BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Probleme? Maßnahmen!»
von Henriette Orheim, Albertine Devilder & Helmut Hansen
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«Kultur ist Reichtum an Problemen.»
(Egon Friedell)

Status quo

Nun, dem großen Egon Friedell folgend können wir das Motto nur bestätigen, denn unsere final-kapitalistische Lebensweise im finalen Kapitalismus gebiert eine ganze Reihe von Problemen und vor allem Schäden, die vermutlich nicht wieder gut zu machen sind. Wir denken jetzt nicht an die ungelösten Probleme einer ‹Endlagerung› von Atommüll; an den permanenten Ressourcenverbrauch; an die – von den politisch rechts Stehenden – dauerhaft belächelten Klimaveränderungen; an die gigantischen Schulden der Kommunen, der Länder, des Bundes; oder an zukünftige Renten- und Pensionszahlungen, die nicht gedeckt sind. Wir denken auch nicht an Banken, die für ihr Fehlverhalten großzügig aus Steuergeldern unterstützt werden. Wir werfen auch kein Auge auf den medizinisch-industriellen Komplex, dessen Ziel es nur sein kann, möglichst alle Kulturinsassen nachhaltig und auf Dauer auf Medikamente ‹einzustellen› und sich die ‹Unschädlichkeit› oder ‹Wirksamkeit› derselben von Professoren an Exzellenz-Universitäten für Geld bestätigen zu lassen. Wir denken auch nicht daran, daß das Kapital mittlerweile ganz praktischerweise die erwünschten Texte von Bundesgesetzen selbst entwerfen darf. Wir könnten noch an sehr viele weitere Probleme nicht denken. Der geneigte Leser und die geneigte Leserin mögen sich selbst sie betreffende Bereiche heraussuchen.

Nein, worum es uns in diesem Traktätchen geht, ist die Frage, was eigentlich im öffentlichen Raum geschieht, wenn irgendein durch unsere Lebensweise erzeugtes Problem plötzlich und für einen Tag nicht mehr zu übersehen ist. Was geschieht, wenn mal wieder eine logische Konsequenz unseres falschen Lebens im vollendeten Kapitalismus von der ‹Bevölkerung› vorübergehend als Bedrohung empfunden wird?


Das Problem: Der landwirtschaftlich-industrielle Komplex

Wir nehmen als aktuelles Beispiel den landwirtschaftlich-industriellen Komplex [1] In der Süddeutschen Zeitung vom 10. Januar 2011, Seite 4, war ein ausgezeichneter Artikel von Martin Kotynek mit dem Titel «Das kranke System», auf den wir uns hier berufen und den wir unserer Argumentation zugrunde legen., der sich in seiner ausweglosen Häßlichkeit – jenseits aller Vorstellungen von Ästhetik und Ethik – auf einem vorläufigen Höhepunkt seines Irrweges des konsequenten ‹wirtschaftlichen› Handelns sonnt: Immer mehr, immer schneller und immer billiger zu produzieren. Man stelle sich einen Betrieb vor, der 2.500.000 Hühner pro Woche ‹produziert›. Oder wage einen Blick in einen großen kahlen Raum, in dem 1.500 Puten aufwachsen. Oder schaue auf Hochleistungskühe, die in Ställe oder auf Drehscheiben gedrängt niemals das Tageslicht erleben oder friedlich auf einer Wiese wiederkäuen dürfen.

Das ist genau so gewollt. Industrie, Bauernverbände und Politik arbeiten Hand in Hand. Und die Europäische Union, die sich bei ihren Millionenförderungen an Hektarzahlen und am Ertrag orientiert, verteilt den Großteil ihrer Subventionen ganz folgerichtig an den landwirtschaftlich-industriellen Komplex und fördert somit die nicht artgerechte Massenproduktion. [2] Für die großen Lebensmittelproduzenten ist es wichtig, daß die Kulturinsassen nicht erfahren, wie gerade sie, als die größten Betriebe mit den schlimmsten Auswirkungen, mit Millionen Fördergeldern von der EU unterstützt werden. Das ist Datenschutz. Und eine christliche Bundeslandwirtschaftsministerin setzt sich gemeinsam mit der Agrarlobby ganz selbstverständlich dafür ein, daß an diesem Förderungssystem nichts geändert wird.

Dabei erzeugt die ungebremste industrielle Agrarproduktion eine ganze Reihe von Problemen, die uns noch auf den Kopf fallen werden. Die industriell ausgerichteten Großbetriebe vernichten nicht nur Jahr für Jahr die Existenz kleiner bäuerlicher Erzeuger, die tatsächlich immer noch eine artgerechte, die Umwelt und die Ressourcen schonende Tierhaltung bevorzugen und einen Liter Milch nicht für 20 Cent verkaufen können, nein, viel schlimmer sind die nachhaltigen Umweltschäden, wie die Verseuchung des Grundwassers mit Nitraten, die Zerstörung fruchtbarer Böden und die hohen Treibgas-Emissionen. Eine kleinteiligere, ökologischere Landwirtschaft würde, statt unsere Lebensgrundlagen zu zerstören, die Fruchtbarkeit der Böden erhöhen, Treibhausgase binden und unsere alten Kulturlandschaften bewahren. Doch da sei Gott vor!

Direkt verbunden mit dem Problem des landwirtschaftlich-industriellen Komplexes sind die den Herren des Wörterbuchs, der Politik, dem Kapital und der Agrarlobby verpflichteten Medien wie FOCUS oder die ‹Stiftung Warentest›. Diese bestätigen – unabhängig von den wiederkehrenden ‹Skandalen› – immer wieder pflichtschuldigst, daß etwa Bio-Lebensmittel nicht ‹besser› seien als ‹normal› erzeugte. [3] Nur in einer kleinen Fußnote erwähnt das auf ‹Objektivität› getrimmte ‹Testmagazin›, daß Bio-Lebensmittel nicht so stark mit Pestiziden oder anderen Giften belastet sind, wie die herkömmlichen. Aber wen interessieren Fußnoten, wenn die Lesefähigkeit heute nur noch für große Überschriften ausreicht? Das ist als Grundstimmung sehr wichtig, um allen Einkäufern ‹normaler› Lebensmittel ein Gefühl der geistigen Überlegenheit zu geben, mit Hilfe derer sie über Bio-Spinner lächeln können.

Damit sind wir bei einem weiteren Problem, das mit dem landwirtschaftlich-industriellen Komplex zusammenhängt: Die tief in die Kulturinsassen implantierte mentale Struktur (ein ‹Frame›), daß in diesen Zeiten alles über den Preis geht. Geiz ist geil. Geil ist geil. Wer das nicht kapiert, spült sein sauer verdientes Geld die Toilette hinunter und zeigt völlig klar, daß er nicht ‹normal› ist. Also kann es bei Lebensmitteln nur darum gehen, den allerbilligsten Preis zu zahlen und sich nicht zu fragen, wie und mit welchem Leid und mit welchen Auswirkungen etwa das Stück vergangenes Leben ‹produziert› wurde, welches man gerade zu essen beabsichtigt. Essen ist nichts wert. Essen darf nichts kosten.

Und die christliche Bundeslandwirtschaftsministerin, wir wollen sie noch einmal erwähnen, muß dafür sorgen, daß alles so bleibt wie es ist. Das System muß und darf nicht geändert werden. Die Schöpfung muß nicht bewahrt werden. Gleichzeitig muß sie aber bei allfälligen Problemen so tun, als täte sie etwas. Das ist Politik. Damit sind wir bei den Maßnahmen.


Die Maßnahmen

Ja, jetzt wird es lustig. Kaum ist ein aktuelles Problem bekannt und benannt (Dioxin in landwirtschaftlichen ‹Produkten› wie Eiern oder ‹Fleisch›; ‹Gammelfleisch›; ‹Gammelkäse›; Antibiotika, Pestizide und Hormone in Lebensmitteln; Geflügelpest; gemahlene Kadaver von Schafen im Futter etc. etc.), kaum ist irgendeine kleine Krise zum Thema des einen Tages geworden, setzt sich die Politmaschinerie zur Tranquilierung und Sedierung des ‹Verbrauchers› in Bewegung. Zunächst lassen Politiker in den allfälligen Nachrichten verlesen, daß ‹zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Bevölkerung stattgefunden hat› [4] Wir können es kaum glauben, aber genau dieser Satz ist in einer Nachricht des Rundfunks verlesen worden. Welche Sprache!. Dann treten in allen Schau-Medien beherzte Macher oder Macherinnen auf und reden von einem Maßnahmenkatalog: «Schärfere Lebensmittelkontrollen! Bessere Kontrollen von Futtermittelbetrieben! Mehr Personal für die Überwachungsämter! Höhere Strafen für diejenigen, die das Vertrauen der ‹Verbraucher› mißbrauchen!» und so weiter und so weiter. Insbesondere aber geht es darum, die ‹Verbraucher› davon zu überzeugen, daß uns allen am ehesten dadurch geholfen wird, daß der landwirtschaftlich-industrielle Komplex sich selbst kontrolliert. Ja, das tut der dann auch. Wie wir sehen.

Niemals, d.h. niemals, wird aus systemischer Sicht erläutert, daß der landwirtschaftlich-industrielle Komplex eben genau so strukturiert ist, daß die sogenannte ‹Kette von Skandalen› nicht abreißen kann. Und niemals, d.h. niemals, wird den ‹Verbrauchern› erklärt, daß ihr Griff zur Billigmilch beim Discounter direkt dazu führt, daß die bäuerliche Landwirtschaft zugrunde geht und nur noch der landwirtschaftlich-industrielle Komplex übrig bleibt.


Das Feuilleton: «Es müßte, man müßte, jetzt müßte, wir müßten ...»

Doch jenseits der politischen ‹Maßnahmen› muß das aktuelle Problem auch noch in den Zeitungen und Zeitschriften unseres Landes ‹aufgearbeitet› werden, bevor es dann bis zum nächsten ‹Skandal› wieder vergessen wird. Es schlägt die Stunde der den Herren des Wörterbuchs verpflichteten und für den Tag schreibenden Schreiberlinge (man nannte sie früher Journalisten), die sich zu ganz großartigen Aufrufen und Plädoyers hinreissen lassen, was sich in Zukunft alles ändern müsse, damit zumindest die schlimmsten Katastrophen von unserem Land abgewehrt werden würden. Denn ohne das final-kapitalistische System als solches – welches ja mit dem landwirtschaftlich-industriellen Komplex nur ein besonders abstoßendes Gesicht zeigt – in Frage zu stellen, werden ein paar nicht ernst gemeinte Vorschläge und Ratschläge gemacht, damit da wieder eine Ruhe ist: In Puncto Lebensmittel müßten wir, so heißt es dann gerne, öfter mal auf ‹ein Stück Lebenskraft› (damit ist Fleisch gemeint) verzichten und überhaupt müßten Gesetze her, die die scheußliche Massentierhaltung etwas lieblicher gestalteten; Bauern müßten auch endlich für einen Liter Milch wenigstens so viel Geld erhalten, wie die Erzeugung dieses Liters sie gekostet habe; in Puncto Umwelt müßte ein jeder, so heißt es dann, ab und zu mal auf das Auto und die Flugreise für 9,99€ verzichten usw.: «Es müßte, man müßte, jetzt müßte, wir müßten .....»


Und dann?

Nichts. Das heißt: Nichts. Das Leben geht weiter. Nach spätestens drei Tagen ist das Thema durch. Die von den Politikern geforderten Änderungen werden von den Hoheiten in den Bundesländern abgelehnt, versickern in Arbeitsgruppen und scheitern schließlich am Geld. Und das von den Schreiberlingen wohlfeil geforderte ‹Umdenken› ist zum einen nach kürzester Zeit schon wieder vergessen, zum anderen scheitert es am Wort ‹Denken›. Kulturinsassen denken nicht, die haben Meinungen, die aus ‹Frames› erwachsen. Und diese Meinungen lassen sich ganz wunderbar beeinflussen, indem man auf die ‹Frames› zielt. Punkt. Das war's schon? Ja. Nur noch eins:

Das entscheidende Problem, vor dem wir stehen, ist, daß die vom finalen Kapitalismus konditionierten Kulturinsassen eben diesen finalen Kapitalismus aufrechterhalten: Mit jeder Kaufentscheidung, die mit dem Cent rechnet, und nicht darauf, daß ein Produkt es wert ist, einen bestimmten Preis zu haben, und mit jedem Verzehr eines gequälten Tieres, über dessen kurzes und schreckliches Leben man nichts wissen will. Darüber hinaus gefährden die so konditionierten Kulturinsassen, die ihre kapitalistischen ‹Frames› nicht mehr aufgeben können, mit jedem Einkauf bei einem Discounter ihren eigenen Arbeitsplatz, denn sie unterstützen mit ihrem Kauf die Ausbeutung und die Niedriglöhne derjenigen, die für die Discounter arbeiten müssen. Diese Unterstützung, diese Nichtbeachtung, wird sich bei der nächsten Gelegenheit, bei der es um ihren eigenen Lohn geht, gegen sie wenden.

Klar, es gibt mittlerweile soziale Räume, in denen versucht wird, die schlimmsten Übel so klein wie möglich zu halten. Hier wird auf ein Auto verzichtet. Hier fliegt keiner – für einen Appel und ein Ei – für eine Woche in die Dominikanische Republik. Natürlich ‹all inclusive›. Hier werden die Lebensmittel auf dem Biomarkt besorgt, und der Rotwein kommt nicht aus Australien oder Südamerika, sondern aus Frankreich, oder, wenn es denn sein muß, auch aus Italien.

Ja, es gibt diese sozialen Räume. Vielleicht werden es sogar derer mehr. Aber das wird nicht reichen, solange nicht die eigentlichen und ‹wirklichen› Probleme angegangen werden. Und danach sieht es nun gar nicht aus.



Kommentare:


Verehrte Autorinnen, verehrter Autor,

so erschreckend die in eurem fulminanten Artikel beschriebenen ‹Zustände› bei der ‹Nahrungsmittelproduktion› auch sind, schlimmer noch ist die völlige Aussichts- und Hoffnungslosigkeit, daß sich an eben diesen irgendetwas ändern möge. Dies zeigt sich an den Reaktionen derjenigen, die die sogenannte ‹politische Verantwortung› für das schändliche Produktionssystem der Massentierhaltung tragen.

Ein ‹neuer› ‹christlicher› ‹Landwirtschaftsminister› des Bundeslandes, in dem die meisten Tiere in quälerischer Weise gleichsam am Fließband ‹produziert› werden, hat in einer seiner ersten Einlassungen bestätigt, daß bereits ‹seit Jahren bei Futtermitteln mit Dioxin gepanscht› worden sei, er versicherte aber zur Freude aller am Produktionsprozess Beteiligten, daß es in seinem Land keine ‹Agrar-Wende› geben werde.

Und ein ‹christlicher› Ministerpräsident des Bundeslandes, in dem die meisten Tiere in quälerischer Weise gleichsam am Fließband ‹produziert› werden, sagt in der Süddeutschen Zeitung vom 19.1.2011, Seite 5, dies:

«Es ist wichtig, dass wir alle genau hinsehen und erkennen, dass nicht die Landwirtschaft generell unser Problem ist. Es geht um einige wenige, die sich unverantwortlich, skrupellos und kriminell verhalten haben.»

Ja, das System, der landwirtschaftlich industrielle Komplex, darf weder kritisiert noch bezweifelt werden. Wir kennen diese Argumentation aus dem medizinisch-industriellen Komplex. Das System ist in Ordnung, und Einzelfälle, die das System eigentlich entlarven und blamieren, werden nicht als typisch und zwangsläufig für das System gesehen. Das funktioniert wunderbar!

Und auf Fragen nach den Problemen der Massentierhaltung sagt ein ‹christlicher› Ministerpräsident des Bundeslandes, in dem die meisten Tiere in quälerischer Weise am Fließband ‹produziert› werden, dies:

«Der Strukturwandel hat in Teilen zu einer industriellen Landwirtschaft geführt. Er stößt aber zum Teil an Grenzen. Wir erleben lebhafte Debatten über die Genehmigung von Stallbauten für Großprojekte.»

Ist das nicht genau der hier erforderliche, tausendfach eingeübte und erprobte Politjargon? Und was wird sich denn ganz vorhersehbar aus den lebhaften Debatten über die Genehmigung von Stallbauten für Großprojekte ergeben? Sie werden genehmigt werden. Denn es ist ja kein Systemwechsel nötig. Auch und gerade, weil die Partei, die ja ‹immer nur gegen alles ist›, diesen Wechsel ständig fordert.

Und was war noch mal mit dem Tierschutz? Kein Problem. Es spricht ein‹christlicher› Ministerpräsident:

«Größe allein sagt nichts über die Qualität des Tierschutzes aus. Wir müssen vielmehr für einen achtsamen Umgang mit den Tieren sorgen. […] Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens, etwa beim umstrittenen Stutzen der Schnäbel bei Puten. Diese Debatte werden wir in Niedersachsen führen, gerade weil wir das führende Land in der Geflügelproduktion sind. Ein vernünftiger Landwirt ist ein Tierschützer, der quält keine Tiere.»

Tja, was sollen wir dazu sagen? Kann man angesichts dessen, was bei der Massentierhaltung wirklich geschieht, in einer noch böseren Sprache über das Leid von Tieren sprechen? Kann man noch unverschämter über die schändlichen Probleme einfach hinweg gehen?

Man kann. Ein Sprecher der Geflügelindustrie Niedersachsens betont, daß das Stutzen der Schnäbel von Puten ‹praktizierter Tierschutz› sei. So kann man es auch sehen.

Es gibt keine Hoffnung für die Tiere. Und den Hauptgrund habt ihr in eurem Artikel genau beschrieben:

«Das entscheidende Problem, vor dem wir stehen, ist, daß die vom finalen Kapitalismus konditionierten Kulturinsassen eben diesen finalen Kapitalismus aufrechterhalten: Mit jeder Kaufentscheidung, die mit dem Cent rechnet, und nicht darauf, daß ein Produkt es wert ist, einen bestimmten Preis zu haben, und mit jedem Verzehr eines gequälten Tieres, über dessen kurzes und schreckliches Leben man nichts wissen will.»

Es gibt keine Hoffnung für die Tiere, und es gibt keine Hoffnung für die Menschen.

Es grüßt eine sehr deprimierte

Bibiana aus Berlin

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Ach, lieber verehrter Herr Feldmann,

bevor wir den Tieren (und mithin uns selbst) beistehen können, müßten wir uns dem auf neoliberalem Deregulationskurs dahinfliegenden Kapitalismus in den Weg werfen, ihm Krallen und Schnabel und was-weiß-ich-noch stutzen, nein, ausreißen! Denn ohne dies werden wir nicht viel zu bewirken imstande sein, werden womöglich vereinzelt Individuen, die uns dauern, retten, ein Gänslein hier, ein Kälblein dort, jedoch –

Wozu noch reden,
wozu noch Worte machen?

Ah, – ja, richtig: Weil wir leben. Das Pfeifen im Keller, das Brüllen am Abgrund. Wir werden weiter reden und weiter leiden, wir werden weiter Traktate schreiben und weiter leiden, wir werden immer weiter reden und schließlich beredt zugrunde gehen, an unserer Tatenlosigkeit, an unseren Taten. Und werden dereinst glauben, nicht anders gekonnt zu haben, werden uns berufen auf die Unbelehrbaren, auf die Massen! Denen das Wohl der Tiere und gar ihr eigenes Wohl schnurzpiepegal ist. Und wer weiß: Mag sein,vielleicht langt es tatsächlich zur Absolution, nein?; oben – vielleicht?; – sonstwo? Ah –

In Hoffnung,
Ihr
Eduard Simp. L.

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(Eine Stunde später eingetroffen:)

Verzeihen Sie, lieber, verehrter Herr Feldmann,

was ich Ihnen da geschrieben habe ist natürlich nichts für den Abdruck oder das Ausstellen auf Ihrer Website, es ist eher so etwas wie ein – interner Leserbrief, am Ende gar an mich selbst verfaßt. Und&xnbsp;einen Moment lang, einen&xnbsp;wirklich kurzen Moment lang nur – dachte ich: Warum reden und reden wir, wo doch die Welt da draußen mit bösen Taten oder böser Tatenlosigkeit unser Reden ständig überholt? Wir kommen ja gar nicht mehr nach mit unserem Reden! Warum also reden?

Weil wir leben und lieben wollen.
Weil wir romantisch sind.
Weil wir Menschen sind.

Irgendwie erleichtert und traurig zugleich:
Ihr
Eduard Simp. L.

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(Noch eine Stunde später eingetroffen:)

Nein, Herr Feldmann,

jetzt hab ich's, klare Sache, das Leben kann so einfach und eindeutig sein: Wir müssen reden, sprechen, auch wenn wir über den Bodensatz der Wörter nicht hinaus kommen.

Aber ist das ein brauchbares Sprachbild, der Bodensatz der Wörter? Wir genießen die Laut gewordene Schlüssigkeit unseres Denkens in langen, herrlichen Zügen – wie einen leckeren Kaffee – und plötzlich habe wir die Fresse voller Bodensatz: Wohin, wozu unsere Schlauheiten, angesichts der Scheußlichkeiten in der Welt? Ein bitterer Moment.

Und dann spülen wir uns mit der ungetrübten Klarheit der Liebe die Krümel aus'm Maul: Was bleibt uns schon? Die Schnäbel werden halt unter großen Schmerzen und Qualen der Tiere gestutzt. Punkt. Und dann: Um der Ausweglosigkeit willen Erkenntnisabstinenz üben? Nein! Das wollen wir nicht. Und so müssen wir weitersprechen (die Liebe sagt: Sprich!). Sprechen und erkennen. Und dann und wann am bittern Satz kauen (ist das gut?: Satz? Ja, welcher denn jetzt, welcher verdammte Satz?).

Ach, das Leben ist bisweilen geradezu heiter!

Und so sende Ihnen heitere Grüße,

Ihr
Ihr Eduard Simp. L.



Erstellt: 15. Januar 2011 – letzte Überarbeitung: 18. Januar 2011
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