BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Vom Elend der Schul- und Abiturnoten»
von Helmut Hansen & Albertine Devilder
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«In der Schule wird nur daran gearbeitet,
das Gedächtnis voll zu stopfen;
Verstand und Gewissen gehen leer aus.»
(Michel de Montaigne, um 1580)

Im Moment geht es bei der Zulassung zu einem Studium lustig zu, denn die erforderlichen Abiturnoten nähern sich für die verschiedenen Fächer der 1,0. Das System, die Durchschnittsnote im Abitur als einziges oder wichtigstes Kriterium für die Zulassung zu einem Studium zu nehmen und zu rechtfertigen, führt sich ad absurdum. Und keiner merkt es. Genügte vor einigen Jahren noch eine ‹1,7›, um etwa Psychologie studieren zu dürfen, braucht man/frau heute für die HU-Berlin eine glatte ‹1,0› und für die Uni Bochum eine ‹1,1›. Wir gehen jetzt mal darüber hinweg, was einem für eine glatte ‹1,0› im Studium geboten wird, stattdessen fragen wir, warum nicht alle jungen Leute das studieren dürfen, was sie gerne studieren würden, unabhängig von ihren Schulnoten? Nun, das liegt daran, daß es bei den Bildungsbemühungen in Deutschland nicht um Bildungsbemühungen geht, sondern um Auslese und Zurückweisung. Bereits das Gymnasium soll – insbesondere in Bayern – nur wenigen Kindern vorbehalten sein und bleiben. Und auch die Universität ist nicht für alle da. Bildung für alle? Das klingt nach Wohlstand für alle. Daraus ist auch nix geworden.

Um diesen politischen ‹Willen› durchzusetzen, bedarf es eines Kriteriums, anhand dessen Kinder und junge Leute zurück- und abgewiesen werden können: Die Schulnote, die Abiturnote. Leistungsbeurteilungen sind also Allokations- und Selektionsinstrumente. Schauen wir uns diese Noten an.


Was sagen uns Schul- und Abiturnoten?
«Wer die Noten aus den Schulen verbannt,
schafft Kuschelecken,
aber keine Bildungseinrichtungen,
die auf das nächste Jahrtausend vorbereiten.»
(Bundespräsident Roman Herzog, am 5. November 1997)

Fangen wir ganz vorne an. Die Kritik an Schulnoten läßt sich mit Hilfe von drei Kriterien der Güte einer Messung ziemlich gut erklären: es geht um Validität (Gültigkeit), Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Objektivität. Kümmern wir uns zunächst um Objektivität und Reliabilität der Notenvergabe und fassen einfach die vielen, vielen Untersuchungen mit leichter Hand zusammen:

  • Lehrkräfte bewerten ein und dieselbe Leistung unterschiedlich. Und dies nicht nur in den ‹Laberfächern›, sondern auch in Mathematik.
  • Bewerten Lehrkräfte ein und dieselbe Arbeit im Abstand von einigen Monaten noch einmal, zeigt sich nur eine mäßige Übereinstimmung.
  • In aller Regel beurteilen Lehrer die ‹Leistung› von Schülern im Verhältnis zu ihren Klassenkameraden. Sie berücksichtigen also ein klasseninternes Bezugssystem, und eher nicht den individuellen Lernfortschritt.
  • Lehrer kalibrieren ihre Anforderungen an die Schüler so, daß es immer schlechte Schüler in der Klasse gibt, unabhängig von deren tatsächlicher Leistung.
  • Schulnoten hängen mit der sozialen Schicht, dem Geschlecht und weiteren Status- und Strukturmerkmalen der Familie des Schülers zusammen.
  • Schüler der gleichen Schulform und Klassenstufe werden für objektiv gleiche Leistungen unterschiedlich bewertet. Dazu gibt es unterschiedliche Noten je nach Bundesland, Schulform und Klassenstufe.
  • In den Konferenzen zur Vergabe von Abiturnoten gleichen Lehrer mutwillig die Noten einzelner Schüler in einzelnen Fächern nach oben oder nach unten an, damit das jeweilige Abiturzeugnis einen konsistenten Eindruck macht. [1] Wir danken Frau S. G.-F. für diesen beachtenswerten Hinweis.
  • Für einen Schüler ist es von einer wahrlich schicksalhaften Bedeutung, welchem Lehrer, welcher Klasse und welcher Schule er zugeteilt wird.
  • Schüler passen sich der Beurteilungsart ihrer Lehrer an. Da heute fast jeder Schüler an guten Noten interessiert ist, gibt es in der Schule keine kritischen Diskurse mehr. Das setzt sich an den Universitäten fort. Die Studierenden wollen nicht Bescheid wissen über ein Fach, sondern wissen, wie sie auf allfällige Fragen zu antworten haben.
  • Schullaufbahnempfehlungen der Lehrenden nach den ersten Grundschuljahren zeigen enge Zusammenhänge mit dem sozialen Status der Herkunftsfamilie. Einem Kind, dessen Vater Abitur hat, reicht normalerweise eine unterdurchschnittliche Leistung für eine Gymnasialempfehlung, während das Kind eines Vaters ohne Schulabschluss erst mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung erhält, wenn sein Testergebnis weit über dem Durchschnitt liegt.
  • Bei der Vergabe der sogenannten ‹Kopfnoten› ist es sinnlos, Gütekriterien wie Objektivität und Reliabilität zu erwähnen. Jedem dürfte klar sein, daß es hier um die soziale Fügsamkeit von Schülern geht.
  • Naturgemäß versucht die Bildungspolitik, eine Kritik an Objektivität und Reliabilität von Schulnoten durch die Zentralisierung von Prüfungen aufzufangen.

  • Ein ganz ehrliches Fazit: Der Informationswert von Schulnoten ist sehr gering – ausser für diejenigen, die etwa das jeweilige Bundesland, das Klassenniveau, die Lehrerin, das Curriculum und die verwendeten Schulbücher kennen und sich für eben diese spezifischen Besonderheiten interessieren. Für Insider ist das also was. Aber uns sagen Schulnoten fast nichts. Warum darauf bauen?


    Schulnoten und der ‹Erfolg› in Studium und Beruf
    «Die primäre Aufgabe des Staates ist es,
    Ungleichheit zu gewährleisten.
    Also den armen Teil der Bevölkerung daran zu hindern,
    den Wohlhabenden das Geld abzunehmen.» (Boris Groys, 2009)

    Da wird in den Schulen ein großer Aufwand betrieben, um immer wieder und Jahr für Jahr ‹Ungleichheit zu gewährleisten›. Aber wie sieht es denn überhaupt mit der prognostischen Qualität von Schulnoten aus? Was sagen sie aus? Auf was verweisen sie? Welche Vorhersagen lassen sich von einem bestimmten Abiturnotenschnitt aus machen? Schauen wir also auf die Validität von Schulnoten und fassen wieder einmal die vielen, vielen Untersuchungen dazu mit leichter Hand zusammen:

  • Korrelationen zwischen der Abiturnote und Prüfungsleistungen (Studienerfolg) in verschiedenen Fächern an der Universität liegen bei r = .20 bis r= .35.
  • Was bedeutet das? Nun, wenn wir wissen wollen (unsere Unsicherheit, unser Nichtwissen beträgt 100 %), wie die Variation von Prüfungsleistungen in einem Fach an der Uni zu Stande kommt, aus welchen Quellen sie schöpft, dann wird diese Unsicherheit zwischen 4 (.20 x .20) und 12 (.35 x .35) Prozent verringert (4 bis 12 % der Varianz werden also ‹aufgeklärt›). 88 bis 96 % der Ursachen, wieso Prüfungsleistungen in einem Fach an der Universität variieren, liegen weiterhin im Dunkeln.
  • Je zeitlich entfernter die Prüfungsleistung, desto niedriger die Korrelation zwischen Abiturnote und Kriterium, nach 6 Jahren sind es nur noch r = .15. Aufgeklärte Varianz 2 %, 98 % liegen im Dunkeln.
  • Korrelationen zwischen der Abiturnote und Kriterien des ‹Berufserfolges› (Status, Einkommen) sind äußerst schwach. Sie liegen unter denen, die für den Zusammenhang zwischen Abiturnote und Prüfungsleistung an der Universität ermittelt wurden.
  • Korrelationen zwischen den Prüfungsleistungen an der Universität (Examensnote, Studienerfolg) und Kriterien des ‹Berufserfolges› (Status, Einkommen) liegen im besten Fall bei r = .32. Sechs Jahre nach dem Examen nur noch bei r = .11 (1 % aufgeklärte Varianz, 99 % liegen im Dunkeln).

  • Ein ganz ehrliches Fazit: Schulnoten und Examensnoten an der Universität haben eine ähnlich schlechte prädiktive Validität (Vorhersagekraft) für den Berufserfolg. Warum darauf bauen?


    Vom Elend der Schul- und Abiturnoten
    «Tests sind Instrumente,
    um ein Maß der Trivialisierung festzulegen.
    Ein hervorragendes Testergebnis verweist
    auf vollkommene Trivialisierung:
    der Schüler ist völlig vorhersehbar
    und darf daher in die Gesellschaft entlassen werden.
    Er wird weder irgendwelche Überraschungen
    noch auch irgendwelche Schwierigkeiten bereiten.»
    (Heinz von Foerster)

    Ja, fragen wir: Warum also auf Schul- und Abiturnoten bauen? Und warum auf einem absurden ‹1,0› bestehen? Wir können das nun etwas breiter sehen und verstehen, daß in unserer final-kapitalistischen Gesellschaft der Zugang zu den Fleischtöpfen über irgendetwas geregelt werden ‹muß›, und da bieten sich eben hauptsächlich die Schul- und Examensnoten an. Denn das sind konkrete Zahlen, die man addieren, multiplizieren und sogar mit Stellen nach dem Komma versehen kann. Und gibt es etwas objektiveres als Zahlen?

    Nun, wenn wir an die mangelnde Objektivität und Reliabilität dieser Zahlen denken und daran, daß der Volksmund meint, eine Note von 1,5 sei ‹besser› als eine von 1,6, dann wird uns unwohl. Ich will Ihnen, lieber Leser und liebe Leserin, hier die Vorstellung von statistischen Größen wie Standardmeßfehler und Standardschätzfehler ersparen. Aber Sie können sich unschwer vorstellen, daß der Vertrauensbereich um eine Schul- oder Examensnote herum so groß ist, daß sich eine 1,5 und eine 3,2 im Ernst nicht unterscheiden.

    Wir sollten noch erwähnen, daß nach den großen Reformen in den Universitäten der Bereich der Selektion und Zurückweisung wunschgemäß erweitert wurde. Früher konnte man mit einem beliebigen Vordiplom ein Hauptstudium angehen und das Diplom machen. Heute gibt es für ein Masterstudium ein neues zusätzliches Selektionskriterium, einen weiteren ‹numerus clausus›: Die Note im Bachelor. Ja, da sollte man schon mit einer Supernote aus dem Bachelorstudium kommen, sonst ist das Studium in diesem Fach zu Ende.

    Wie haben wir ganz oben geschrieben? Das System, die Durchschnittsnote im Abitur als einziges oder wichtigstes Kriterium für die Zulassung zu einem Studium zu nehmen und zu rechtfertigen, führt sich ad absurdum. So ist es. Das soll aber so sein. Und es soll dabei bleiben. Warum dürfen nicht alle jungen Leute das studieren, was sie gerne studieren würden, unabhängig von ihren Schulnoten? Weil sich das unser Staat nicht leisten will, er hat kein Interesse daran. Seine eigentliche Aufgabe ist es, mit den Noten und dem darauf aufbauenden Selektionssystem für eine Trivialisierung der Schüler und Studierenden zu sorgen.

    Aber eine ganz entscheidende Frage haben wir noch nicht behandelt: Steht unser Gemeinwesen, unsere Pólis, besser da, nachdem seit vielen Jahren nur noch junge Leute mit einer sich der ‹1,0› nähernden Abiturnote studieren, um dann mit 24 Jahren erfolgreich für ein Unternehmen arbeiten zu dürfen? Hat sich die permanente Trivialisierung der jungen Leute für unsere Pólis gelohnt?

    Nein, nichts ist besser geworden. Das sollte uns zu denken geben. Denn dies ist das eigentliche Argument gegen die Verwendung von Schulnoten zur Vergabe von Lebenschancen.



    Kommentare:


    Liebe Albertine, lieber Helmut,

    ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit dem, was ihr das ‹Elend der Schul- und Abiturnoten› nennt. So bin ich froh, daß ihr dieses leidige Thema endlich wieder einmal aufgreift. Denn in Diskursen mit Lehrern, Schulräten, Politikern und vor allem bürgerlichen Eltern und deren Kindern kommt man kein Stück weiter. Alle wollen die Noten! Und wenn man ihnen erklärt, daß diese leidigen Noten weder reliabel noch valide sind, sagen sie einfach: ‹Haben Sie was besseres? Nun also!› Denn Selektion muß sein. Es dürfen eben nicht alle studieren. Warum? Das kann keiner erklären. Dann kommt immer so etwas wie ‹Überforderung der Studierenden›, ‹übersteigerter Ehrgeiz der Eltern›, ‹wir brauchen auch Handwerker› etc.

    Keiner sagt, daß es die unerklärte Aufgabe des Staates ist, ganz überwiegend den Bürgerkindern zu einem Studium zu verhelfen und ab und zu – als Ausgleich – einem behinderten Vorzeige-Migranten-Kind eine besondere Auszeichnung zu verpassen: ‹Seht mal, wie wir alle fördern und wie bei uns jeder etwas werden kann – wenn er sich anstrengt!› Ach ja, da ist nix zu machen! Blödmaschine!

    Euer Text gefällt mir sehr gut, auch wenn die meisten Leser und Leserinnen mit der statistischen Argumentation vermutlich nix anfangen können. Der Genauigkeit halber nur zwei Bemerkungen (verzeiht die Akribie):
  • Da Korrelation – wie wir wissen – nicht unbedingt Kausalität bedeutet, muß die jeweils ‹aufgeklärte Varianz› beim vermeintlichen Zusammenhang von Abiturnote und Prüfungsleistung an der Uni im Grunde noch nicht einmal bei den von euch beschriebenen 4 - 12 Prozent liegen. Es könnte auch noch weniger sein, denn beiden Leistungen (Abi, Prüfung) könnte eine dritte oder weitere gemeinsamen Ursachen zu Grunde liegen.
  • Vielleicht könnt ihr auch darauf hinweisen, daß ihr Konzepte wie Reliabilität und Objektivität nicht deswegen diskutiert, weil ihr von diesen Kriterien allgemein so viel hieltet – dieser Verdacht könnte dem unbedarften Leser kommen –, sondern eher deswegen, weil den Leuten suggeriert wird, die offiziellen Auswahlkriterien seien eben verlässlich und objektiv.

  • Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt.

    Macht weiter so!

    Christoph (z.Z. Bamberg)

    P.S. Ich danke Christian (z.Z. Bologna) für die beiden klugen statistischen Bemerkungen!



    Erstellt: 20. September 2011 – letzte Überarbeitung: 21. September 2011
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