BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Pólis und Postdemokratie: Ein Nachtrag - Schamlosigkeit»
von Henriette Orheim & Albertine Devilder
Als PDF-Datei laden

Einführung

Albertine Devilder & Henriette Orheim haben in ihrem umfassenden Essay ‹Pólis und Postdemokratie: Ein Sammelreferat› skizziert, wie sich der Niedergang unserer Pólis und die allfälligen Protuberanzen der unzähligen ‹Ichs› in unserem Gemeinwesen wechselseitig bedingen, hat doch die Aufhebung der Demokratie im Neoliberalismus seine gewünschte Entsprechung in der Produktion von Ichlingen, die der Ansicht sind, jeder wisse alles doch selbst am besten und jeder müsse für sich selber sorgen. Es heißt heute: «Unterm Strich zähl ich!» Da ist kein Raum mehr für eine Pólis im alten Sinn. Auf die Demokratie, falls es denn mal je eine gab, folgt die Postdemokratie. Und dies bedeutet: Wir haben keine Wahl mehr zwischen verschiedenen Möglichkeiten, Politik zu betreiben, und wir haben keinen Einfluß mehr darauf, wie Politik betrieben werden sollte. Immer mehr Leute verstehen das und gehen nicht mehr wählen. Denn wir können die Schauspieler, die Polit-Darsteller bestimmen, aber nicht das Stück, das gespielt wird. Das Stück steht fest. Die Aufführung heißt ‹Kapitalismus›. Und weil kein anderes Stück mehr aufgeführt werden wird, nennen wir es den ‹finalen› Kapitalismus.

Den vielen bitteren Symptomen, die Albertine Devilder & Henriette Orheim zusammen getragen haben, fügte Helmut Hansen noch einen notwendigen Nachtrag hinzu: Den Unterschied zwischen ‹Wählen› und ‹Abwählen›, also zwischen der ‹Wahl› zu irgendwelchen Parlamenten oder Ämtern und der Abwahl aus einem Amt oder der ‹Volksabstimmung› zu irgendeinem ‹Sachthema›. Alle Macht geht vom Volke aus? Ach, das kriegen wir schon hin. Das muß man nicht so ernst nehmen. Vox populi, vox Rindvieh!

Im folgenden schmalen Text möchten wir einen weiteren Nachtrag liefern, indem wir ein Thema aufgreifen, welches die Redaktion der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› schon seit langer Zeit beschäftigt: Es ist der Aufbruch in die Schamlosigkeit. Schauen wir uns an, wie gut Postdemokratie und Schamlosigkeit zusammen passen.


Scham und Schamlosigkeit

Lisa Blausonne und Henriette Orheim skizzieren in ihrem Einführungsessay zu den ‹kleinen psychologischen Skizzen zu Scham, Schuld und Gewissen› eine Fülle von Beobachtungen, in denen sich ein Kulturinsasse eben nicht schämt, sondern bei seiner ‹Ich›-Durchsetzung gar auf Applaus wartet. Ja, wir waren und sind immer wieder erstaunt, daß es im Zusammenleben von Kulturinsassen in der Spätmoderne kaum Scham-Attacken gibt. Wer noch in der Lage ist, die Augen zu öffnen, sieht, daß diese Beobachtung sich selbst trägt. Derzeit schämt sich kaum einer, und wenn, dann wegen einer – im sozialen Vergleich – unangemessenen Kleidung, wegen eines uncoolen Gadgets oder wegen einer zu geringen Barschaft. Aber wegen des eigenen unbotmäßigen Verhaltens? Heute hat jeder ein einmaliges ‹Ich›, welches es unter allen Umständen zu pflegen gilt. Als Konsequenz daraus ist eine allumfassende moralische Abkehr von einer Welt außerhalb des ‹Ichs› nur folgerichtig. Durch die unbedingte Hinwendung zum ‹eigenen Ich› meint dasselbe, keine ‹Umwelt› mehr nötig zu haben. Wir können auch einen ‹Abschied von jeder Haltung› konstatieren, außer – naturgemäß – der Haltung zu sich selbst.

In diesem kleinen Essay sprechen wir über Scham, nicht über ‹Schuld› und ‹Gewissen›. Wir glauben, daß man sich erst einmal überhaupt schämen können muß, um so etwas wie ein Schuldgefühl während einer konkreten Angelegenheit entwickeln zu können. Und daß dann - später - über ein gedankliches Bewegen von Argumenten über die eigene Schuld oder Unschuld so etwas wie ein ‹Gewissen› entstehen kann.


Wie der Herr so's Gescherr und umgekehrt

In der oben genannten Einführung zu den ‹Skizzen zu Scham, Schuld und Gewissen› verzichten Lisa Blausonne und Henriette Orheim darauf, Beispiele für Schamlosigkeiten aus dem Bereich der Medien und der Politik zu wählen. Sie schauen auf den Alltag, der schlimm genug ist. In diesem Essay aber richten wir unser Augenmerk direkt auf die Politik. Wir übergehen dabei die scheinbar einzig erforderliche Verhaltensfertigkeit von Politikern, die scham- und endlose Beschimpfung und Bekämpfung des politischen Gegners. Wir gehen weiter und fragen uns, unter welchen Bedingungen sich ein Politiker überhaupt schämen kann? Sich als Person schämen. Anhand von zwei Beispielen zeigen wir den Weg in die Schamlosigkeit. Wir könnten noch ein drittes Beispiel wählen, einen vom Volke abgewählten Oberbürgermeister, der mit seinem letzten amtlichen Satz «Gott schütze Duisburg!» sein Leben als Pensionär beginnen durfte. Aber wir tun das nicht. Wir kämpfen eh mit unserer Contenance.

(1) Der Kavalier

Der Kavalier ist schon fast vergessen, aber er ist nur ‹vorerst gescheitert›, er wird wieder kommen. Henriette Orheim & Albertine Devilder haben in einer sehr sorgfältigen Diskursanalyse die ‹Argumente› gesammelt, die seiner Zeit von den Bewunderern des Kavaliers vorgebracht wurden, um ihn zu entschuldigen und um von dem Betrug und der vehementen und dreisten Täuschung in ‹seiner› Dissertation abzulenken.

Der Kavalier beharrt bis heute darauf, nicht gewußt zu haben, wie massiv er bei anderen Autoren und Autorinnen abgeschrieben hat. Und er schämt sich nicht, die folgende hochherrschaftliche Argumentation anzufügen: Er habe nicht getäuscht, da jegliche Täuschung und jeder Betrug gegen seine Ehre verstoßen würde. Weil bei seiner Ehre eine Täuschung und ein Betrug von ihm aus somit ausgeschlossen seien, könne er in seiner Dissertation niemanden getäuscht haben. Eine hinreißende Argumentation. Da muß man erst einmal drauf kommen. Und der Kavalier schämt sich nicht. Kann er sich noch schämen?

In einem anderen Essay haben Albertine Devilder & Artus P. Feldmann beschrieben, wie einige andere überführte Plagiatoren in ihrer Dreistigkeit noch wesentlich weiter gehen, und Auftritte in den einschlägigen Medien benutzen, um in einer schändlichen Weise für ihre Exkulpation zu werben. Diesen Menschen steht die Schamlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Zwei von ihnen klagen derzeit tatsächlich gegen ihre Universität und wollen ihren Doktor wieder haben. Scham? Bei erwiesenem massiven Abschreiben? Bei klarer Täuschung? Scham? Warum? Und in den einschlägigen Foren heißt es dann: «Wieso, versuchen kann man es doch! Würde doch jeder machen!» Jeder? Wir kommen darauf zurück.

(2) Der Präsident

Der Präsident ist in all seiner Belanglosigkeit noch nicht vergessen. Fast alle Kulturinsassen, insbesondere die bürgerlichen und seine christliche Verteidiger, spüren, daß dieser Mensch in einem geistigen Niemandsland lebt und nach außen die Urform, die Reinform, den Prototyp eines christlichen Politikers widerspiegelt. Wenn man sich die Verteidigungslinien und die immer wieder nachgeschobenen Argumente und Erklärungen anhört, kann man nur vom Charakter eines Winkeladvokaten sprechen. Vielleicht ist diese Charaktereigenschaft eine spezifische Deformation, die man sich beim Studium der Juristerei einhandelt – oder beim Eintritt in die Politik. Man versucht alles, um aus einer rechtlichen Klemme wieder hinaus zu kommen. Man trickst sich frei. Wenn wir uns überlegen, dass viele Politiker Juristen sind, haben wir bereits eine Erklärung für die so häufig gemachte Beobachtung der Abwesenheit von Scham.

Und Begriffe wie ‹Anstand›, ‹Ethik› oder ‹Verantwortung› purzeln zwar immer wieder anmutig aus dem wohlwollend aussehenden Kopf eines Präsidenten, doch es sind ‹entleerte Wörter›, sie spielen keine Rolle in der Lebens- und Amtsführung.

Der Präsident kann sogar sagen: «Ich habe mich in meinen Ämtern stets rechtlich korrekt verhalten. Ich habe Fehler gemacht, aber ich war immer aufrichtig.» Eine Person ohne Scham. Wir sollten uns immer an ihn erinnern, wenn die Rede auf die Schamlosigkeit von Winkeladvokaten kommt.


Eine Kultur ohne Scham

Fassen wir das Spektrum zusammen. In unserem Gemeinwesen, in der alle Macht vom Volke ausgeht, wählen wir als Stellvertreter des Volkswillens, als Repräsentanten unserer politischen Wünsche, Politiker. Diese finden die ihnen übertragenen Ämter – jenseits ihres Mandates – stets ‹interessant›. Sie wissen zwar, daß sie das Amt und das Mandat nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten erhalten haben, sondern aus Proporz-Erwägungen und auf Grund innerparteilicher Rangeleien, aber das stört sie nicht. Und sie schämen sich deswegen nicht.

Werden sie nach ihrer zukünftigen Rolle gefragt, so schalten sie die Konversationsmaschine ein und teilen den Fragern mit, sie freuten sich auf die vor ihnen liegenden ‹Aufgaben› und sie nähmen die ‹Herausforderungen› gerne an. Wenn etwas schief gehen sollte – und was kann schon schief gehen? –, übernehmen sie dafür gerne die ‹politische Verantwortung›, denn sie wissen, das dies für sie keinerlei Konsequenzen hat. Es geschieht ihnen nichts. Sie werden versorgt. Selbst wenn Politiker einmal in die Bredouille geraten, weil sie etwa die Verfassung brechen, schämen sie sich nicht, sondern erklären der Öffentlichkeit, daß es sich hier nur um ein Kommunikationsproblem handeln könne. Sie sagen allerdings öffentlich und immer wieder, sie schämten sich für die schändlichen Taten und die Skrupellosigkeit des politischen Gegners, ja, und sie sagen, sie litten ‹physisch› unter der von ihnen beschworenen ‹Amoralität› der anderen, aber sie selbst, sie schämen sich nicht.

Eine persönliche Verantwortung kann ein Politiker nicht haben. Kommen solche Vorwürfe, reden sie sich endlos heraus, sie tricksen und tändeln, daß man nur noch fassungslos den Kopf schütteln kann. Gut gelaunt und gut trainiert ziehen sie die Zuschauer in einem Schaumedium mit einstudierten, rührseligen Geschichten auf ihre Seite. Wie wir oben gesehen haben, sagen sie dabei tatsächlich so etwas wie «Ich war immer aufrichtig». Wie wir das aus der Psychopathologie kennen, ist zu befürchten, daß sie dies wirklich glauben.

Wir sollten zum Schluß nicht vergessen, daß die doch immer noch zahlreichen Unterstützer des Kavaliers und des Präsidenten immer wieder betonen, jeder von uns habe schon einmal Fehler gemacht, habe ‹geschummelt› oder habe sich nicht ganz korrekt verhalten. Und dann stellen sie die aufschlußreiche Frage, warum Politiker gleichsam ‹Übermenschen› sein sollten, die moralisch auf einem höheren Niveau stünden als ihre Wähler. Damit meinen sie: Wenn Politiker so schamlos sind wie wir selbst, dann ist doch alles in Ordnung.

Schämt sich niemand mehr? Nein.



Erstellt: 21. Februar 2012 – letzte Überarbeitung: 5. März 2012
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.