BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Pólis und Postdemokratie: Ein Sammelreferat»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2014)
von Albertine Devilder & Henriette Orheim
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«Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern,
sich um das zu kümmern, was sie angeht.»
(Ambroise Paul Toussaint Jules Valéry)

«Politik: die Führung öffentlicher Angelegenheiten zu privatem Vorteil.»
(Ambrose Bierce)

«Die primäre Aufgabe des Staates ist es, Ungleichheit zu gewährleisten.
Also den armen Teil der Bevölkerung daran zu hindern,
den Wohlhabenden das Geld abzunehmen.»
(Boris Groys)

«Die Menschheit wird einen großen Fortschritt gemacht haben,
wenn sie die Politiker abschafft.
Da das aber zweifellos durch andere Politiker besorgt würde,
hätte sie dabei schließlich nichts gewonnen,
und alles finge wieder von vorn an wie überall.»
(Maurice Maeterlinck)

Prolog

Wir haben hier im ‹Skepsis-Reservat› den Blick immer nach außen – auf unsere ‹Gesellschaft des Spektakels› – und nach innen – auf die stupende Produktion eines ‹So viel ‹Ich› war nie› – gerichtet, haben also die Entwicklung unserer Pólis betrachtet und gleichzeitig das Werden der Kulturinsassen.

In unserem zu einem Klassiker gewordenen Arbeitspapier Nr. 11 – ‹Zur Kulturphysiognomik von Romantik, Moderne und Postmoderne› – haben wir wehmütig den Abschied unserer Kultur von Essenzen der Romantik skizziert und vor allem gezeigt, wie in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren das Zeitalter der ‹Moderne› zu einem Zeitalter der ‹Postmoderne› wurde, mit allem, was dazu gehört. Und in dem ebenfalls bereits zum Klassiker gewordenen Arbeitspapier Nr. 14 analysieren wir enttäuscht, wie die vielen positiven Ansätze und Versprechungen der Postmoderne von einer zynischen ‹Spätmoderne› aufgefressen wurden: ‹Was von der Postmoderne übrig blieb›. Und immer wieder haben wir diese Seite, die Gesellschaft, die Pólis, unsere Kultur betrachtet und unsere Beobachtungen in vielen, vielen Essays und Traktaten festgehalten: Wir nennen diese ‹Zeitansagen›. Und, klar, bei der Betrachtung der Zeitläufte haben wir immer wieder festgestellt, daß wir uns von vielem Gewohntem, Vertrautem, ja, Geliebtem verabschieden mußten: Das sind unsere ‹Nachrufe›.

Doch wie schon eingangs erwähnt, haben wir in einer Fülle von Traktaten und Skizzen auch immer die Kulturinsassen, die Zeitangehörigen beobachtet und beschrieben, die mit einer beispiellosen Ich-haftigkeit, Ichhaltigkeit und Unmittelbarkeit versuchen, sich dem Lauf der Welt und der Dinge anzupassen. Denn wir alle sollten unbedingt eins gelernt haben: ‹Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben›. Also möchte keiner mehr zu spät kommen, und alle drängeln und bedrängen sich am Tor zu den Fleischtöpfen. «Wettbewerb schafft Wachstum!», sagte ein Wichtigkeitswichtel. Entleerte Wörter.

Ein ‹Ich› hatte es in den Protuberanzen nicht leicht. Bar jeder nachhaltigen Reflexion gab und gibt es eigentlich nur den gesellschaftlichen Auftrag, keine ‹Haltung› mehr zu irgendetwas zu haben (außer zu Konsumprodukten). Statt dessen wird erfreut gesehen, wie das Private und das Öffentliche ununterscheidbar werden. Millionen junge Leute offenbaren und entäußern sich ‹freiwillig› und bieten ihre persönlichen Daten Datenkraken zur Verwendung an. Es dürfte klar sein, daß die gigantischen Überwachungsprogramme staatlicher Stellen diese haltungslosen Leute weder interessieren noch berühren. Horst Bredekamp sagt es so:
«Wir unterscheiden nicht mehr zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, und wenn das Persönliche nicht geschützt ist, wird auch die widergesetzliche Kontrolle erlaubt. Das ist die bitterste Konsequenz der letzten 15 Jahre. Was wir gerade erleben, ist ein kolossaler zivilisatorischer Rückschritt. Der Soziologe Norbert Elias hat einst beschrieben, wie der Prozess der Zivilisation seit dem Mittelalter darin besteht, Distanzräume zu gewinnen zwischen Mensch und Welt. […] Heute gibt es auf allen Ebenen den Versuch, diesen Distanzraum zu zerstören. Alles Private wird öffentlich, und an Stelle von Haltung tritt die Entäußerung billiger Gefühle.» [1] Süddeutsche Zeitung Nr. 107 vom 10./11. Mai 2014, Seite 15.
Naturgemäß bedingen sich der Niedergang unserer Pólis, die allfälligen Protuberanzen der unzähligen ‹Ichs›, der Verlust der ‹Distanzräume› und das Verschwinden des Bemühens, eine eigene Haltung zur Welt jenseits des eigenen Oikos zu entwickeln wechselseitig, denn die Aufhebung der Demokratie im Neoliberalismus hat seine gewünschte Entsprechung in der Produktion von Ichlingen, die der Ansicht sind, jeder wisse alles doch selbst am besten und jeder müsse für sich selber sorgen. In den USA geht das so weit, daß weite Teile der Bevölkerung eine Krankenversicherung – als sozialer Akt für alle – ablehnen. Sie verstehen dieses Projekt gar nicht und halten es für Teufelszeug – oder Sozialismus. Wir kommen darauf zurück.

So heißt es heute: «Unterm Strich zähl ich!» Da ist einfach kein Raum mehr für eine Pólis im alten Sinn. Auf die Demokratie, falls es denn mal je eine gab, folgt die Postdemokratie. Und der Postdemokratie werden autoritäre Staatsformen folgen, in denen die einzelnen Nationen wieder ihre ‹Selbstbestimmung› betonen.

Nachdem wir in unserem ersten Sammelreferat mit dem schönen Titel Weltbewältigung die Unterschiede zwischen dem ‹gesunden Menschenverstand› und ‹Sozialen Konstruktivisten› im Weltzugang und im Aushalten und Ertragen dieser Welt skizziert haben, möchten wir in diesem Text die vielen Beobachtungen und Analysen aufgreifen, die unsere Autoren und Autorinnen zum Niedergang unseres Gemeinwesens gesammelt haben. Nett wird das nicht. Und die Antwort auf die Standard-Frage aller der Studierenden im ersten Semester, die noch eine wehmütige Ahnung vom Grundgedanken einer Pólis haben, ‹was denn jetzt sofort zu tun sei›, um dem postdemokratischen Wirken auch sofort abzuhelfen, diese Antwort wird ausbleiben. Halten wir erst einmal das aus, was es zu sehen gibt. Und wenden wir unseren Blick auf einige – längst nicht alle – Punkte, die uns auffallen und schmerzen.

Postdemokratie

Colin Crouch hat das, was wir derzeit in vielen europäischen Ländern erleben, in seinem Buch ‹Postdemokratie› [2] Colin Crouch (2013): Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Edition Suhrkamp 2540. 10. Auflage. beschrieben. Ingo Schulze hat am 12. Januar 2012 in einem Beitrag der ‹Süddeutschen Zeitung› diese Analyse fortgesetzt. Und wir werden im folgenden auf einige der Traktate und Essays, die wir zu diesem Thema, dem nachdemokratischen Zeitalter, bereits geschrieben haben, zurück kommen und damit die Entwicklung zur Postdemokratie zusammenfassen. Ein Sammelreferat also.

Demokratie? Wie war das nochmal?

Der Grundgedanke der nun überholten Demokratie war, daß alle Macht vom Volk ausgehe. Die Kulturinsassen wählten gleichsam Stellvertreter, die in Parlamenten für das Allgemeinwohl sorgen sollten. Der Bürger, der Wähler, galt als Souverän, die gewählten Stellvertreter und Fürsprecher sollten in dessen Auftrag handeln. Ob dieser Gedanke je einmal funktioniert hat, ist zweifelhaft. Karl Kraus sagt nicht umsonst, der ‹Parlamentarismus sei die kasernierte politische Prostitution›.

Vom Staat als leerer Hülle

Eines der hervor stechendsten Symptome einer Postdemokratie ist der überaus und überall beklatschte Versuch, den Einfluß des Staates zurückzudrängen, was immer das heißen mag. Obwohl es meistens bedeutet: Abbau des Sozialstaates und Verzicht auf Kulturförderung unter permanentem und rituellem Aufsagen des Wortes ‹Eigenverantwortung›. Das ist der Ausgangspunkt, das ist die Prämisse.

Die Republikaner in den Vereinigten Staaten von Amerika machen es uns vor, wir werden folgen. Ein Präsidentschaftskandidat der ‹Rechten› kann heute unter großem Jubel seiner Zuhörer sagen, daß er es nicht nur liebe, Leute zu entlassen, sondern auch überhaupt nicht verstehe, warum sich der Staat um die Gesundheit, die Bildung oder die Unversehrtheit seiner Bürger kümmern sollte, dies müsse jeder für sich tun. So weit sind wir noch nicht in unserer Pólis, aber die ‹Herren des Wörterbuchs› arbeiten daran. Täglich. Zum Beispiel mit Hilfe des von sogenannten ‹Arbeitgebern› gegründeten Lobby-Drangsals «Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft».

Was der ‹Abschied vom Staat› bedeutet, haben Albertine Devilder, Henriette Orheim und Helmut Hansen beschrieben.

«Im Zeitalter des entfesselten, endgültigen und finalen Kapitalismus ist der Staat ins Gerede gekommen. Immer mehr Agenten des Neo-Liberalismus und der Globalisierung reden immer öfter vom ‹schlanken› Staat, von ‹Entbürokratisierung›, von ‹Clusterbildung› und davon, daß die ‹Bevormundung› durch den Staat endlich aufzuhören habe. Schließlich müsse jeder Bürger für sich selbst entscheiden, was zu tun und zu lassen sei.»

Wohlstand, Bildung, Sozialversicherung und Sicherheit für alle, das war einmal. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Damit das begründet werden kann, richten die ‹Herren des Wörterbuchs› eine Professur für ‹Wirtschaftsethik ein. Wirtschaftsethik?

«Der Münchener Wirtschaftsethiker Karl Homann zum Beispiel sagt zu dem […] exorbitanten Gehaltsunterschied zwischen Herr und Gescherr: ‹Ich kenne keinen einzigen Lehrsatz in der Ethik, aus dem sich eine Gehaltsobergrenze ableiten ließe.› [3] Süddeutsche Zeitung vom 21. Mai 2003, Seite 2. Vgl. auch das Arbeitspapier Nr. 14, Seite 48.

Ist das nicht allerliebst? Dazu passt auch die Aussage des bedeutenden Wirtschaftsweisen Hans-Werner Sinn: «‹Jeder muss von seiner Hände Arbeit leben können. Es darf nicht sein, dass Firmen ihre Geschäftsmodelle darauf aufbauen, dass der Staat den niedrigen Lohn, den sie zahlen, noch aufstockt. Firmen, die es nicht schaffen, einen auskömmlichen Lohn zu zahlen, brauchen wir nicht.› Das sind Sprüche aus den vergangenen Monaten, denen vermutlich zwei Drittel der Deutschen zustimmen. Aber es sind die dümmsten Sprüche des Jahres. [4] Süddeutsche Zeitung vom 28.12.2007.

Wir sollten uns das merken: Der Staat hat heute nicht die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß Einkommensunterschiede ‹sozialverträglich› bleiben und man von seiner Hände Arbeit leben kann. Deswegen rufen Christen auch immer wieder: ‹Mindestlöhne sind unsozial›.

Eine weitere wichtige Aufgabe eines postdemokratischen Staates ist es, eigentliche Aufgaben des Staates in private Hände zu geben. Also Telekommunikation, Post, Verkehr, Energieversorgung – und in Zukunft auch so lästige Aufgaben wie Bildung oder die Haltung von Freiheitsberaubten. Dieser Ausverkauf führt dazu, daß der Staat als leere Hülle ohne irgendeinen Besitz da stehen wird, das einzige was ihm verbleibt, sind immense Schulden. Albertine Devilder, Henriette Orheim und Helmut Hansen schreiben dazu in ‹Abschied vom Staat›:

«Interessant ist, daß die massive Veräußerung von Staatsbesitz - wie etwa in Bayern - als große politische Leistung angesehen wird. Keiner kommt auf den Gedanken, daß Beteiligungen und andere Werthaltigkeiten nur einmal verkauft werden können und daß dann eines nahen Tages den unglaublichen Schulden nichts mehr an Werten gegenüber steht.»

Der derzeitige Staat – als nackte Hülle – vertritt die Interessen einiger weniger, er vertritt Privatinteressen - und die Interessen derjenigen, die für den Staat als Politiker arbeiten.

Über die Aufgaben des Rest-Staates

Wenn es nicht mehr um Wohlstand, Bildung, Sozialversicherung und Sicherheit für alle geht, und nicht mehr darum, daß Kulturinsassen von ihrer Hände Arbeit leben können, um was geht es dann? Albertine Devilder, Henriette Orheim und Helmut Hansen schreiben in ihrem o.g. Essay ‹Abschied vom Staat› dies:

«Heute, im finalen Kapitalismus, spielen die Interessen der Bürger keine Rolle mehr, denn die Hauptrolle ist auf Dauer vergeben: Die Aufgabe des finalen Staates ist es, Kapital und Wirtschaft mit Milliarden an ‹Transferleistungen› und ‹Wirtschaftsförderungen› bei Laune zu halten und keine Gesetze zu beschließen, die Kapital und Wirtschaft mißfallen könnten. Ja, wir können sagen, daß Staat und Demokratie kapituliert haben vor den Interessen der Wirtschaft. Der Staat wagt es nicht mehr, sich für die Interessen aller Bürger einzusetzen. Er ist eine schwindende, machtlose Hülse geworden, die tatkräftig nur noch das genuine Geschäft der Wirtschaft besorgt - und dabei allerdings abertausende von Stellen (mit Pensionsberechtigung) für Parteimitglieder schafft. Klar.

Es gibt verschiedene Umschreibungen für das, was der Staat noch besorgen soll. Die einen reden vom schlanken Staat oder der ‹Rückführung› von Aufgaben und meinen damit, seine angesagte Aufgabe sei heute eine umfassende ‹Deregulierung›, damit jeder, der etwas unternehmen wolle, dies auch - ungebremst durch bürokratischen Schnickschnack, gewerkschaftlich-ideologische Verstiegenheiten und ideologisch motivierten Umweltschutz oder gar Tierschutz - tun könne.

Die anderen reden vom ‹Standort› Deutschland und meinen mit diesem aus der Kriegsführung entlehnten Begriff nur, der Staat solle sich bemühen, einen für das Kapital günstigen Wirtschaftsstandort einzurichten, in dem die Löhne und vor allem die ‹Lohn-Nebenkosten› - die ja den ganzen überflüssigen ‹Sozial-Klimbim› widerspiegeln - möglichst niedrig gehalten werden: Der Wirtschaftsstandort als Niedrig-Lohnort, nicht als Lebensraum der Bürger.»


Ganz aktuell ist derzeit ein zukünftiges «Transatlantisches Freihandelsabkommen». Keiner weiß natürlich, was damit gemeint ist. Nur wenn man genau in die Paragraphen einsteigt, entdeckt man, daß es darum geht, daß die großen Konzerne bei Rechtsverletzungen aller Art nicht mehr vor ordentliche Gerichte gezerrt werden können. Allfällige ‹Probleme› sollen in Zukunft von ‹Schiedsstellen› beseitigt werden. Hier wird sehr schön deutlich, daß es in einer Postdemokratie Bereiche gibt (Kapital, Wirtschaft, aber auch Sport), die außerhalb des Rechts stehen.

Fassen wir die Aufgaben des Rest-Staates im postdemokratischen Neoliberalismus zusammen, so bleibt nur, allen Unternehmenden ihre Unternehmungen zu ermöglichen. Das ist alternativlos. Wobei die Gewinne der Unternehmenden privatisiert werden, und die Verluste, die Probleme, die Pleiten, die Finanzkrisen, die Überschuldungen von allen getragen werden müssen. Selbstverständlich wird auch das Abwracken überflüssiger Atomkraftwerke letztlich vom Steuerzahler bezahlt werden. Noch einmal: Das ist alternativlos. Und dazu gibt es die unglaubliche Meinung, daß, wenn alle nur an sich selbst denken und für sich sorgen würden, dies gut für die Pólis sei. Darauf sind die ‹Herren des Wörterbuchs› schon vor längerer Zeit gekommen.

Vom Aussterben des homo politicus

Helmut Hansen hat in seinem Essay «Abschied vom ‹homo politicus›» skizziert, welche Politiker in der Postdemokratie benötigt werden, und wie allgemein und mundan der Weg vom Gemeinnutz zum Eigennutz beschritten wird. Ein Kulturinsasse – ob Politiker oder Mensch – wird gefeiert, wenn sein Streben nicht der Pólis dient, sondern dem eigenen Oikos:

«Ein Hausverwalter, heute nennt man ihn «Betriebswirt», denkt ausschließlich an die Interessen seines Betriebes und verlangt, daß er alle Abfälle, Schadstoffe und Arbeitskräfte, die er nicht mehr brauchen kann, über den Zaun seines Betriebes werfen darf und somit entsorgt: Das heißt, er, der Hausverwalter, der Betriebswirt, der Ökonom, braucht sich keine Sorgen mehr über das von ihm Entsorgte zu machen.»

Um das zu ermöglichen, brauchen wir Politiker, die das voll und ganz unterstützen. Helmut Hansen schreibt:

«Wenn wir irgendeinem beliebigen «Politiker» der Postmoderne einmal tatsächlich zuhören sollten, dann klingeln und funkeln immer dieselben Sprachfiguren: «Bürokratische Hemmnisse seien abzubauen», «Verfahrensregeln zu reduzieren», «Steuern zu senken», die «Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland sei zu verbessern» und so weiter und so weiter. Die «Wirtschaft» und – ersatzweise – auch der «Mittelstand» dürften in keinem einzigen Fall in ihren ökonomistischen und auf das je eigene Wohl gerichteten Plänen von der «Pólis» behindert werden. Dann und nur dann ergäbe sich ein großer Nutzen für alle, für die «Pólis»!»

In der Postdemokratie machen Politiker also eine Politik zum Wohle des Kapitals, aber auch eine zum eigenen Nutzen. Sie haben sich auf die vermeintlich stärkere Seite geschlagen. Das heißt aber auch, sie haben sich, wie die anderen Kulturinsassen, von jeder ‹Haltung› verabschiedet, außer der zu sich selbst. Helmut Hansen sagt:

«Wenn wir den Angaben des Deutschen Bundestages glauben wollen, verdienen heute etwa zwei Drittel aller Abgeordneten nebenher noch etwas Geld. Um es deutlich zu sagen, sie werden – zusätzlich zu ihren «Diäten» – noch dafür bezahlt, im Parlament die Interessen einzelner Unternehmen zu vertreten.»

Das ist in Europa ziemlich einmalig. Das gilt nicht als Korruption. Denn das muß man dem Gewissen jedes Einzelnen überlassen.

Albertine Devilder, Henriette Orheim und Helmut Hansen schreiben in ‹Abschied vom Staat› über den unbedingt erforderlichen Politiker neuen Typs:

«Wenn der demokratische Staat vor den Interessen des Kapitals und der Wirtschaft kapituliert, dürfte klar sein, daß die vom Volk gewählten Politiker diese Kapitulation unterstützen müssen, wenn sie - ganz persönlich jetzt - ‹etwas bewegen› wollen. Die ‹Herausforderungen›, denen sich Politiker heute gegenüber sehen, bestehen also darin, als Agenten, als Allzweckwaffen des Kapitals die Abschaffung des Staates weiter durchzusetzen, dem Wahlvolk Augen und Ohren zu verstopfen und an die eigenen (nicht nur finanziellen) Interessen zu denken. Politiker der Jetztzeit ‹arbeiten› also für das Kapital und für sich selbst. Den Bürgern allerdings müssen sie vorspielen, als würden sie in deren Interesse handeln.

Dieser Widerspruch wird in unserer Gesellschaft des Spektakels in sehr lustiger Weise gelöst, indem Politiker, gefordert und unterstützt von den allgegenwärtigen Medien, für die Bürger eine symbolische Politik betreiben, die sich erschöpft in einem ‹guten› Aussehen, einem ‹entschlossenen› Auftreten, einer maßlosen, übertriebenen Rede, und einem ‹So tun als ob›, einem Vortäuschen von politischen Handlungen also. Das ist der neue Stil. In allerletzter Zeit sind auch Darsteller zu bewundern, die ein ehrliches Gesicht aufsetzen und erklären, daß sie in Anbetracht der schwierigen Lage keine Versprechungen mehr machen könnten. Sehr schön. Gemeint sind natürlich Versprechungen an die Bürger, die Versprechungen für das Kapital werden auf jeden Fall eingehalten.
» Denn diese sind, genau, alternativlos.

Die Aufhebung aller sozialen Klassen

Jetzt kommen wir zu einem Punkt, den junge Leser und Leserinnen, die in der Postmoderne aufgewachsen sind, überhaupt nicht verstehen werden. Wir erwähnen ihn dennoch, damit die älteren Leser und Leserinnen noch einmal mit Wehmut an etwas Verlorenes zurück denken können. Also los.

In der Postdemokratie, in der es – wie derzeit überall in Europa zu sehen ist – um Sozialabbau unter dem Deckmantel des Wortes ‹Eigenverantwortung› geht, ist es sehr wichtig, immer wieder zu betonen, daß es keine sozialen Klassen mehr gebe, denn schließlich müsse jeder für sich selbst entscheiden usw. usw. Das ist schlau, denn es geht darum, mögliche Solidarisierungen von Betroffenen auf Grund einer gemeinsamen ‹Klassenlage› zu verhindern. Selbstverständlich gehört dazu auch die Dauerhatz auf Gewerkschaften, die in England und den USA so gut wie tot sind. Wenn irgendein schüchterner Mensch heute noch einmal soziale Klassen erwähnen oder gar von der ‹Klassenlage› sprechen sollte, wird ihm kurz ab das Wort ‹Neiddebatte› hingeworfen und schon entspannen sich alle Gesichter. Es gibt per Definition in der Postdemokratie keine sozialen Klassen mehr. Alle Menschen sind gleich. Die unermeßlich Reichen und die unermeßlich Armen. Punkt.

Albertine Devilder schreibt in ihrem konzisen Essay ‹Abschied von der Arbeiterklasse›:

«Das «Teile und Herrsche» geht also heute so: Die isolierten Konsummonaden werden von der telekommunikativen Gemeinschaft des Großen Bruders wieder zusammengefügt. So sind dann zwar alle vereinzelt, aber niemand ist einsam, denn: «Du bist nicht allein». Aus dem «Teile und Herrsche!» der alten Römer ist heute also ein «Isoliere und reintegriere!» geworden. Die in ihren Wohnzellen, in ihrer Wohnhaft lebenden Individuen werden täglich und rund um die Uhr von TV-Spektakelbildern und Höhepunkten der Gemeinheit zusammengehalten. Und in der wenigen Zeit, in der sie nicht vor dem TV sitzen, sprechen sie ganz Bild-gesättigt und Bild-erfüllt darüber, wie das war, als sie davor gesessen haben. Und eben erst durch dieses soziale Zusammenkleistern erreichen die TV-Bilder, die sich der einzelnen Individuen ja längst bemächtigt haben, ihre volle Macht.

Der Sieg der Arbeiterklasse über die Definitionsgewalt öffentlicher Ästhetik, der Sieg der proletarischen Ästhetik also markiert gleichzeitig den Abschied von all dem soziologisch und politisch Aufgeladenen, das die Arbeiterklasse (als sozialem System mit Identifikationseinladung) mal ausgezeichnet hat. Die Abschaffung des Proletariats durch die Proletarisierung der Ästhetik. […] Das Kapital hat mal wieder gesiegt, indem es dem einzelnen Proleten erlaubt, er selbst zu sein, sich selbst in den Medien zusehen zu dürfen und von allem Wissen verschont zu bleiben, welches seine «Lage» ändern könnte. Hauptsache er kauft, ist Endverbraucher.
»

Der Sieg über Marxismus und Sozialismus

In ihrem Essay ‹Über das Besiegte› zeigt Albertine Devilder, warum es – neben der Betonung, daß es keine sozialen Klassen mehr gebe – heute in unserer Postdemokratie so wichtig ist, immer wieder Marxismus und Sozialismus als etwas ‹Besiegtes› darzustellen.

«Im Marxismus werden Menschen als gesellschaftliche Wesen aufgefaßt, deren «Persönlichkeit» prinzipiell gesellschaftlich determiniert ist. Das Individuelle ist hier das Sozialisierte, das Gesellschaftliche, das Allgemeine. Dieses Prinzip ergibt sich aus den Theorien des historischen und dialektischen Materialismus, nach dem sich Gesellschaften, insbesondere die kapitalistische, in einer bestimmten, vorherzusehenden Weise entwickeln. Gesellschaftliche Umgebung, soziale Klasse, soziales System und die jeweilige ökonomische Basis bestimmen also das Verhalten und das Bewußtsein von einzelnen Menschen. Das Sein bestimmt das Bewußtsein! Und das Bewußtsein – als bewußt gewordenes gesellschaftliches Sein – bestimmt das Sein! Verhalten und Bewußtsein ergeben sich aus der Verinnerlichung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse.»

Nun verstehen wir wieder etwas besser, warum es keine sozialen Klassen geben darf, warum marxistische Gedanken in der Postdemokratie verpönt sind. Albertine Devilder schreibt:

«In der marxistischen Anthropologie wird nun niemals von «Verhalten» gesprochen. Menschen verhalten sich nicht einfach, nein, Marx sieht ein besonderes Merkmal des Menschseins darin, daß Menschen arbeiten, daß sie tätig sind. Schauen wir uns diesen Tätigkeitsaspekt näher an: Der Mensch lebt nach Marx im Idealfall (also im Kommunismus) mit anderen Menschen in sozialen Gemeinschaften zusammen und stellt dabei sein eigenes Wesen und das seiner sozialen Gemeinschaft in freier und bewußter Tätigkeit her. Menschen entäußern nun ihr Wesen, d.h. zeigen ihr Wesen in ihrer Arbeit, sie vergegenständlichen ihr Wesen im Produkt ihrer Arbeit, sie schauen sich selbst im Produkt ihrer Arbeit ins Gesicht.»

Sie schauen sich selbst im Produkt ihrer Arbeit ins Gesicht? Romantik oder was?

«Da (heute) jeder einzelne seine Arbeitskraft an das Kapital verkaufen muß, entsteht eine Vereinzelung des Arbeiters, entwickelt sich seine Loslösung von solidarischen, auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen Gemeinschaften! Der Arbeiter wird im Kapitalismus zum unsolidarischen, flexiblen, jederzeit einsetzbaren Einzelkämpfer, der sehen muß, wo er bleibt, und der auf andere nun wirklich keine Rücksicht nehmen kann! […] Und nur ganz nebenbei: Wenn jeder Arbeiter sich einzeln verkaufen muß, bleiben die Löhne niedriger, da man die Arbeiter gegeneinander ausspielen kann!»

Abschied vom ‹Hauptwiderspruch›

Genau so wichtig für die Postdemokratie, wie die Betonung, daß es keine sozialen Klassen mehr gebe und Marxismus und Sozialismus endgültig besiegt seien, ist die Verschleierung und damit wohl die Auflösung des sogenannten ‹Hauptwiderspruchs›. Wieder einmal werden jüngere Leser und Leserinnen keine Ahnung haben, was mit diesem Wort gemeint sein könnte. Denn es gibt praktisch keine Vorstellungen mehr von einer Welt, einer Ordnung, einer Sozialform jenseits eines globalen Kapitalismus. Was könnte nun der Hauptwiderspruch sein?

«In der Gegenwart der kapitalistischen Gesellschaft stehen sich zwei Klassen feindlich gegenüber: die Bourgeoisie, die die Produktionsmittel besitzt und von der Ausbeutung der Arbeiter lebt, und das Proletariat, das darauf angewiesen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um über den Arbeitslohn sein Leben zu erhalten.» [5] Office-Bibliothek: Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2004.

Und was wird aus dieser Erkenntnis in der Postdemokratie? Nun, sie muß verwedelt, bestritten, lächerlich gemacht oder schlicht geleugnet werden. Hören wir einem berühmten Postdemokraten zu:

«Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen sich heute von Angesicht zu Angesicht gegenüber und können ihre Beziehungen frei aushandeln.»

Geht's noch? Hier noch ein kleiner Hinweis für die jüngere Generation: Neben einem ‹Hauptwiderspruch› sprechen Marx und Engels auch noch von einem ‹Nebenwiderspruch›, der sich aus dem ‹Hauptwiderspruch› ergebe: Der Unterdrückung der Frau in Ehe, Familie und Gesellschaft. Na, das kann ja nur Blödsinn sein. Heute kann doch jede Frau völlig alleine für sich entscheiden, ob sie für 5 € die Stunde als Friseuse oder für 400 € im Monat als Aushilfe arbeiten will und wie sie dafür sorgen kann, im Alter eine Rente zu kriegen, die zum Leben nicht reicht.

Wir sehen, wie in der Postdemokratie eine unablässige Propaganda betrieben werden muß, damit die Kulturinsassen den finalen Kapitalismus als einzig denkbare Lebensform begreifen. So ist es auch zu verstehen, daß die Partei der ‹Linken› vom derzeitigen Generalsekretär einer christlichen Partei als wesentlich gefährlicher für unser Gemeinwesen angesehen wird, als ein paar ‹verwirrte› Rechtsradikale, die immerhin doch gute ‹Deutsche› sind. Alternative Gedanken zum finalen Kapitalismus sind in der Tat sehr gefährlich für unser System. Da sollte den Anfängen gewehrt werden.

Nachrichten ohne Nachrichten

Um die postdemokratischen Ziele zu erreichen, ist es besonders wichtig, in den ununterbrochen ‹gezeigten› Nachrichten über unser gesellschaftliches System klar zu machen, daß – abgesehen von irgendwelchen Kleinigkeiten, die schnell in den Griff zu kriegen sind – unser Gemeinwesen auf einem guten Weg ist. Henriette Orheim und Helmut Hansen schreiben in ihrem Essay ‹Abschied von den Nachrichten› dazu:

«Halten wir fest, mit wenigen Ausnahmen – wir denken hier etwa an die großartige ‹Süddeutsche Zeitung› – liefern ‹Nachrichten› Meinungen. Oder Schmutz, oder schmutzige Meinungen. Wessen Meinungen? Nun, wie man das an immer wieder zu beobachtenden Meinungskampagnen, in denen fast alle Zeitungen Arm in Arm für etwas (den Kapitalismus) und gegen etwas (die Linke) sind, sehr gut sehen kann, ist der Meinungsduktus immer gestaltet im Interesse und zum Segen der ‹Herren des Wörterbuchs›. Und wozu ist dieses Wörterbuch da, wozu wird es gebraucht? Zur Herstellung der ‹‹notwendigen Illusion›, die eine triste Wirklichkeit als vernünftig, wohlwollend und notwendig, gar notwendigerweise wünschenswert erscheinen läßt.›» [6] Chomsky, Noam (1999): Profit over people. Neoliberalism and global order.– New York: SSP.

Wir wissen heute, jede Nachricht ist eine Gelegenheit der Regierung, und in den herkömmlichen Nachrichten erfahren wir nichts über den Zustand unseres Gemeinwesens, denn eingebettete Journalisten stellen Polit-Darstellern immer dieselben Fragen, auf die es immer dieselben Antworten gibt. Ingo Schulze schreibt dazu: [7] Süddeutsche Zeitung vom 12. Januar 2012, Seite 11.

«Die Sprache der Politiker, die uns vertreten sollten, ist gar nicht mehr in der Lage, die Wirklichkeit zu erfassen (Ähnliches habe ich bereits in der DDR erlebt.) Es ist eine Sprache der Selbstgewissheit, die sich an keinem Gegenüber mehr überprüft und relativiert.»

Besser wäre es indes, es gäbe keine lästigen politischen Nachrichten mehr, sondern nur noch Prominenten-Trallala und beliebige Meinungsäußerungen. Das heißt dann Infotainment. Berlusconi hat das perfekt hingekriegt. Wir sind auf dem Weg. Es gibt mittlerweile Privatsender ohne jede einigermaßen seriöse Nachrichtensendung (Lassen wir mal das so stehen, als wüßten wir, was hier ‹seriös› bedeutet).

Um nun Nachrichten weiter zu entwerten, und um – ein wirklich genialer Zug – zu zeigen, daß die ‹Herren des Wörterbuchs› ein Herz für Menschen haben, ist es seit einiger Zeit gang und gäbe, in allen Nachrichtensendungen Kulturinsassen zu Wort kommen zu lassen. Albertine Devilder nennt das ‹Je-ka-mi›-Nachrichten. Das heisst: Jeder kann mitmachen. Jeder ist wichtig! Jede Meinung ist wichtig! Doch vorher: BILD Dir Deine Meinung. Henriette Orheim und Helmut Hansen schreiben im o.g. Essay ‹Abschied von den Nachrichten› dazu:

«Heute kann jeder in einer Nachrichtensendung mitmachen, denn wenn ‹Infotainment› zum ‹Menschenfunk› wird, müssen wir die Menschen ihre ‹Nachrichten› selber produzieren lassen. Und genau das geschieht. Es gibt fast keine Sendung mehr, in der nicht der Volksmund zu Worte kommt. Bei jeder beliebigen alltäglichen Allfälligkeit wird der Mann auf der Straße nach seiner Meinung gefragt. Völlig belanglose Meinungsäußerungen werden zu einem bedeutsamen Teil der ‹Nachrichten›. Die Befragten liefern weder Perzeptionen noch Apperzeptionen, sie berichten statt dessen schlicht darüber, welches Gefühl sie bei irgendeinem ‹Ereignis› hatten. Dilettanten also. Aber sie sind so wichtig im Menschenfunk, bei dem im Mittelpunkt ja immer der Mensch steht. Und es ist so schlau und einfach und vor allem so folgenlos, ‹Nachrichten› zu ‹Mitmach-Nachrichten› für Dilettanten werden zu lassen.»

In den Nachrichten hören wir also die Sprache der Politiker und das Gestammel von Laien, die meinen, über ihre Gefühle reden zu müssen. Wozu hören wir da noch Nachrichten? Genau! Wir haben es längst aufgegeben.

Wachstum

Zum Dauer-Mantra postdemokratischer Politiker gehört es, immer wieder das Wort ‹Wachstum› zu verwenden. ‹Wachstum› schaffe Arbeitsplätze, so wird täglich behauptet, und da 99% unserer Kulturinsassen nicht mehr in der Lage sind, diese Behauptung zu durchdenken, glauben sie irgendwann daran. Noch einmal Ingo Schulze:

«Die Politik ist zu einem Vehikel verkommen, zu einem Blasebalg, um Wachstum anzufachen. Alles Heil wird vom Wachstum erwartet, alles Handeln wird diesem Ziel untergeordnet.»

Tja, so ist es. Über die Kollateralschäden eines ununterbrochenen Wachstums nachzudenken überfordert ganz offensichtlich sowohl unsere Polit-Darsteller, die auf die Karte des Kapitals setzen, als auch die Kulturinsassen, die nicht einmal wissen, daß sie im finalen Kapitalismus leben.

Abschied von der Universität

Dies wird ein sehr trauriger Absatz, denn es geht hier darum, daß es heute keine freie, unabhängige und unbestechliche Wissensproduktion mehr gibt und keine Instanzen, keine Einrichtungen, in denen unsere postdemokratischen Zustände beklagt werden könnten. Dies beides ist sehr schlimm und beides ist von den derzeitigen Universitäten nichts zu erwarten. Albertine Devilder beklagt das nachhaltig in ihrem Traktat ‹Abschied von der Universität›.

Schon in unserem vielzitierten Arbeitspapier Nr. 11 haben wir uns ausführlich mit den Veränderungen beschäftigt, die an den Universitäten in den letzten Jahrzehnten zu beobachten waren und sind. Die alte, romantische Universität im Humboldtschen Sinn ist schon lange tot. Und nachdem die ‹moderne› Universität ebenfalls abgeschafft wurde, haben wir heute nur noch Exzellenz-Universitäten, die ganz exzellent auf das hören, was das Kapital von ihnen verlangt.

Die postdemokratischen ‹Universitäten› – warum tragen sie eigentlich noch das Wort ‹universitas› in ihrem Namen? – müssen den vermeintlichen Anforderungen einer postdemokratischen Gesellschaft genügen, sie müssen sich ‹marktkonform› gerieren, um in einer ‹globalisierten› Gesellschaft im wechselseitigen ‹Wettbewerb› Produkte auf den Markt zu bringen, die sich verkaufen lassen. Diese Produkte können Studienangebote, ‹Wissen› oder die ausgebildeten Studierenden selbst sein.

Wissen als Ware

Artus P. Feldmann schreibt in seinem Essay ‹‹Wissen› als Ware›:

«Universitäten (werden) heute dazu gedrängt, im ‹Wettbewerb› zu stehen. Nur naive Romantiker fragen sich, wie die Schafferinnen, die Erzeugerinnen von Wissen in einem ‹Wettbewerb› stehen können, und vor allem, in welchem? Geleitet vom neokonservativen Einheitssprachbrei gibt es da neuerdings einen ‹Wissenschaftsmarkt›, den Universitäten bedienen sollen, gibt es Herausforderungen, die Universitäten anzunehmen haben. Marion Schick hat das ‹verstanden›, deswegen durfte sie Präsidentin der Fachhochschule (sic!) München werden und in der Süddeutschen Zeitung vom 15./16. Oktober 2005 ganz zeitgetreu dieses sagen: ‹Vor allem junge Kolleginnen und Kollegen erwarten heute, daß die Hochschule als eine Wissenschaftsorganisation funktioniert, die ihnen den Support bietet, um am Wissenschaftsmarkt erfolgreich sein zu können.›»

Die Wissenschaft als Markt. Die Universität als ‹Supportorganisation›. ‹Wissenschaftsparks› und ‹Kompetenzzentren› als ‹Wissenschaftsstandort›. Und die Studierenden studieren, um den Nachweis zu erbringen, daß sie später sich selbst oder Wissenswaren verkaufen dürfen.

Und wie wird man am ‹Wissenschaftsmarkt› erfolgreich? Durch das Einwerben von ‹Drittmitteln›. Erst- und Zweitmittel genügen nicht. ‹Drittmittel› also. Dieses Wort klingt harmlos. Es verschleiert aber, daß hier das Kapital direkt das bezahlt, was es erforscht haben möchte. Die üblichen Ergebnisse dieser ‹marktkonformen› Forschung lassen sich am Beispiel der Pharmaforschung leicht nachvollziehen: Die wenigen Forschungsbefunde, die für den Einsatz eines Präparates sprechen, werden lautstark ‹vermarktet›, die Untersuchungen ohne positive Befunde werden dagegen verschwiegen und entsorgt. Wissen als Ware. Im Auftrag des ‹Marktes›. Wir müssen uns die derzeitige ‹Wissenschaft› als eine Wissenschaft der guten Nachrichten vorstellen.

Ausblick

Wir möchten die einzelnen oben ausgeführten Punkte nicht Revue passieren lassen, wir möchten sie nicht noch einmal in einem Fazit zusammenfassen. Es ist zu bitter. Søren Benn schreibt in seinem Essay ‹Selten gestellte Fragen zu Ökonomie und Gesellschaft, oder: Worauf wollen wir hinaus?› über die derzeitige Lage unseres Gemeinwesens:

«Die Profiteure des Diskurses besorgen den Diskurs. So führen vermeintlich gesellschaftliche Debatten über tatsächlich ja notwendige Reformen, Umstrukturierungen, Anpassungen an gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu den immer gleichen Ergebnissen in dem Sinne, daß die Profiteure auch weiterhin profitieren. Das Wirtschaftswunder - beileibe keines. Und die unausweichliche Globalisierung, der wir uns stellen müssen, ist anscheinend eine Art Klimawandel, mit dem wir nichts zu tun haben. Wir verleugnen die Urheberschaft der von uns selbst geschaffener Rahmenbedingungen.

Anders ist es kaum zu erklären, daß politische Entscheidungen in der Wirklichkeit 1. Ordnung zu immer prekäreren Lebensverhältnissen für einen immer größer werdenden Teil der Bevölkerung führen, daß die Einkommensschere sich immer weiter öffnet, daß Bildung in Deutschland nur mit sozialer Selektion zu tun hat usw., und daß sich dies in der Wirklichkeit 2. Ordnung, in der Art und Weise also, wie darüber gesprochen wird, nicht widerspiegelt. Nein, mit dem üblichen ‹Newspeak› (Orwell) wird über Leid und Benachteiligung hinweg geplaudert.»


Ja, so ist es. Wir haben keine Demokratie mehr, sondern eine Postdemokratie, denn wir haben keine Wahl mehr zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Wir haben keinen Einfluß mehr, und immer mehr Leute verstehen das und gehen nicht mehr wählen. Denn wir können die Schauspieler, die Polit-Darsteller bestimmen, aber nicht das Stück, das gespielt wird. Das Stück steht fest. Deswegen nennen wir in der ‹Bochumer Arbeitsgruppe› ja den aktuellen Kapitalismus immer den ‹finalen› Kapitalismus. Doch was kommt nach dem Finale?

Wenn in einem der Eingangs-Motti Paul Valéry sagt: «Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht», können wir uns dann vorstellen, daß doch noch einmal eine Zeit kommen wird, in der die Leute sich um das kümmern, was sie angeht? Oder sind der intellektuelle Niedergang, die ‹Ich›-Bräsigkeit, die Verarmung vieler Kulturinsassen, die exorbitante Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden und die Verschweinung des öffentlichen Lebens durch TV, Schmierlappenzeitungen und ‹Internet-Foren› nicht mehr aufzuhalten?

Manchmal denken wir, es gäbe Hoffnung. Helmut Hansen und Albertine Devilder sagen in ihrem Essay «Postdemokratie, Postjournalismus, Hoffnung» dies:

«Klar, das Internet ist eine riesengroße bekritzelte Klotür, eine unübersichtliche Meinungs-Müllhalde. Besonders schlimm sind die vielen Kommentatoren und Foristen in der postdemokratischen Müll-Presse, die ohne jede Ahnung von einem Sachverhalt, ohne jede Bildung und ohne jede Ethik auf die geschickt vorbereiteten Stimuli (Sexismus! Doppelpass für Ausländer! Homo-Ehe! Klima!) ihres Müll-Blattes hereinfallen und in ihrem von der Zeitung erwünschten Schimpfkanon grobe und böse Dummheiten ohne Stil, ohne Verantwortung und ohne die Beherrschung von Rechtschreibung oder Grammatik absondern. […] Aber – und darauf wollen wir hinaus – es gibt auch einige wenige gute, ja exzellente Websites und Blogs […], die die Aufgabe einer kritischen und fundierten Berichterstattung von der Müll-Presse übernommen haben. Hier könnte eine neue vierte Kraft und Gewalt entstehen, die die vergangene – und von ihren eigentlichen Aufgaben her ohnehin kaum zu bemerkende – ‹Gewalt› ablöst. Wie schön!»

In unserem Arbeitspapier Nr. 15 haben wir unsere Welt, die wieder gekehrte Moderne 2.1 als postdemokratischer ‹Markt›, und die Menschen, die damit umgehen und in diesem ‹Markt› leben müssen, zusammengeführt. Wenn Sie, lieber Leser und liebe Leserin, tiefer eintauchen wollen in die unerbittlichen Regeln und Gesetze der Postdemokratie, lesen Sie dieses schöne Arbeitspapier. Und falls Sie am Ende der Verzweiflung nahe sind, Obacht: Wir bieten im 4. Kapitel dieses Papiers ein ‹Rettungsboot› an, in das Sie einsteigen können. Tun Sie das ruhig, wir sind schon drin! Eskapismus wirkt sofort.



Ins Netz gestellt am 14. Mai 2014
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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