BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Tugenden, die Brontë-Schwestern und die Postmoderne»
von Henriette Orheim
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Vorspiel

Kann man heute über Tugenden sprechen, lieber Leser, liebe Leserin? Nein, wirklich nicht. Tugenden? Was soll das sein? Vermutlich irgendetwas Rückschrittliches, Moralinsaures, über das Gutmenschen, Ökos und Weltverbesserer reden? Und welche Rolle spielen jetzt die Brontë-Schwestern in diesem Zusammenhang? Und was haben Tugenden und die Brontë-Schwestern mit der Postmoderne zu tun? Genau, darum geht es. Ich werde beschreiben, welch' weiten Weg wir zurück gelegt haben. Wir? Ja, wir. Wer sonst?


Tugenden

Ursprünglich soll das Wort ‹Tugend› auf eine beliebige besonders ausgeprägte oder entwickelte Fähigkeit verweisen. Und wenn wir den einschlägigen Herkunftswörterbüchern trauen können, dann ist ‹Tugend› eine Abwandlung von ‹taugen›. Da taugt also ein Mensch etwas, weil er über besondere Fähigkeiten oder Tugenden verfügt. Wird das Wort ‹Tugend› heute noch verwendet? Nein, es wirkt seltsam deplaciert. Doch viele Menschen ahnen oder wissen noch, was damit gemeint war. Vielleicht dies: Ein tugendhafter Mensch verfügt über die intellektuellen und psychischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, in seinem sozialen Raum Maßstäbe für das eigene Handeln zu finden, die dem sozialen Raum, anderen Menschen und schließlich ihm selbst Gutes tun. Frei nach Heinz von Foerster könnte das Motto eines tugendhaften Menschen sein: Mir geht es besser, wenn es andern besser geht. Wir sehen hier eine Gesinnung, die über das Wohlergehen des eigenen ‹Ichs› hinaus geht und auf die Verwirklichung ethischer, sittlicher und moralischer Werte drängt. Pólis statt Oikos.

Dieser wichtige Grundsatz, dieses Prinzip der Tugend schlechthin, wurde nun in verschiedenen Zeiten, Kulturen und sozialen Räumen mit unterschiedlichen Begriffen angereichert. Ja, es wurden gar Unterschiede erfunden, ob es sich bei der einen oder anderen Tugend denn nun um eine Kardinal- oder Sekundärtugend bzw. um eine Verstandes- oder Charaktertugend handele. Dieser philologische Diskurs ist für uns uninteressant.


Die Brontë-Schwestern

Anne, Charlotte und Emily Brontë sind mit ihren Werken für eine Connaisseuse und Aficionada der Literatur ein Quell ewiger Freude. Nachdem ich vor ein paar Tagen einen angesagten neuen Roman nach wenigen Seiten ob seiner läppischen Sprache und seiner trivialen Dialoge zur Seite gelegt und zunächst ärgerlich und enttäuscht, aber dann träumend meine Augen auf die Bücher in meiner Bibliothek gerichtet hatte, fiel mein Blick auf die wunderschönen kleinen Bände der Manesse-Reihe und – auf die Romane der Brontë-Schwestern. Vor etwa einem halben Jahr las ich ja wieder einmal «Jane Eyre» von Charlotte Brontë, erschienen 1847, und schrieb dazu eine kleine Buchgeschichte. Und jetzt stieg sie in meiner Erinnerung wieder empor, ja, ich sah sie, die «wunderbare, äußerlich unscheinbare, herbe, kluge, rebellische, integre, individualistische und selbstbewußte Jane Eyre».

Und da kam mir der Gedanke, die postmodernen Romane, die ich ja nur lese, um nicht aus der Zeit zu fallen, diese Romane mit den immer gleichen Doppel-Hauptwort-Genitiv-Titeln bei Seite zu lassen und endlich wieder einmal alle Romane der Brontë-Schwestern zu lesen. Und allein dieser Vorsatz machte mich glücklich. Ich begann sogleich mit Anne Brontës «Agnes Grey», erschienen 1847. Und schon nach wenigen Seiten spürte ich den krassen Unterschied zu den üblichen zeitgemäßen Wortansammlungen.

Und das brachte mich auf die Idee, im Rahmen einer kleinen ‹Wirklichkeitsprüfung› einmal alle Tugenden, die in den Werken der Brontë-Schwestern eine Erwähnung finden, zu sammeln und aufzuschreiben. Einige erfüllte und reiche Tage später, ich hatte gerade Charlotte Brontës «Vilette» von 1853 zu Ende gelesen, konnte ich diese stattliche – aber vermutlich unvollständige – Tugend-Liste betrachten, die ich hier in eine anmutige alphabetische Ordnung gebracht habe:
Akkuratesse, Anständigkeit, Aufrichtigkeit, Ausdauer, Barmherzigkeit, Begeisterungsfähigkeit, Beharrlichkeit, Beständigkeit, Bewunderungsfähigkeit, Demut, Ehrfurcht, Ehrlichkeit, Ehrenhaftigkeit, Eifer, Fairness, Festigkeit, Fleiß, Freimut, Geradheit, Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit, Güte, Gutartigkeit, Gutherzigkeit, Herzlichkeit, Hingabe, Integrität, Kordialität, Lauterkeit, Liebenswürdigkeit, Loyalität, Milde, Mitgefühl, Moralität, Nachsichtigkeit, Offenheit, Ordnungsliebe, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit, Rechtschaffenheit, Redlichkeit, Ritterlichkeit, Selbstbeherrschung, Sittlichkeit, Sorgfalt, Standhaftigkeit, Stetigkeit, Takt, Treue, Unabhängigkeit, Unbestechlichkeit, Uneigennützigkeit, Unermüdlichkeit, Unerschütterlichkeit, Unvoreingenommenheit, Verantwortungsbewußtsein, Vertrauenswürdigkeit, Vorsicht, Wahrhaftigkeit, Wahrheitsliebe, Warmherzigkeit, Weitsichtigkeit, Zurückhaltung, Zuverlässigkeit.
Wohlgemerkt, viele dieser Tugenden beziehen sich auf Männer, aber nicht nur. Oder anders: Die Brontë-Schwestern erhofften und erwarteten bei den von ihnen erfundenen männlichen Romanfiguren, sie würden sich wie ein Gentleman verhalten. Und natürlich werden die Frauen in ihren Romanen von Männern oft enttäuscht, insbesondere die Heldin in Anne Brontës «Die Herrin von Wildfell Hall» von 1848. Aber die Tugenden gelten von ihrem Anspruch her eben gerade auch für Frauen. Und die Brontë-Schwestern haben in ihren sehr kurzen Lebensspannen, auf einem Friedhof wohnend und immer wieder vom Tod berührt, viele der oben genannten Tugenden gelebt und mit Leben erfüllt, und dabei noch so nebenbei die Emanzipation der Frauen ganz wesentlich gefördert und voran gebracht. Und das ist einer der Punkte, die mir die Brontë-Schwestern so ans Herz wachsen ließen.


Am Ende eines weiten Weges

Worin besteht der Unterschied zwischen postmodernen Romanen und den Büchern der Brontë-Schwestern? Nun, das ist leicht gesagt. Auf Seite 6 des Arbeitspapier Nr. 11 schreiben wir:
«Wir denken, daß das Haupt-Motto der Postmoderne ist: Es geht um nichts! Alles „Höhere“ wie Anspruch, Moral, Sinn, Normen, Grenzen, Werte (z. B. Solidarität), Botschaften, politische Ziele, menschliche Ziele, Berücksichtigung von späteren Folgen etc. interessiert nicht mehr. Statt dessen geht es um die in jeglichem Sinne vorteilhafte Inszenierung der eigenen Person im akuten Hier und Jetzt.»
Um endlich auf den Titel dieses Traktätchens zurück zu kommen, können wir auch sagen, Tugenden spielen in der Postmoderne vermutlich keine Rolle mehr. Statt gelebter Tugenden sehen wir heute tugendfreie Leute, die alle beanspruchen, ein ‹Ich› zu haben und die empört sind, wenn man es nicht hinreichend beachtet. Das würde ja noch angehen, wenn die Leute auf den Gedanken kämen, daß aus dieser ‹Ich›-Behauptung eine permanente Verantwortung entsteht. Darauf kommt aber nur einer unter Tausend. Und so müssen wir weiter unsere Traktate schreiben: «So viel ‹Ich› war nie», «Das ‹Ich› als Benutzeroberfläche», «Das steht mir zu!», «Als ‹Ich› in der Dienstleistungsgesellschaft» usw. usw. Und äußerst belästigend kommt zu den mundanen ‹Ich› Behauptungen und ‹Ich›-Präsentationen noch die «Postmoderne Unmittelbarkeit» hinzu.

Ja, wir sind am Ende eines weiten Weges. Die ‹Herren des Wörterbuchs› haben ihre Kulturinsassen begrifflich fest in der Hand, indem sie ihnen bezüglich ihres ‹Ichs› eine lange Leine lassen. Für notwendige ‹Lektionen in Trialektik› haben die Kulturinsassen des finalen Kapitalismus kein Sensorium mehr.

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi sagte einmal: «Die Moralität des Menschen zeigt sich in seinem Verhältnis zum Wort.» Das ist sehr schön. Deswegen erklären tugendfreie Politiker, ‹sie wollten keine Macht, sondern Deutschland dienen›, tugendfreie ‹Unternehmer› betonen, bei ihnen ‹stehe im Mittelpunkt der Mensch›, und die restlichen Insassen unserer Makro-Anstalt, nach jahrelangem Konsum des TV und der größten Schmierlappenzeitung dieses unseres Landes gänzlich tugendfrei, können soeben noch einen Satz vor sich hin brabbeln: Unterm Strich zähl ich.

Ein weiter Weg. Finis.



Erstellt: 8. Februar 2009 – letzte Überarbeitung: 10. Februar 2009
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