BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wirtschaftsjournalismus als Prostitution»
von Henriette Orheim & Albertine Devilder
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«Die Menschheit kann an jedem Tage und vor jeder Zeile sehen,
daß sie verloren ist, wenn sie sich dem Journalismus ausliefert,
und sie will doch nicht anders.
Jedes Wort, das er spricht, ist Lüge, jeder Atemzug,
den er tut, das todsichere Verderben. [...]
Nicht durch die parteipolitische Verpflichtung zur Lüge,
zur täglichen Entstellung, zur Herabsetzung derselben Taten,
die dem eigenen Schmutzbezirk zur Zierde gereichen [...],
sondern durch prinzipielle Ehrlosigkeit sündigt
diese Profession am geistigen und materiellen Wohl der Welt,
und sie lebt sich und tobt sich in dem Mißverhältnis zwischen der völligen,
durch kein Strafgesetz einzudämmenden Verantwortungslosigkeit
inferiorer Charaktere und miserabler Intelligenzen und der
Zaubermacht des gedruckten Wortes aus. […]»

(Karl Kraus: Die Fackel Nr. 561-567 vom März 1921, Seite 53-54.)

Einführung: Christen

Das ist lustig. Sehr. Nachdem die ‹christlichen› Parteien vor gar nicht langer Zeit überraschend einen ‹Atomausstieg› verkündeten, der nun ganz und gar gegen den ‹Markenkern› (so ein verwitterter alter Kämpfer für die ‹christliche› Politik) ihrer Vereinigung strebte, gibt es ganz aktuell auch eine Diskussion über ein ähnliches Tabuthema: Den ‹Mindestlohn›. Nun, Helmut Hansens 2008 geschriebenes, klares und deutliches Traktätchen «Christen rufen: ‹Mindestlöhne sind unsozial!›» zeigt ganz wunderbar, auf wessen Seite sich ‹christliche› Parteien, die sich ja eigentlich einer christlichen Soziallehre und einer sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlen sollten, stellen und immer gestellt haben:

«Christen rufen also mit Paul Gerhardt, dem Texter von zig christlichen Liedern, die Eingang in christliche Gesangbücher gefunden haben: «Gib Dich zufrieden und sei stille!» Christen rufen also: «Sei froh, daß Du überhaupt mit Gott den ganzen Tag arbeiten darfst. Wenn Du im Schweiße Deines Angesichtes Dein täglich Brot nicht erwerben kannst, so klage nicht. Denn wenn Du klagst, dann darfst Du eben nicht mehr im Schweiße Deines Angesichtes Dein täglich Brot erwerben, dann wirst Du gar keine Arbeit mehr haben.» Und deswegen sind Mindestlöhne unsozial. Denn unsozial ist es, wenn Menschen bestrebt sind, selbständig mit ihrer Hände Arbeit für ihren Lebensunterhalt sorgen zu wollen. Sozial ist es, wenn Menschen einsehen, daß sie selbständig mit ihrer Hände Arbeit für ihren Lebensunterhalt nicht sorgen können. […] Müßte ein auskömmlicher Mindestlohn oder gar eine Verteilungsgerechtigkeit nicht eine der zentralen Forderungen eines Christen sein, da es hier doch nicht um eine Frage des ‹Marktes›, des ‹Wettbewerbs›, des ‹Wirtschaftsstandorts› oder der ‹Globalisierung› geht, sondern um die Würde des Menschen?»

Falls es überhaupt einen Mindestlohn geben wird, so werden - ähnlich wie beim ‹Tierschutz› in der Massentierhaltung, beim ‹Verbraucherschutzgesetz›, welches das Kapital vor den Verbrauchern schützt, und bei vielen anderen fein klingenden Gesetzen – Regelungen beschlossen werden, die es dem Kapital ermöglichen, Mindestlöhne weiträumig zu umgehen. Ach Gott! Wie vorhersehbar!


Hauptteil: Wirtschaftsjournalismus

Die ‹Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung› hält nicht viel von Journalisten. Das sehen Sie, geneigter Leser, geneigte Leserin, schon beim Überfliegen des obigen Mottos. In vielen unserer Essays und Traktate zitieren wir erschreckende Aphorismen von Karl Kraus, Karl Hauer, Søren Kierkegaard und anderen über das Handwerk der «Für-den-Tag-Schreiber». Wer verschiedene Zeitungen und Zeitschriften vergleicht, erkennt, daß Journalisten einer jeweiligen spezifischen und leicht dekonstruierbaren Ideologie zu folgen haben, die dann durch zig unsägliche Kommentare von Foristen immer weiter expliziert wird.

Wirtschaftsjournalisten sind nun Journalisten, die einen ganz einseitigen, ja zyklopischen Blick auf die Welt haben. Im Vordergrund ihrer Analysen und Kommentare steht grundsätzlich und immer das Wohl des Kapitals (der Banken, der Finanzmärkte etc. etc.), nicht das Wohl unserer Kulturinsassen. Das gilt insbesondere für Zeitungen, die sich ausschließlich Wirtschaftsfragen widmen, es gilt aber auch für große bürgerliche Zeitungen, etwa die Süddeutsche.

Wenn der Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung zum Beispiel einen Beitrag schreibt, ist es völlig überfüssig, diesen zu lesen, denn man weiß im Vorhinein, was darin steht, was seine Aussage ist, was er bezwecken will. Wir möchten nun – zum ersten und letzten Mal – wenige Sätze aus einem rezenten Beitrag (SZ vom 31.10.2010) dieses leitenden Wirtschaftsjournalisten dekonstruieren. Für die Nachwelt. Damit wir sagen können, wir haben es kommen sehen. Was? Das Finale des finalen Kapitalismus.

Der leitende Wirtschaftsredakteur schreibt, Gegnern des Mindestlohns würden zwei Absichten unterstellt:

«Erstens wittern sie soziale Kälte. Dabei sind viele Kritiker zu Recht der Meinung, ein schlecht bezahlter Job sei besser als keiner, weil er die Chance bietet, sich im Arbeitsleben zu halten und dort hoffentlich sogar voranzukommen - das ist das Gegenteil von kalt.»

Müssen wir das jesuitische an dieser ‹Argumentation› herausarbeiten? Nein. Halten wir nur fest, wie völlig lebensfremd das Gemeinte ist: Auch mit einem Lohn, der nicht für den Lebensunterhalt reicht, hält man sich immerhin im ‹Arbeitsleben›. Das ist nicht kalt. Das macht warm! Armut ist gerechtfertigt, wenn es die Chance gibt, irgendwann ‹voranzukommen›. Ja, welch ein Bild!

Und naturgemäß wird nicht erwähnt, daß der Staat bei vielen vielen Arbeitnehmern im Niedrigstlohnbereich aus Steuergeldern eben diesen ‹aufstocken› muß, damit es nicht zu arg wird mit der Armut. Das ist nun gar nicht kalt für das Kapital, sondern warm. Viele Unternehmer haben längst begriffen, wie einfach es ist, den Lebensunterhalt von Niedrigstlohnbeschäftigten fast ganz vom Staat aus Steuergeldern bezahlen zu lassen und als Unternehmer nur noch ein symbolisches Almosen dazu zu legen.

Doch lesen wir weiter, was der leitende Wirtschaftsredakteur uns zu sagen hat:

«Zweitens schwingt bei Gewerkschaftern, Sozis und richtigen Linken häufig die Überzeugung mit, Arbeitgeber seien von Natur aus böse und würden jede Gelegenheit nutzen, Löhne zu drücken. Auch das ist falsch. Die allermeisten Arbeitgeber sind so nicht. Sie wollen gerne gut zahlen - auch weil sie dann gute Leistung bekommen. Sie können es häufig nur nicht, wenn sie die Belegschaft nicht dezimieren wollen.»

Die Formulierung «Die allermeisten ...» kennen wir von Beschwichtigungen aus dem landwirtschaftlich-industriellen Komplex, wenn es gilt, endlose Tierquälereien hinweg zu reden: Die allermeisten Bauern lieben ihre Tiere und gehen sorgsam mit ihnen um. Sorgsam heißt hier: Etwa 1500 Puten mit gestutzten Schnäbeln, die aufgrund des besonders heran gezüchteten Brustgewichtes stets nach vorne kippen, vegetieren in einem kahlen Raum bis zur ‹Schlachtreife› vor sich hin.

Also, versuchen wir es: Die allermeisten Arbeitgeber gehen sorgsam mit ihren Arbeitnehmern um. Denn Arbeitgeber müssen, wie Bauern in der Massentierhaltung, gute Menschen sein, damit es eine Zustimmung zum Grauenhaften gibt. Und dann diese Pointe: Arbeitgeber würden gerne höhere Löhne zahlen, sie können es aber nicht, da sie dann einige Arbeitnehmer entlassen müßten. Müssen wir das jesuitische an dieser ‹Argumentation› herausarbeiten? Nein. Ist diese Argumentation empörend? Ja, weil sie völlig einseitig ist und weil sich hier auf widerliche Weise zeigt, daß der sich der gängige Wirtschaftsjournalismus – ohne einen Blick auf die schändliche Wirklichkeit – ausschließlich dem Kapital andient, den andauernd gewissenlosen Apologeten spielt, sich prostituiert. Das ist wahrlich empörend. Was sagt Karl Kraus im obigen Motto über den Journalismus:

«Jedes Wort, das er spricht, ist Lüge, jeder Atemzug, den er tut, das todsichere Verderben. [...] Inferiore Charaktere, miserable Intelligenzen.»


Fazit: Empört Euch!

Es ist zum Weinen! Lieber Leser, liebe Leserin, Stéphane Hessel ruft in seiner Streitschrift «Empört Euch!» (Ullstein Verlag Berlin, 2011) zum Widerstand gegen das derzeitige ganz und gar am finalen Kapitalismus ausgerichtete System auf. Das ist gut so. Wir sollten mit Einwendungen gegen und Bloßstellungen von Wirtschaftsjournalisten als Prostituierten des Kapitals beginnen.



Kommentare:


Verehrte Henriette, liebe Albertine,

ich habe soeben mit wachsender Empörung Euren Text über jenen Text gelesen, diese saure Wirtschaftskotze in der Süddeutschen. Warum haben wir eigentlich keine Scharia? Das wär doch mal was. Ich wüßte da welche, die infrage kämen meiner linken Ansicht nach. Sie müßten Aktien fressen und hochverzinsliche Derivate saufen, und zwar öffentlich! Und zwar bis sie platzen oder abschwören, sic!

Berthold (Essen)

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Hallo ihr beiden Autorinnen,

sehr schöner Artikel, aber da habt ihr die Dekonstruktion zu früh abgebrochen. Ihr zitiert aus diesem unsäglichen Kommentar eines leitenden ‹Wirtschaftsjournalisten›:

«Sie (die Arbeitgeber) wollen gerne gut zahlen - auch weil sie dann gute Leistung bekommen. Sie können es häufig nur nicht, wenn sie die Belegschaft nicht dezimieren wollen.»

Da müßt ihr doch dran bleiben und nicht nur sagen, daß sei jesuitisch argumentiert! Die Unverschämtheit der obigen Äußerung besteht doch darin, daß so getan wird, als würden Arbeitgeber aus altruistischen Gründen möglichst viele Leute ‹anstellen›. Und weil sie so gutmenschlich sind, und viele, viele Menschen in Lohn und Brot bringen wollen, können sie leider dem Einzelnen nur wenig Lohn zahlen. Wie hirnverdreht und bösartig diese Argumentation doch ist!

Arbeitgeber stellen ganz grundsätzlich Leute ein, um an diesen zu verdienen, um mit deren Hände Arbeit einen Mehrwert abzuschöpfen. Und Arbeitgeber stellen ganz grundsätzlich viele Leute ein (etwa im sog. Callcenter), um möglichst viel abzuschöpfen. Natürlich könnte der Arbeitgeber dem Einzelnen einen höheren Lohn bezahlen, aber genau das tut er nicht. Und zwar nicht, weil er seine Belegschaft nicht ‹dezimieren› will, sondern weil er ein Nicht-Gutmensch ist. Und weil ‹der Markt› der entrechteten und verschreckten Niedrigstlohnempfänger das hergibt! So. Jetzt haben wir die Dekonstruktion einigermaßen beisammen.

Das nächste Mal seid bitte nicht so nachlässig.

Bettina (Bochum)



Erstellt: 1. November 2011 – letzte Überarbeitung: 2. November 2011
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