BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Verblasste Mythen (1): Gedanken»
von Artus P. Feldmann
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«Woran wir sind, daran denken wir,
weil wir dabei gestört wurden, nicht daran zu denken. --
Nachdenklichkeit heißt:
Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.
Das ist alles.»
(Hans Blumenberg)

Einführung

Ach, Nachdenklichkeit! Wo ist sie zu finden? Gedanken: Wo seid ihr? Denken Menschen überhaupt noch irgendetwas? Verwendet heute noch irgendjemand das schöne Wort Gedanke? Wann haben wir zuletzt jemandem zuhören dürfen, der uns enthusiastisch sagte: «Ich habe da einen Gedanken!» Können Sie sich erinnern, liebe Leserin, lieber Leser? Ich kann es nicht. Aber sehen Sie, ich bin auch ein alter Mann, für mich gilt, was der Papst über Galileo Galilei in Bertolt Brechts Theaterstück ‹Leben des Galilei› sagt: «Er denkt aus Sinnlichkeit. Zu einem alten Wein oder einem neuen Gedanken könnte er nicht nein sagen.»

Und was müßten wir über die Menschen heute – in den Nullerjahren – sagen? Zu einem günstigen Wein im Sonderangebot und einer Meinung, die von vielen geteilt wird, können sie nicht nein sagen. Ach! Dass sie überhaupt an allgemein verbreitete Meinungen glauben, anstatt selber zu denken und zu urteilen!

Machen wir es kurz: Die Menschen haben Meinungen, ohne zu wissen, daß es Meinungen bestimmter sozialer Räume sind, denn sie meinen zu wissen. Und Tag für Tag quälen sie uns mit diesen allfälligen und wohlfeilen Meinungen über die Welt. Und ganz und gar unerträglich wird es, wenn ein Politdarsteller bei der mit einer Stentorstimme heraus posaunten Meinung auch noch ein wissendes und – Jesus! – optimistisches Gesicht zeigt.

Ist das so schrecklich mit den allfälligen Meinungen und den fehlenden Gedanken? Ja. Daß Menschen Gedanken haben, gar zu Gedanken fähig sind, ist ein verblasster Mythos. Denn «die epistemologische Leichtfertigkeit, die Nachhaltigkeit, die Penetranz, mit der Menschen ihre ‹ganz persönliche› Meinung über irgendetwas für wahr und für ein Abbild der Wirklichkeit halten und in die Welt stellen, verblüfft uns immer wieder», sagen Albertine Devilder und Henriette Orheim in ihrem schönen einleitenden Essay über eine Psychologie des Meinens. Und in ihren weiteren vier Essays über das Meinen entwerfen sie ein großes Bild des Meinens in sozialen Räumen. Was bleibt uns übrig für dieses Traktätchen? Ein achtsamer Blick auf den Unterschied zwischen Meinen und Denken, ein Herbeizaubern von wunderschönen Aphorismen und ein Finale, das uns – wie immer – nicht alleine läßt.


Meinungen

«Die Pest des Menschen ist die Meinung,
etwas zu wissen.»
(Michel de Montaigne)

Wenn wir in den Alltag schauen und den Menschen beim Meinen, Glauben und Wissen zuhören, können wir ganz leicht erkennen, daß sie – etwa in einer Talkshow – die Ideologien bestimmter sozialer Räume aufsagen und immer wieder Meinen, Glauben und Wissen durcheinander bringen. Am lustigsten ist es, wenn jemand eine Meinung seines sozialen Raumes als ‹feststehende› Tatsache oder Faktum ausgibt und damit gar einen Eindruck machen kann. Im finalen Kapitalismus muß von den Beauftragten der ‹Herren des Wörterbuches› und den eingebetteten Journalisten immer wieder und unter allen Umständen der generelle final-kapitalistische Meinungskonsens aufgesagt werden (Privatisierung, Flexibilisierung, Mehr netto vom brutto, Steuern runter usw.), als christliche Leitlinie dafür, daß die Diskrepanz zwischen Arm und Reich immer größer werden muß und es Bildung in einem umfassenderen Sinne nur noch für privilegierte christliche Bürgerkinder geben darf, denen man ihre Unterwerfung unter eben diese christlichen Leitlinien mit Kopfnoten quittiert.

Schauen wir uns zunächst einmal das Phänomen ‹Meinung› an sich an. Was ist von Meinungen zu halten? Nicolas Chamfort ist da ganz deutlich:

«Die Meinung ist die Königin der Welt, weil die Dummheit die Königin der Schwachköpfe ist.»

Interessant ist es nun, daß Menschen sich in ihrer Meinung geborgen fühlen, wenn sie glauben, daß viele andere ebenfalls ihrer Meinung sind. Das ist in Internetforen – etwa beim fröhlichen Apple-Bashing – und in allerlei Diskussionen zu beobachten. Aber hat die Allgemeinheit, die Verbreitetheit einer Meinung überhaupt irgendeine Bedeutung? I wo.

«Die Allgemeinheit einer Meinung ist, im Ernst geredet, kein Beweis, ja nicht einmal ein Wahrscheinlichkeitsgrund ihrer Richtigkeit. […] Es ist sehr seltsam daß die Allgemeinheit einer Meinung so viel Gewicht bei den Menschen hat, da sie doch an sich selbst sehn können, wie ganz ohne Urtheil und bloß kraft des Beispiels man Meinungen annimmt. Aber das sehn sie nicht, weil alle Selbsterkentntniß ihnen abgeht.» (Arthur Schopenhauer)

Das mit der mangelnden Selbsterkenntnis, mit dem fehlenden Selbst-Monitoring, gefällt uns sehr, da wir ohnehin denken, daß die Reflexionsfähigkeit der grandiosen ‹Ichlinge› in den Nullerjahren erstaunlich überschätzt wird. Wir können aber auch ganz abstrakt darüber nachdenken, ob eine der bedeutendsten Voraussetzungen unseres Gesellschaftssystems – eine Mehrheit weiß immer Bescheid und deswegen zeigt deren Meinung auf die ‹Wirklichkeit› – überhaupt trägt. Wir haben da große Zweifel. Jan Philipp Reemtsma auch, er spricht vom ‹Unaufhebbaren Nichtbescheidwissen der Mehrheit›. Und Nicolas Chamfort ist hier wieder sehr deutlich und ohne Zweifel:

«Man kann wetten, daß jede öffentliche Meinung, jede allgemeine Konvention eine Dummheit ist, denn sie hat der großen Menge gefallen.»

Das sollten wir bedenken, wenn wir uns vorstellen, daß Politik nach außen immer nur populistisch sein kann, während im Versteckten die Pläne der ‹Herren des Wörterbuches› abgearbeitet werden. Besonders lustig ist es nun, daß in diesen final-kapitalistischen Zeiten die Menschen zwar gelegentlich über die Prinzipien der Ausbeutung, unter denen sie leiden, klagen, sie selbst aber würden in der Rolle der Kapitalisten niemals anders handeln: Es geht immer und überall darum, die Kosten (Löhne) zu drücken, den Profit zu erhöhen und bei Käufen den allergünstigsten Preis auszuhandeln. Das ist das Grundcredo, dem alle folgen. Arthur Schopenhauer sagt es so:

«Kurzum Denken können sehr Wenige, aber Meinungen wollen Alle haben: was bleibt da anders übrig als daß sie solche, statt sie sich selber zu machen, ganz fertig von Andern aufnehmen? […] Sie sind Schaafe die dem Leithammel nachgehn, wohin er auch führt; es ist ihnen leichter zu sterben als zu denken.»

Tatsächlich, die überwältigende Mehrheit der Menschen kann sich gar keine Welt jenseits einer kapitalistischen Welt vorstellen, es fehlen ihnen die Gedanken dazu. Was wir statt dessen hören, sind Sätze, die der Logik der ‹Tiefpreiskultur› entsprechen:

«Also, ich hatte die Info, daß es das Seniorenhandy bei ‹Netto› billiger gibt. Da bin ich natürlich sofort hin!»

Da benötigt es schon eines Gedankens, um darauf zu kommen, daß das Streben nach Dauertiefpreisen nicht nur den eigenen Lohn schmälert, sondern gar den eigenen Arbeitsplatz gefährdet. Doch: «Nichts schwerer, als eine triviale Ansicht oder eine eingebürgerte Redensart zu Fall zu bringen», sagt Nicolas Chamfort. So ist es.

Wie kommen wir aus diesem kleinen Absatz über Meinungen wieder heraus? Mit einem Aphorismus unserer sehr geschätzten Autorin Albertine Devilder:

«Dumme Menschen haben zu allem und jedem eine Meinung; kluge zu wenigem mehrere.»

Wir werden diesem Gedanken gleich wieder begegnen.


Gedanken

«Haben Sie schon je einen Gedanken zu Ende gedacht,
ohne auf einen Widerspruch zu stoßen?»
(Henrik Ibsen)

Wenn wir, lieber Leser, liebe Leserin, über den Unterschied zwischen Meinungen und Gedanken nachdenken, öffnet sich ein wunderbarer Raum, in dem wir allerlei Einsichten gewinnen können. Stellen Sie sich irgendeine Veranstaltung in einem Schaumedium vor – wobei es einerlei ist, ob Proleten in einem Container oder Politiker in einer Talkrunde reden – und beachten Sie, wie einseitig, schlicht und dabei beharrlich Meinungen aufgesagt und Widersprüche weggebügelt werden. Daß da etwas nicht stimmen kann, begreifen wir, wenn wir Karl Kraus zuhören:

«Wer Meinungen von sich gibt, darf sich auf Widersprüchen nicht ertappen lassen. Wer Gedanken hat, denkt auch zwischen den Widersprüchen.»

Das ist ein ganz großartiger Gedanke über Meinungen und Gedanken, den auch Henrik Ibsen in dem oben vorangestellten Motto transportiert, und der den entscheidenden Unterschied zwischen ihnen ausmacht. Ja, so ist es, Meinungen sind immer einseitig, sie entbehren des Runden, des Ganzen, des Abwägenden, sie sind vorlaut und wehren sich deswegen immer gegen ihre Vorläufigkeit, sie fuchteln herum bei dem Versuch, auf die Wirklichkeitswelt zu zeigen, und sind damit spitz und schrill, und ja, wird einer Meinung etwa widersprochen, so muß es immer lauter und wilder zugehen, denn die Abgründe und Paradoxien dieser Meinung werden doch immer deutlicher. Das Ganze nennt man dann Diskussion:

«Wir lernen disputieren - leider nur, um zu widersprechen. […] Die meisten Disputationen gehören - wie alle anderen Verbalinjurien - verboten und bestraft.» (Michel de Montaigne)

Albertine Devilder sagte einmal: «Meinungen, Überzeugungen, Standpunkte, Prinzipien: Alles Feinde der Wahrheit; nur Gedanken können zu ihr beitragen.» Und Egon Friedell ergänzt: «Bei einem Denker sollte man nicht fragen: welchen Standpunkt nimmt er ein, sondern: wie viele Standpunkte nimmt er ein? Mit anderen Worten: hat er einen geräumigen Denkapparat oder leidet er an Platzmangel, das heißt: an einem "System"?»

Ist das nicht wunderschön gedacht? Wer eine Meinung hat, einen Standpunkt, steht eben auf nur einem Bein. Wer einen Gedanken hat, wird zum Vielfüßler. Wer eine Meinung hat, meint, sich zwischen diesem oder jenem entscheiden zu müssen. Wer einen Gedanken hat, kann seine Standpunkte nebeneinander stehen lassen, er muß (sensu Nietzsche) seine Rechtschaffenheit nicht durch die Konstruktion eines Systems gefährden. Anthony Trollope sagt es so:

«Es ist der Fluch meines Lebens, daß ich mir zu wichtigen Themen keine entschiedene Meinung bilden kann. Ich denke und denke und denke immer weiter, und dennoch entwickeln sich meine Gedanken ständig in verschiedene Richtungen.»

Und wenn wir uns einen Gedankenaustausch vorstellen, dann müßte dieser ganz anders aussehen, als eine Diskussion. Da würden keine Meinungen wie Bälle hin und her geworfen, nein, da würde achtsam und mit Bedacht abgewogen und erwogen, wie etwas sein könnte. Da spielt der Konjunktiv eine Rolle. Einen Gedankenaustausch kann es also nur in einer Erwägungs- und nicht in einer Behauptungskultur geben, und deswegen gibt es ihn auch heute nicht mehr: Zu mühsam, zu unklar, zu langweilig. Junge Leute schaffen es heute kognitiv nicht einmal mehr bis hin zu abstrakten Zusammenfassungen ihrer eigenen Erlebnisse, gedankenlos und gedankenfrei wird gestenreich der Erlebnisfilm abgespult: «Ich so, er so, ich so, er so ...!» Das Erzählen in Bildern.

Wenn wir uns auf die Kraus'sche Unterscheidung von Meinungen und Gedanken einlassen, kann uns mit einem Mal ganz leicht werden. Wir sehen, wie unsinnig und beschränkt Diskussionen sind, in denen eben nicht gemeinsam weiter gedacht und erwogen wird, sondern in denen immer einer mit seiner Meinung gewinnen muß und soll. Karl Kraus sagt:

«Der Gedanke ist ein Kind der Liebe. Die Meinung ist in der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt.»

Ja, gemeinsam mit jemandem gegen die Welt anzudenken und sich mögliche Wegweiser auszudenken, das ist eine Art Liebesakt. Und bei diesem spielt die Sprache, spielen Wörter und Worte die entscheidende Rolle. Um Meinungen haben und ausdrücken zu können, genügt ein restringierter Sprachcode, genügen – wie es bei Politikdarstellern zu beobachten ist – an die fünfzig Wörter, die immer wieder neu kombiniert werden. Henriette Orheim hat das in ihrem schönen Traktätchen «Ich gehe davon aus!» beschrieben:

«Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe davon aus, daß die Entwicklung der arbeitsmarktpolitischen Lage am Standort Deutschland für alle Parteien, die guten Willens sind, eine Herausforderung darstellt. Ich kann dazu im Namen der Bundesregierung nur sagen: Wir nehmen diese Herausforderung sehr ernst.» (Beifall) «Und dies wird mit Sicherheit dazu führen, daß Parteirat und Bundesvorstand schon in den nächsten Wochen klare Vorschläge machen werden, die die gezielte und kraftvolle Lösung der Probleme aktiv angehen. Wir machen Deutschland zukunftsfähig.»

Um Gedanken ausdrücken zu können, müssen wir sprechen können, müssen wir Wörter und Begriffe kennen und lieben. Denn Karl Kraus sagt: «Der Gedankenlose denkt, man habe nur dann einen Gedanken, wenn man ihn hat und in Worte kleidet. Er versteht nicht, daß in Wahrheit nur der ihn hat, der das Wort hat, in das der Gedanke hineinwächst.» Ja, und mit diesem Aphorismus sehen wir, wie weit auseinander die ‹Träger› von Meinungen und Gedanken sind, sie können sich nicht berühren.


Finale

«Das Denken bietet Trost und Heilung für alles.
Hat es einem wehgetan,
so verlange man von ihm das geeignete Gegenmittel,
und man bekommt es.»
(Nicolas Chamfort)

Liebe Leserin, lieber Leser, wenn Sie bis hierhin durchgehalten haben, wenn Sie in der Lage sind, einen vierseitigen Text ohne Abschweifung zu lesen und sich an ihm zu erfreuen, dann stehen Sie vor einer sehr schönen Entwicklungsaufgabe: Sich von allfälligen und hergebrachten Meinungen zu lösen, Ihren Mitmenschen ihre Meinungen zu lassen und mit einigen wenigen lieben Menschen einen hortus conclusus zu bilden, in dem sie Gedanken austauschen und weiter denken. Und dieses Miteinander wird dann niemals mehr in die lärmenden Wirklichkeitsbehauptungen einer Diskussion abrutschen. Sie werden mit der Zeit gegen Meinungen immun. Gut so.

Doch Probleme bleiben: Denken ist zum einen nicht einfach und führt zum anderen nicht zu einfachen Lösungen – für ein richtiges Leben im falschen. Der große Dunkle aus Lissabon, Fernando Pessoa, sagt es so:

«Leben heißt nicht denken. Denken heißt nicht existieren können.»

Kann man es noch deutlicher sagen, was wir uns einhandeln, wenn wir das Aufsagen hergebrachter Meinungen unterlassen und es wagen, mit anderen in die Welt der Gedanken einzutreten? Ja. Karl Kraus sagt:

«Aus Lebensüberdruß zum Denken greifen: ein Selbstmord, durch den man sich das Leben gibt.»



Erstellt: 31. Mai 2010 – letzte Überarbeitung: 1. Juni 2010
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