khayati: Die gefesselten Worte. In: SI-Revue Nr. 10, 1966

Darauf geben wir gerne Antwort: Sicher gibt es die, aber nicht so, dass wir sie uns vorstellen könnten. Bevor wir dem nachgehen, wollen wir hier den Fragesteller herzlich begrüßen und unsere weiteren Erörterungen mit einem kleinen Kalauer einleiten: Christian, Anders! Bitte zur nächsten Textstelle die Melodie mit summen. Wer vorher noch mal reinhören möchte kann bei youtube suchen. Der Zug nach Nirgendwo: Oh Maria, sag nur ein Wort, doch nur ein Wort, und es wird so wie früher sein. Schönes Lied.

Will es etwas bedeuten? Versuchen wir es trialektisch. Vielleicht ja und nein. Zweiwertig kommen wir da nicht weiter. Auch sonst nicht, übrigens. Was singt uns das Lied? Pathognomisch gelesen fährt der Zug nach Nirgendwo aus den bunten 70ern prophetisch in die zukünftige Vergangenheit. Von heute aus gesehen, versteht sich. Das von Virilio in den 80ern herausgearbeitete Prinzip des Static Transit war ja die Gegenwart der 90er, mit dem Aufkommen des Internets und so. Heute sind dann endlich alle ganz darin verschwunden und führen ihr wahres Leben wieder geboren als Avatare in Second Life. Die schöne Textzeile, die hoffentlich alle mitgesummt haben, zeigt dann den Schlagersänger als Konstruktivisten vor der Erfindung des Konstruktivismus: Sag ein Wort, und es wird sein. So ist es. Sprache schafft Wirklichkeit. Zwei Groschen gehen ins Phrasenschwein. [7] Wer sich in Trialektik üben möchte, spiele Three-Sided Football (Wikipedia kennt das). Zur Theorie obsoleter Medien: V2 (Hrsg.) Book for the Unstable Media. Stichting V2.

Damals war das echt noch neu, zumal in der Popkultur und im Schlagerkontext, eine echte epistemologische Bombe. Das können sich die jüngeren unter uns gar nicht mehr vorstellen.

Mindestens eine weitere der geschätzten zwei bis drei Personen, die diesen Text vielleicht lesen werden, bekennt sich ja als radikal-skeptischen Nominalisten. Zu der Sekte gehören das Autorenpaar und Mustapha Khayati ganz sicher auch, dem wir den schönen Topos von den Herren des Wörterbuchs verdanken. Ein Wort an sich bedeutet demnach gar nichts, erst seine Position im Beziehungsgefüge des im stetigen Wandel befindlichen Sprachgebrauchs gibt ihm Bedeutung. Wörter sind - bestenfalls - leere Hüllen, die beliebig gefüllt werden können. Siehe oben: Regel = Ausnahme. Opposition im Einklang. Wir können mit den Wörtern anstellen, was wir wollen, zum Guten wie zum Schlechten. [8] Nein, wir erwähnen hier nicht Fritz Mauthner. Das ist der Säulenheilige einer anderen Sektion der Bochumer Arbeitsgruppe.

Ausgeschöpft wird natürlich vor allem das Potenzial zum Schlechten. Siehe George Orwells Newspeak, schön eingefangen von Terry Gilliam auf einem Plakat in der totalitären Ordnung von Brazil: Suspicion brings Confidence. Misstrauen schafft Vertrauen. Hallo Herr Schäuble, ist das nicht elegant? Da schwirrt der Kopf und versteht gar nichts mehr und alles und wir Gesellschaftsinsassen verblöden in katatonischer Starre. Klappt immer.

Fiktion? Bitte unter Konservative Revolution nachschlagen, ganz frühe Kommunikationsguerilla. Oder mal in das aktuelle politische Newspeak reinhören, wenn der Sinn gerade nach echten Schmerzen steht. Da sehen wir die Herren des Wörterbuchs und ihre Spin-Doktoren, wie sie semantische Räume verklumpen, um dem letzten befreienden Potenzial der Sprache den Rest zu geben. Semiotischer Staatsterrorismus. Ihr Wort gilt! Müssen wir wirklich darauf hinweisen, wie das Verteidigungsministerium früher hieß und immer noch heißen müsste? Versteht heute eigentlich noch jemand, was Manipulation bedeutet? Klar, Christian? [9] Da hat sich der Feind also unsere Taktiken angeeignet. Trotzdem oder gerade deswegen immer wieder lesenswert: autonome a.f.r.i.k.a gruppe / Luther Blisset / Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla, VLA.

Wir denken selbstverständlich nicht, dass es irgendwo einen geheimbündlerischen Kreis von Mächtigen gibt, der gezielt und bei Bewusstsein semantische Felder okkupiert. Das passiert alles fließend und organisch und rhizomatisch, also ungreifbar und dadurch unangreifbar, wenn die Schmierlappen das unterirdische Geflecht des semantischen Netzwerks in ihren Ausschüssen, Gremien, Sitzungen, Meetings und Arbeitsfressen mit ihrem Sprachmist düngen. Wie können wir denn heute mal den Pöbel verblöden? Hat sich dabei eigentlich schon mal einer von denen tot gelacht? Wahrscheinlich. [9] Schmierlappen machen natürlich nicht nur Zeitungen. Die finden wir überall. Das geht jetzt mal an alle, die sich in diesem Milieu bewegen, und glauben, auch dort sei ein gutes Leben möglich. Könnt Ihr uns hören? Dann HÖRT ENDLICH AUF Sir Lemmy Kilmister: Wirtschaft Markt Geschäft bedeuten, dass mindestens einer der Beteiligten gefickt wird. Lesen, lernen und ins Leben tragen: Lemmy, White Line Fever, Heyne.

Nur um nicht ganz falsch verstanden zu werden: In geschlossenen offenen Räumen lässt sich durchaus noch Sprachspiel betreiben. Das ist es aber auch schon. Im öffentlichen Raum haben die Herrschaften das Sagen. Ohne Christian Anders und Christian Klar haben wir keine Chance. Da schweigen wir lieber.

Vielleicht war es aber auch anders. Den Schlüssel zu Erleuchtung und Erlösung trug Cioran ja immer bei sich. Wollte er wohl nur nicht, wäre wahrscheinlich zu banal gewesen. Gestattete er sich trotzdem das Erbarmen, ihn am Ende zu benutzen? Konnte er ihn noch rechtzeitig benutzen, um der äußeren Welt zu entkommen? Wir wollen es nicht wissen.

Die letzte Lehre, für die wir ihm hier danken wollen ist, immer zu bedenken, wann es an der Zeit ist, die Reißleine zu ziehen. Memento mori: Sterben als Chance.



Erstellt: 24. Januar 2009 – letzte Überarbeitung: 26. Januar 2009
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