BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Blogger, Foristen, Journalisten: Notwendige Bemerkungen zur Ethik des Schreibens» von Helmut Hansen
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Erste Vorbemerkung

Ethik des Schreibens? Klar, genau so gut könnten wir über eine ‹Ethik des Sprechens› sprechen – oder schreiben. Was meinen wir? Um was geht es? Nun, in den systemischen und konstruktivistischen Überlegungen zu einer sozialen Weltformel gibt es die Überlegung, daß alles, was gesagt (oder geschrieben) wird, von jemandem gesagt (oder geschrieben) wird. Es geht also um die Befreiung, die Lösung von einer vermeintlichen Wirklichkeitsebene 1. Ordnung, auf die sich das Gesagte beziehen könnte. Es geht um die Beobachterperspektive, die Wirklichkeitsebene 2. Ordnung (der selige Paul Watzlawick lächelt uns zu). Alles, was gesagt wird, hat also zunächst und direkt nichts mit irgendetwas da draußen in der Welt zu tun, außer, daß es eben von jemandem in der Welt über die Welt gesagt wurde. Da das allfällig und überall Gesagte also immer nur und ausschließlich auf die Person des Sagers zurück verweist, die in hilfloser Weise versucht, auf irgendetwas da draußen in der Welt zu zeigen, kommen ethische Fragen ins Spiel. Der Sager hat das von ihm Gesagte zu verantworten. Nur er. Ganz persönlich.

Alle empfindsamen Menschen leiden nun darunter, daß sich fast alle Mitmenschen der Verantwortung für das von ihnen Gesagte (oder Geschriebene) nicht bewußt sind. Die Leute reden und reden (und schreiben und schreiben), aber was sie reden, das sagen sie nicht. Schlimmer noch, fast immer beharren die Sager in prolliger Weise auf dem von ihnen Gesagten, gegen jede Ästhetik, gegen jede Ethik, also gegen jeden Zweifel. Von den üblichen Politikern erwarten wir geradezu, daß sie sich bei jeder Einlassung um Kopf und Kragen reden. Die Äußerungen eines ‹vietnamesischen Findelkindes› zum ‹Solidarprinzip› geben hier ebenso wie die im Politikbetrieb so gerne verwendeten ‹entleerten Wörter› vorzüglich Auskunft.

Aber auch im Alltag, in den tausenden Blogs, den Kommentaren, den ‹journalistischen› Beiträgen aller Art, schreiben sich die Schreiber um Kopf und Kragen. Sie wissen nicht, was sie tun. Sie glauben, sie dürften eine beliebige Meinung vertreten, da ein jeder eine beliebige Meinung ‹haben› und äußern dürfe. Die größte Schmierlappen- und Kloakenzeitung dieses Landes hat mit ihrem ‹Bild Dir Deine Meinung› dazu beigetragen, daß zum einen das Äußern beliebiger Meinungen erwünscht erscheint, und daß es zum anderen eben nicht allzu viele sich unterscheidende beliebige Meinungen zu einem Thema gibt. Ja, bei näherer Betrachtung zerfallen die allüberall geäußerten Meinungen meistens in ein ‹ja› oder ‹nein›, ein ‹find ich gut› oder ‹find ich nicht gut›. Über eine zweiwertige Logik kommt der ‹gesunde› Menschenverstand halt nicht hinaus.

Und selbstredend sind die Meinungsäußerungen verbunden mit der notwendigen Personalisierung, Emotionalisierung und Skandalisierung des Ereignisses oder Themas. Aber um die soziale Zurichtung von Meinungen, an der die ‹Herren des Wörterbuchs› mit Hilfe der Medien unermüdlich werkeln, geht es in diesem Traktat nicht. Es geht um eine Ethik des Schreibens. Und wenn wir über diese sprechen wollen, geht es unbedingt auch um eine Ethik des Meinens. Dazu gleich mehr.


Zweite Vorbemerkung

Marshall McLuhans Phrase ‹The medium is the message› von 1964 erscheint heute so wahrhaftig, daß wir meinen könnten, sie wäre erst vor kurzem erfunden worden. Wenn wir an all die Kommunikationsmittel denken, die es heute gibt (nicht nur ‹Twitter› und ‹Facebook›), und dabei sehen, wie in diesen vermittelnden Interaktions-Mitteln Texte hin und her gesendet werden, die an sich inhaltsfrei und bedeutungslos (‹find ich gut›, ‹find ich nicht gut›), nur hin und her gesendet werden, weil es eben diese Kommunikationsmittel gibt, dann staunen wir. Es gibt in den sogenannten ‹sozialen Netzen› nichts wesentliches mitzuteilen, aber da es die Netze nun mal gibt, gibt es Trillionen von nicht wesentlichen Mitteilungen.

Solange es in diesen mitteilenden Texten um momentane Befindlichkeiten, Angaben über das momentane Wetter, den gegenwärtigen Aufenthaltsort oder Fragen wie ‹Der Arzt hat mir das Medikament XY verschrieben, was soll ich tun?› geht, ist es für uns als ‹Soziale Konstruktivistinnen› uninteressant. Spannend wird es, wenn Meinungen vertreten werden. Etwa ganz konkret hier die Meinung, eben dies Medikament sei einzunehmen oder nicht einzunehmen.

Da heute jeder und jede Meinungsspuren als Kommentar zu ‹Nachrichten› in den vielen Online-Medien, in Blogs und in den unzähligen Foren verschiedener Netzwerke hinterlassen kann, wird diese Möglichkeit auch immer häufiger genutzt. Meinungen über Meinungen. Und bereits in zwei Fällen haben wir das Insgesamt von Meinungen zu einem bestimmten Thema einer sorgfältigen Wirklichkeitsprüfung und Inhaltsanalyse unterzogen. Zum einen waren das Meinungen zur Firma Apple, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder ganz besonders viele entrüstete Meinungsäußerungen in den einschlägigen Foren hervorzurufen in der Lage ist, und zum anderen waren das wirklich erstaunliche Beiträge zur ‹Exkulpation eines rezenten Idols›, bei denen wir ebenfalls aus einer großen Entrüstung geschriebene Meinungen fanden, die eine ganz eigene Logik aufwiesen.

Nun ja, beide Fälle sind von außen und in Ruhe betrachtet kaum glaublich. Aber es gab und gibt diese haltlosen Meinungsäußerungen, die ohne Sinn und Verstand sind. Wie kann das sein? Ist der vernunftbegabte Mensch nicht die Krone der Schöpfung? Nein.


Über das Meinen
Es geht also um die Ethik des Meinens und Schreibens. Da es immer mehr Möglichkeiten gibt, ungefragt seine Meinung in irgendwelche Kommentarspalten oder Blogs hineinzuschreiben, werden diese auch genutzt. Da kann es vorkommen, daß bei einem Nachrichtenmagazin in wenigen Stunden an die zehntausend aufgeschriebene Meinungen zusammen kommen. Erstaunlich.

Schauen wir uns zunächst das Phänomen des ‹Meinens› an. Das ist längst nicht so harmlos, wie es scheint. Albertine Devilder und Henriette Orheim haben in ihren ‹Skizzen einer Psychologie des Meinens› sorgfältig und umfassend das ‹Meinen› durchdacht. So untersuchen sie in ihrem Traktat «Meinen: Eine Annäherung», wie sich ‹Meinen› und ‹Wissen› unterscheiden lassen. Und als ‹wahre› Soziale Konstruktivistinnen (es gibt nicht nur ‹wahre Finnen›) zeigen sie, daß Menschen immer dann etwas meinen, wenn sie etwas zu wissen meinen. Und daß etwas zu ‹wissen› nur bedeutet, Meinungen anderer Leute aufsagen zu können. Ja, Albertine Devilder und Henriette Orheim sind – wie unsere ganze Redaktion – überaus skeptisch bei den immer noch sehr populären Scheinbegriffen ‹Information› und ‹Wissen›. Weder Informationen noch Wissensbehauptungen zeigen in unseren Augen auf eine Realität, wie sie wirklich ist, statt dessen verweisen sie beide auf Sinnkonstruktionen – die wiederum auf ganz bestimmte Orte und Zeiten bezogen sind – und damit auf eine bestimmte Kultur, sonst nix. Im besten Fall zeigen ‹Informationen› und Wissensbehauptungen auf subjektive Wirklichkeiten, aber sie zeigen nicht auf die Wirklichkeit. Nicht ohne Grund haben wir uns in unserer Reihe ‹Verblaßte Mythen› mit dem Niedergang und der Beliebigkeit von ‹Informationen› befaßt.

Im dem Traktat «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale» zeigen Albertine Devilder und Henriette Orheim kurz auf die Psycho-Logik des Meinens. Es ist wahrlich atemberaubend, wie der gesunde Menschenverstand mit ‹Ursachen› und ‹Erklärungen› für beliebige Ereignisse – etwa das umfassende Benutzen fremder Quellen ohne Quellenangaben in einer Dissertation – hantieren kann und wie die Blogger, Foristen und Journalisten – immer über das unmittelbar Gegebene hinausgehend – auf diese Weise in ihren kleinen lokalen Welterzeugungssystemen Ordnung schaffen.

Es gibt in diesen ‹Skizzen einer Psychologie des Meinens› noch weitere Traktate, die wir Ihrer Aufmerksamkeit, geneigter Leser, geneigte Leserin, sehr empfehlen. Und das Studium der Skizzen zur «Psychologie des Urteilens» dürfte Ihnen auch Freude bereiten. Denn in diesen wird erläutert, wie universell wirksame und schnellen Katalysatoren ähnelnde Kategorisierungs- und Meinungsabrufungsreflexe eine auffällig gleichbleibende Psycho-Logik des Urteilens konstituieren. Wenn Menschen also etwas beurteilen, dann machen sie das schnell, und sie folgen bestimmten – leicht zu durchschauenden – Regeln.

Kommen wir zurück auf das ‹Meinen›. Albertine Devilder hat in ihrem Traktat ‹Über die Abscheulichkeit, eine Meinung zu haben› einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt untersucht, wie eine Meinung sozial hergestellt und von immer mehr Meinenden nachgeplappert wird. Die Leichtfertigkeit, mit der im Alltag Meinungen aufgegriffen und weiter verbreitet werden, ist schon entsetzlich genug. Schlimmer noch ist die Überzeugung der Meinenden, eine ‹eigene› Meinung vertreten zu haben. Gedankenloser geht es kaum.


Meinen und Denken: Eine Klarstellung
«Das geschriebene Wort sei die naturnotwendige
Verkörperung eines Gedankens
und nicht die gesellschaftsfähige Hülle einer Meinung.»
(Karl Kraus) [2] Karl Kraus (1986): Schriften. Herausgegeben von Christian Wagenknecht. Band 8. Aphorismen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. st 1318. Seite 111.

Sagen wir es kurz und klar: Meinen und Denken haben nichts miteinander zu tun. Es fängt damit an, daß die Mitmenschen, unter denen wir leiden, glauben, ihre Meinung zu irgendetwas habe überhaupt eine Bedeutung. Triumphierend äußern sie eine Belanglosigkeit in der Hoffnung, sie sei von Belang. Michel de Montaigne wußte es vor fünfhundert Jahren:
«Die Pest des Menschen ist die Meinung, etwas zu wissen.» [3] Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis (1938) in: Geschichtsphilosophie/Hegel/Montaigne Fischer Bücherei Februar 1971 Seite 106
Wenn wir uns Meinungen betrachten, so kommen diese immer einseitig daher. Um eine Meinung ausdrücken und auf ihr beharren zu können, muß vieles fortgelassen, müssen Zusammenhänge verschleiert, muß vereinfacht, ja, muß unredlich vorgegangen werden. Und hier zeigt sich ganz wunderschön die Differenz zum Gedanken. Lassen wir einige Denker und Denkerinnen, die wir sehr schätzen, zu Wort kommen:

  • Karl Kraus sagt: «Wer Meinungen von sich gibt, darf sich auf Widersprüchen nicht ertappen lassen. Wer Gedanken hat, denkt auch zwischen den Widersprüchen.» [4] Karl Kraus (1986): Schriften. Herausgegeben von Christian Wagenknecht. Band 8. Aphorismen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. st 1318. Seite 111.
  • Henrik Ibsen assistiert: «Haben Sie schon je einen Gedanken zu Ende gedacht, ohne auf einen Widerspruch zu stoßen?» [5] Henrik Ibsen zum 20. März 1898, gewidmet von der Freien Bühne, S. 14 - 15.
  • Hermann Hesse läßt Siddhartha dies sagen: «Ich habe einen Gedanken gefunden, Govinda, den du wieder für Scherz oder für Narrheit halten wirst, der aber mein bester Gedanke ist. Er heißt: von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr! Nämlich so: eine Wahrheit läßt sich immer nur aussprechen und in Worte hüllen, wenn sie einseitig ist. Einseitig ist alles, was mit Gedanken gedacht und mit Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb, alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit. Wenn der erhabene Gotama lehrend von der Welt sprach, so mußte er sie teilen in Sansara und Nirwana, in Täuschung und Wahrheit, in Leid und Erlösung. Mann kann nicht anders, es gibt keinen anderen Weg für den, der lehren will. Die Welt selbst aber, das Seiende um uns her und in uns innen, ist nie einseitig.» [6] Hermann Hesse (1982): Die Romane und die grossen Erzählungen. Vierter Band. Siddhartha. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jubiläumsausgabe, Seite 262f.
  • Anthony Trollope sagt es so: «Es ist der Fluch meines Lebens, daß ich mir zu wichtigen Themen keine entschiedene Meinung bilden kann. Ich denke und denke und denke immer weiter, und dennoch entwickeln sich meine Gedanken ständig in verschiedene Richtungen.» [7] Anthony Trollope (2005): Die Türme von Barchester. Zürich: Manesse Verlag. Seite 803. Das Original erschien 1857.
  • Und Albertine Devilder sagt es endgültig so: «Dumme Menschen haben zu allem und jedem eine Meinung; kluge zu wenigem mehrere.» [8] Persönliche Mitteilung, Mai 1999.

  • Ja, wie einfach und glatt erscheint es uns, eine Meinung zu ‹haben›. Und wie schwierig wird es, über eine glatte Meinung hinaus zu gehen. Denn wenn wir denken, statt nur etwas zu meinen, müssen die Probleme, die Widersprüchlichkeiten, die Fallstricke, die herein dräuenden Zweifel, die mit einem Gedanken verbunden sind, mit bedacht werden.

    Lustig und traurig ist es nun, zu sehen, wie einfache Menschen mit ihren einfachen Meinungen beim Äußern derselben leider immer wieder Aufpolsterungs-Floskeln verwenden, die eine Unsicherheit im Gemeinten, die einen Zweifel ausschließen sollen. Das ist überall zu beobachten, von der Sportreportage bis zur Rede eines Politikers. Da hören wir ein ‹sehr, sehr›, ein ‹mit Sicherheit›, ein ‹ganz klar›, ein ‹alternativlos› und ähnliche Zweifelausschließungssprachfetzen. Traurig.

    Jetzt kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt in unserer Argumentation zur Ethik des Schreibens. Wenn wir uns den gewaltigen Unterschied zwischen Meinen und Denken betrachten, dann wird klar, daß wir keine Toleranz gegenüber beliebigen Meinungen zeigen sollten. Wir sollten die postmoderne Tradition, daß jeder geäußerten Meinung, wie unsinnig sie auch sei, unser Respekt gebühre, da sie ja von jemandem mit einem ‹Ich› geäußert wurde, stören und stoppen. Das ‹reflexive Ich› ist eine Legende.

    Natürlich hat ein jeder ein Recht darauf, unsinnige, unbegründete oder schwachsinnige Meinungen zu übernehmen, aber wenn er sie äußert, verdient er keinen Respekt und keine Toleranz. Die postmoderne Beliebigkeit eines ‹Alles, was gesagt wird, steht gleichberechtigt nebeneinander› ist ein Fluch. Die meisten Meinungen entstehen aus Denkfaulheit, also aus einem Nichtdenken, und sie verweisen auf billige Klischees, auf allfällige Vorurteile, auf herzzerreißende Ahnungslosigkeit und Leichtfertigkeit. Und am schlimmsten ist: Die geäußerte Meinung scheint ein für allemal festzustehen. Das gilt in unserem Land als ‹Charakterfestigkeit›. Wie sagt es Albertine Devilder:
    «Meinungen, Überzeugungen, Standpunkte, Prinzipien: Alles Feinde der Wahrheit; nur Gedanken können zu ihr beitragen.» [9] Persönliche Mitteilung, September 1999.
    Naturgemäß reagieren Mitmenschen mit solch fest gefügten Meinungen auf andere Meinungen besonders vehement, indem sie darauf beharren, daß jeder, der anderer Meinung ist, keine Ahnung hat. Mitunter wird auch psychologisiert, in der Art, daß diejenigen, die gegenüber der ‹eigenen› Meinung eine abweichende vertreten, sich selbst nicht kennen oder sich selbst betrügen würden und letztlich einer psychiatrischen Behandlung zugeführt werden müßten. Ja, der Tonfall unter den Foristen ist hart. Von Gedanken keine Spur. Nicht umsonst hat Artus P. Feldmann ein schönes Traktätchen über Gedanken als verblaßte Mythen geschrieben.


    Nur ein Beispiel
    «Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können
    das macht den Journalisten.»
    (Karl Kraus) [10] Karl Kraus: Die Fackel Nr. 281/282, S. 29, vom 4.6.1909.

    Im folgenden skizzieren wir ein einziges Beispiel dafür, was geschieht, wenn eine Kultur meint, der Ansicht sein zu müssen, alle Meinungen stünden gleichberechtigt nebeneinander. Und nein, wir zitieren keinen Beitrag eines ungebildeten Foristen, das wäre zu billig. Wir wählen die Äußerungen eines gestandenen Journalisten eines angesagten ‹Nachrichtenmagazins›. Dieser schreibt in einem Artikel mit dem Titel ‹Finger weg von der Ethik›:
    «Über den Umweg der ethischen Debatte will die Politik entscheiden, was gut und richtig ist. Darüber aber sollte jeder selbst befinden dürfen. […] Es geht, wenn überhaupt, um Moral. Und die hat nichts mit Politik zu tun. Aber Ethik klingt halt gut, gegen Ethik kann man doch nichts sagen. Wir wollen doch gut und richtig leben?! Das Problem ist, dass ich ausgerechnet denen am wenigsten traue, die dauernd von "gut" und "richtig" reden. Denn was "gut" und "richtig" ist, das ist eine individuelle Entscheidung. Politik muss sich da raushalten. Politik setzt den Rahmen. Meine Moral gehört mir. Wer von "Ethik" redet, der hat etwas zu verbergen.»
    Mal ehrlich, liebe Leserin, lieber Leser, geht es noch konfuser, abstruser? Da wird die Länge eines ganzen Artikels benötigt, um sich in die spätmoderne Zentralrede einzuklinken, jeder müsse für sich selbst entscheiden, was richtig oder falsch sei, da dies ja jeder selbst am besten wisse. Nun, den Mythos vom reflexiven ‹Ich› haben wir oben schon erwähnt, und wir möchten betonen, daß uns in diesen Zeiten eine ‹Anathematisierung des Selbst› äußerst dringlich erscheint. Denn soviel anmaßende Selbstgerechtigkeit war nie.

    Aber mal im Ernst, gehen wir auf die Meinung dieses ‹Journalisten›, dieses ‹Für den Tag Schreibers› ein: Jeder soll für sich selbst entscheiden, ob er Atomkraft möchte oder nicht? Ob er die Umwelt verschmutzt oder nicht? Etc. etc.? Sind wir Einzelwesen mit unserem eigenen Oikos? Geht uns das, was außerhalb unseres Oikos ist, nichts an? Kann man den Abschied vom ‹homo politicus›, den ‹Abschied von jeder Haltung› deutlicher ausdrücken? Nein. Wünscht sich dieser Journalist mit seiner Argumentation den ‹Abschied vom Staat›? Ja, es sieht so aus. Weiß er, was er schreibt? Nein.

    Wie bereits gesagt, wir haben mit Bedacht nicht einen der üblichen konfusen Kommentare irgendeines meinungsüberzeugten Foristen gewählt, sondern den Beitrag eines angesehenen ‹Journalisten›. Schlimm genug, meinen Sie? Richtig. Karl Kraus faßt diesen Fall für uns trefflich zusammen: «Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen haben und haben etwas zu sagen, weil sie schreiben.» [11] Karl Kraus: Die Fackel Nr. 300, S. 20, vom 9.4.1910.


    Blogger, Foristen, Journalisten: Keine Ethik, aber Selbstgerechtigkeit und Unwissenheit
    «Warum schreibt mancher?
    Weil er nicht genug Charakter hat, nicht zu schreiben.»
    (Karl Kraus) [12] Karl Kraus: Die Fackel Nr. 266, S. 26, vom 30.11.1908.

    Auf das schöne Motto schauend könnten wir auch sagen: Warum meint mancher? Weil er nicht genug Charakter hat, nicht zu meinen. Denn meinen und denken liegen ganz weit auseinander, wie wir oben gesehen haben. Und wie kommen wir aus diesem Traktätchen wieder hinaus? Nun, vielleicht so:

    Über die Individualisierungstendenzen in unserer Kultur haben wir schon oft nachgedacht. Ein ‹Ich in den Nullerjahren› hat es nicht leicht. Es muß sich zu allererst ständig in seinem ‹Ich›-Glanz sonnen, sein ‹Ich› als Benutzeroberfläche präsentieren, und sich ganz folgerichtig nur um sich selbst, seine eigenen Angelegenheiten, seinen eigenen kleinen Oikos kümmern. Pólis? Was ist das? In der spätmodernen Anomie bleibt nur der Satz des oben zitierten angesehenen ‹Journalisten› übrig: «Das muß doch jeder selbst am besten wissen!» Ein ‹Ich› in den Nullerjahren darf also keine Haltung zu ethischen oder ‹höheren› Dingen haben, sondern nur zu sich selbst. Haltlos muß es Halt bei sich selbst suchen. Wo? Eben, das ist das Problem. Aber hier hilft der finale Kapitalismus und streichelt und verschlimmert die ‹totale› Individualisierung mit schmutzigen, schmierigen und asozialen Sprüchen wie «Unterm Strich zähl' ich!»; «Alles! Aber günstig!» und «Ich bin doch nicht blöd!».

    Das Resultat finden wir in den vielen ‹Ichs›, die soziale Räume schlicht als ‹Angebote› sehen, in denen es etwas zu ergattern gilt. Daraus folgt eine überbordende Selbstgerechtigkeit und Anspruchsunverschämtheit, auch im Aufsagen von Meinungen, die es bis dato noch nicht gegeben hat. Demut gibt es nicht mehr. Die Frage, ob eine Meinung ethisch zu verantworten ist, fällt fort. ‹Ich› bin ‹Ich›, und ich habe eine Meinung. Und die Welt hat auf meine Meinung zu warten. ‹Ich› bin wichtig, meine Meinung ist wichtig. Es ist ja nicht nur so, daß ein jeder seine Meinung öffentlich ausstellen darf. Das ist an sich uninteressant. Das Problem ist, daß ein jeder, der seine Meinung öffentlich ausstellt, meint, daß diese etwas zu bedeuten habe. Deswegen stellt er sie aus und deswegen verteidigt er diese auch endlos und mit allen Mitteln. Man schaue nur auf die Beschimpfung Andersdenkender in den einschlägigen Foren.

    Da das Kapital die ehemals unabhängigen und freien Bildungsinstitutionen endgültig auf ‹Bachelor›-Niveau gestutzt hat, gibt es keine Bildung mehr im altertümlichen und eigentlichen Sinn. Dafür aber Unwissenheit. Der Abschied von den Universitäten, die Ausrichtung des ‹Wissens› auf kapitalistische Interessen, ist schmerzlich. Sehr. Wer heute einmal die Denkfaulheit und die eilige Lernerei in einem universitären Seminar beobachten darf, wendet sich ab. Aber die Bachelor-Absolventen sind selbstbewußt. Sie haben Meinungen studiert, die sie im Auftrag anderer anzuwenden haben. Das ist alles.

    Wenn wir uns so kurz nach den Nullerjahren die Beiträge von Bloggern, Foristen und Journalisten anschauen, staunen wir über die mangelnde Bildung und den hohen Grad an Unwissenheit. Aber vermutlich genau deshalb gibt es diese erstaunliche Selbstgewißheit, mit der Meinungen vertreten werden. Michel de Montaigne sagt: «Nicht-Wissen und Unbekümmertheit - welch sanftes und weiches Kopfkissen.» [13] Michel de Montaigne (1985): Zum Zeitvertreib und um die Phantasie zu tummeln. Aus den Essais gezogen von Karl Bernhard. Zürich: Diogenes Verlag. detebe-Klassiker 21282, S. 40.

    Daß aus einer Unbekümmertheit diese heute zu beobachtende sagenhafte Selbstgerechtigkeit und Anspruchsunverschämtheit (auch im Meinen) erwachsen würde, konnte niemand ahnen. Eine Ethik des Schreibens folgt einer Ethik des Meinens, und diese kann es in der Spätmoderne nicht mehr geben. Da kann es einem leicht dunkel werden im Gemüt.



    Kommentare:


    Lieber Helmut,

    Dein Traktat und Artus' Kolumne vom 24. Mai 2011 haben mich darauf gestoßen, zu erkennen, was mir in den meisten Foren so unerträglich erscheint: Es ist die Rechthaberei. Kaum hat ein ‹Journalist› irgendeinen Beitrag auf eine Website gestellt, schon tummeln sich die Kommentatoren, die sich nach allerkürzester Zeit untereinander beschimpfen und der Ahnungslosigkeit zeihen.

    Am schlimmsten ist das interessanterweise nicht bei den grossen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen, wo es eher um politische Dinge geht, sondern auf einer Website, die sich Computern widmet. Diese Website hat extra eine Webseite eingerichtet, die sich ausschließlich mit einem einzigen Hersteller von IT-Kram beschäftigt. Bei jeder Nachricht zu irgendeinem Produkt dieser Firma kommt nun alsbald eine immer gleiche Lawine von Negativismen und negativistischen Behauptungen daher, die beispiellos ist. Das Kalkül der Macher dieser Website ist wohl ganz einfach: Sie wissen, daß es eine Menge Hasser dieser Firma gibt, sie fokussieren und sammeln diese Hasser auf genau einer Seite, und sie provozieren so täglich mit übertriebenen, sinnlosen oder auch einfach ganz falschen Nachrichten hunderte von Kommentaren, auf dass sich die Anzahl der Klicks auf diese Webseite und damit die Werbeeinnahmen erhöhen mögen. Ist das schändlich? Nein, das ist kapitalistisch ganz folgerichtig gedacht.

    Die Dummheit und die meist völlige Ahnungslosigkeit, die hinter den Schimpf-Kommentaren steht, ist eigentlich kaum zu glauben. Die geäußerten ‹Meinungen› sind stets völlig einseitig und von ihrem Inhalt her in immer die gleichen wenigen Kategorien einzuordnen. Der Gestus dieser Haß-Gemeinde ist besserwisserisch (allerdings ohne Substanz), unversöhnlich (bis aufs Blut) und unermüdlich (es gibt keine Pause und kein Thema ist zu klein). Die Haß-Gemeinde stöhnt insbesondere bei vermeintlich ‹guten› Nachrichten über diese Firma vehement auf und betont, daß die Käufer von Produkten dieser Firma allesamt geisteskrank sein müßten, denn ‹normale› IT-Nutzer würden solche Produkte niemals kaufen. Bei vermeintlich ‹negativen› Nachrichten über diese Firma jubelt die Haß-Gemeinde auf und betont, daß gerade durch diese Nachrichten bewiesen sei, daß die Käufer von Produkten dieser Firma geisteskrank seien, denn ‹normale› IT-Nutzer würden solche Produkte niemals kaufen.. Ein Circulus vitiosus, aus dem es für die Kommentatoren kein Entrinnen gibt und der täglich neu angeschubst werden muß. Und von einer Ethik des Meinens und Schreibens keine Spur. Ich werde mal meinem Professor vorschlagen, dazu eine Master-Arbeit zu schreiben. Inhaltsanalyse und so. Vielleicht auch Interviews. Würde ich sehr gerne machen.

    Wer sich auch nur für Minuten in den Foren dieser Website zu diesem einen Hersteller aufhält, wird beim Lesen Deines Traktates eine sofortige Linderung seiner Geistes-Schmerzen verspüren. Montaignes «Die Pest des Menschen ist die Meinung, etwas zu wissen», Chamforts «Die Meinung ist die Königin der Welt, weil die Dummheit die Königin der Schwachköpfe ist» und vor allen Dingen Albertine Devilders «Dumme Menschen haben zu allem und jedem eine Meinung; kluge zu wenigem mehrere» helfen sofort. Das wirkt wie ein Espresso und ein Glas Champagner gleichzeitig. Das heißt aber nicht, daß man diese durch und durch schreckliche Website mit ihren durch und durch schrecklichen Kommentaren je aufsuchen sollte.

    Dankbar grüßt Johannes aus Bamberg



    Erstellt: 8. April 2011 – letzte Überarbeitung: 11. Mai 2011
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