BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Verblasste Mythen (5): Solidarprinzip»
von Artus P. Feldmann
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«Der Horizont vieler Menschen ist ein Kreis mit dem Radius Null
- und das nennen sie dann ihren Standpunkt.»
(Albert Einstein)

Prolog

«Wir denken, daß das Haupt-Motto der Postmoderne ist: Es geht um nichts! Alles ‹Höhere› wie Anspruch, Moral, Sinn, Normen, Grenzen, Werte (z.B. Solidarität), Botschaften, politische Ziele, menschliche Ziele, Berücksichtigung von späteren Folgen etc. interessiert nicht mehr. Statt dessen geht es um die in jeglichem Sinne vorteilhafte Inszenierung der eigenen Person im akuten Hier und Jetzt [...]. Obwohl vermutlich nicht Anti-Sozialität im Mittelpunkt steht, sondern eher A-Sozialität, Nicht-Sozialität, d. h., soziale Zusammenhänge außerhalb der eigenen Systemgrenzen sind irrelevant. Darüber hinaus hat sich die Postmoderne mit dem finalen Kapitalismus und dessen Auswirkungen bis in alle Lebensbereiche hinein abgefunden. Oder anders: Die Postmoderne ist wirklich gewordener, intensiv gelebter Final-Kapitalismus, der allerdings als solcher weder diskurriert noch überhaupt bewußt erlebt wird.» (Arbeitspapier Nr. 11, Seite 6)


Lange her

Klar, ich hätte auch die schönen Wörter Solidarität, Solidargemeinschaft, Solidarausgleich oder Generationenvertrag wählen können, aber ich habe mich für das Wort ‹Solidarprinzip›, entschieden, weil die Bedeutung desselben gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Kaiser Wilhelm I. und seinem Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck erfunden und zum Leben erweckt wurde. Am Beginn der eigentlichen Industrialisierung wurden nicht nur die Arbeiter mit Minilöhnen und Arbeitszeiten von durchaus 60 Stunden pro Woche ausgebeutet, sondern es zeigte sich auch, daß die Arbeiter im Krankheitsfall mit ihren Familien schlicht zu verhungern drohten, da sie in diesen Fällen keinen (Mini)Lohn mehr erhielten. Klar, reiche Leute witzelten schon mal mit einem «Wenn sie kein Brot haben, warum essen sie dann keinen Kuchen?», dennoch war die Systemlage für die Herrschenden unerfreulich. Es ist unästhetisch, immer wieder vom Militär auf demonstrierende Arbeiter schießen zu lassen. Also wurde eine Krankenversicherung erfunden, in die diejenigen einzahlen mußten, die gesund waren und arbeiten konnten, und aus der diejenigen, die erkrankten, nicht nur medizinisch sondern auch mit einem ‹Krankengeld› versorgt wurden. Und: Die ‹Arbeitgeber› beteiligten sich an den Beiträgen zur Krankenversicherung der ihnen gehörenden Arbeiter. Zunächst nur zu einem Drittel, viele Jahre später dann zur Hälfte. Und genau das verändert sich nun.


Ein romantisches Prinzip

Schauen wir uns dieses romantische und soziale Solidarprinzip in der (gesetzlichen) Krankenversicherung – später wurde es auf eine Unfall-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung ausgedehnt – näher an: Beiträge zur Versicherung werden nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (also dem Einkommen) der Versicherten erhoben, d.h., jedes Mitglied einer (gesetzlichen) Krankenversicherung zahlt unabhängig von Alter, Geschlecht oder Gesundheitszustand einen prozentual gleichen Beitrag von seinem Bruttoeinkommen. Wer mehr verdient, zahlt auch mehr für seine Krankenversicherung. Dies ist ein wichtiger und dem Solidarprinzip inhärenter Solidarausgleich.

Die Leistungen im Krankheitsfall werden nun nach dem medizinischen Bedarf erstattet. Jeder, der krank wird, soll also die medizinische Versorgung bekommen, die er braucht - unabhängig von Alter und Einkommen. Dieses Solidarprinzip erschafft somit eine Solidargemeinschaft, in der die Jüngeren und Gesünderen die Älteren und Kränkeren unterstützen.

Selbstverständlich mußte dann mal eine Beitragsbemessungsgrenze erfunden werden, damit die wirklich reichen Leute keinen prozentualen Anteil ihres Einkommens in eine solidarische Krankenversicherung einzuzahlen haben. Man stelle sich nur vor, die wirklich reichen Leute müßten – wie die armen – den jeweiligen prozentualen Anteil ihres immensen Einkommens in eine Krankenversicherung einzahlen: Es gäbe keine Defizit-Probleme mehr. Und die Krankenkassen schwämmen in Geld.

Zu diesem romantischen Prinzip gehörte bis vor wenigen Jahren auch, daß die Arbeitgeber in der Regel die Hälfte der Beiträge ihrer Arbeitnehmer übernahmen. Damit gehörten die Arbeitgeber ebenfalls zur Solidargemeinschaft der Arbeitnehmer.


Die Aufkündigung des Prinzips

Mit der Beitragsbemessungsgrenze haben wir einen ersten Einstieg in eine Entsolidarisierung. Reiche Leute beteiligen sich nicht in einer gleichen prozentualen Weise an einer solidarischen Krankenversicherung wie die armen Leute. Eine weitere Aufkündigung des Solidarprinzips vollzieht sich gerade durch das Einfrieren des Arbeitgeber-Beitrags und die neu erfundenen Zusatzbeiträge. Weitere Kostensteigerungen im Gesundheitssystem werden mit den allein vom Arbeitnehmer zu entrichtenden Zusatzbeiträgen aufgefangen. Und da diese einkommensunabhängig erhoben werden, belasten sie Arbeitnehmer mit einem kleinen Einkommen stärker als Arbeitnehmer mit einem hohen Einkommen. Die letzteren brauchen nach wie vor nur von einem bestimmten geringen Teil ihres Einkommens prozentual bemessene Versicherungsbeiträge zu leisten. Dazu wird dafür gesorgt, daß Besserverdienende wieder leichter in eine private Versicherung wechseln können und mit dem Solidarprinzip nix mehr am Hut haben.

Das alles soll so sein. Die privaten Krankenkassen, die Pharmaindustrie und überhaupt der gesamte medizinisch-industrielle Komplex sind die Gewinner. Eine unerfreuliche Kostendämpfung ist durch das Ausscheiden der Arbeitgeber aus dem Solidarsystem nicht mehr erforderlich. Wunderbar! Da freut sich das Kapital.

Die Aufkündigung eines uralten Prinzips bedarf naturgemäß einer erheblichen medialen Umtriebigkeit. Denn noch vorhandene Reste eines Solidaritätsbewusstseins der in einer Versicherung Zusammengeschlossenen müssen durch permanente propagandistische Narrationen beseitigt werden. Schließlich geht es hier um eine neoliberale Politik, wonach jeder für sich selber aufzukommen hat. Wie könnte diese Propaganda aussehen?

Nun, zum einen werden die (gesetzlich) Krankenversicherten ständig ermuntert, hurtig ihre Versicherung zu wechseln, sollte ihr Beitrag einmal steigen. Hat eine Versicherung viele ‹schlechte› Risiken, also viele sehr kranke Versicherte, und muß der Beitrag deswegen erhöht werden, so hat das den postmodernen Kulturinsassen überhaupt nichts anzugehen. Er hat auf seinen eigenen Vorteil zu achten und sich somit eine neue und preiswertere Versicherung auszusuchen. Das begreift der Kulturinsasse sogleich, denn er hat ja auch den günstigsten Telefon- und Internettarif. Alles, aber günstig. Zwischen einem Krankenversicherungstarif und einem Telefontarif sieht er keinen Unterschied und kann er nicht unterscheiden. Operation gelungen, Solidarprinzip tot. Wie kann das funktionieren? Und warum funktioniert es so gut?


Der Auftritt des vietnamesischen Findelkindes, FDP

Im folgenden halten wir nur zwei von diesem vietnamesischen Findelkind, FDP, daher gesagte One-Liner fest – für die Geschichtsbücher und für alle Ewigkeit. Damit wir uns erinnern, wie alles anfing.

  • Das ‹Blinddarm-Argument›
    Natürlich muß die folgende ‹Argumentation› in einer Rede oder einer Talkshow gut vorbereitet werden. Aber dann, auf dem Höhepunkt knisternder Spannung und Erwartung sagt das vietnamesische Findelkind, FDP:«Ich sehe überhaupt nicht ein, warum ein Chefarzt einen höheren Krankenkassenbeitrag zahlen sollte als eine Krankenschwester. Eine Blinddarmoperation kostet bei beiden doch dasselbe!» (Großer Beifall!)

  • Ist das nicht großartig, wie hier mit einem Schlenker das Solidarprinzip weggefegt wird? Und ist dieser Standpunkt, ist diese Argumentation nicht durch und durch falsch und durch und durch böse? Muß ich erklären, was an dieser Argumentation alles falsch ist? Muß ich erklären, warum sie böse ist? Nein.

  • Das ‹Brot-und-Milch-Argument›
    Angesprochen auf die Frage, warum die Arbeitgeber nicht mehr genau die Hälfte des Krankenkassenbeitrages ihrer Arbeitnehmer beisteuern und warum alle Beitragserhöhungen in Zukunft in Form von Zusatzbeiträgen ausschließlich von den Arbeitnehmern zu tragen sein werden, antwortet das vietnamesische Findelkind, FDP: «Aber die Arbeitgeber zahlen doch auch nicht die Hälfte des Brotes oder der Milch ihrer Arbeitnehmer!»

  • Ist das nicht großartig, wie hier mit einem Schlenker das Solidarprinzip weggefegt wird? Und ist dieser Standpunkt, ist diese Argumentation nicht durch und durch falsch und durch und durch böse? Muß ich erklären, was an dieser Argumentation alles falsch ist? Muß ich erklären, warum sie böse ist? Nein.

    Wir sehen: Es geht um nichts mehr. Nichts Höheres. Und das Solidarprinzip war und ist etwas Höheres. Müssen wir uns aufgrund der bösen ‹Argumentation› Sorgen um den Geisteszustand des vietnamesischen Findelkindes, FDP, machen? Oh, nein, er geht als ‹voll normal› durch. Sein Horizont ist ein Kreis mit dem Radius Null. Aber er hat einen Standpunkt. Und wir sollten uns nicht täuschen: Er weiß, was er sagt und tut.

    Müssen wir uns Sorgen um den Geisteszustand derjenigen machen, die die ‹Argumente› des vietnamesischen Findelkindes, FDP, toll finden? Nein. Es sind die Zeitläufte. Sie fressen den Verstand der Menschen auf.

    Wie das enden wird? Das Solidarprinzip wird nach über 100 Jahren segensreichen Wirkens auf dem Misthaufen der Geschichte enden. Und das Geschwätz dazu wird so klingen: «Das muß doch jeder selbst entscheiden, ob er sich eine Krankenversicherung leisten will. Denn die sozialistische Zwangsbeglückung mit einer Krankenversicherung für alle haben wir ja Gott sei Dank hinter uns.» Genau so. Ja.



    Kommentare:


    Verehrter Herr Feldmann,

    Meist sind Ihre Artikel sehr empfehlenswert, die Argumentation leicht verständlich, Ihre Sprache treffend und Ihre Bilder poetisch wie einleuchtend. Nehmen Sie mir es also nicht übel, wenn ich Sie in diesem Punkt kritisiere.

    Auf der einen Seite steht da Herr R., der sich auf Grund seltsamer Begebenheiten ‹Doktor› und ‹Bundesgesundheitsminister› – er sorgt also für die Gesundheit des Bundes, nicht für die der Bürger – nennen darf. Auf der anderen Seite steht der Vietnamese und das Findelkind. Es trifft also eine Menge negativer Konnotationen auf das deutsche Fremdenfeindlichkeitsgen sowie auf das Ausgrenzungsgen sozialer Normabweichler. Wenn Sie nun ein Bild, eine Verknüpfung, zwischen Herrn R. und vietnamesisch konstruieren, dann verfehlt dieses vollkommen alle Zwecke dieser Seite, die mir einfielen.

    Die korrekte Anrede wäre ‹Volkskrankheitsminister›. Damit reitet man sich aber ziemlich in die Scheiße, weil das lustigerweise ebenfalls auf den völkischen Komplex zeigt.

    Beste Grüße und schönen Sonntag,
    Stefan S.



    Erstellt: 5. Oktober 2010 – letzte Überarbeitung: 8. Oktober 2010
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