BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Was nicht sein darf: Zur automatisierten Exkulpation sozialer Systeme»
von Henriette Orheim & Albertine Devilder
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«Der Welt ist wie den Menschen nicht zu helfen,
weil beide durch und durch Heuchelei sind.»
(Thomas Bernhard)

Einführung

Wir haben in unserem Essay «Zur Exkulpation eines rezenten Idols» eine sorgfältige ‹Wirklichkeitsprüfung› der insgesamt 17 unterschiedlichen Entschuldigungsargumente vorgenommen, mit Hilfe derer der ‹Gesunde Menschenverstand› – bzw. das ‹einfache Volk› mit Unterstützung der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes – einst den Rücktritt eines Idols [1] «Verantwortung bedeutet vor allem Verpflichtung, Vertrauen und Gewissen. Richtschnur meines Handelns war und ist Prinzipienfestigkeit und Grundsatztreue.» (Zitiert nach der Homepage. Dieser Text ist mittlerweile entfernt worden.) und dreisten Plagiators [2] «Ich habe diese Fehler nicht bewußt gemacht. Ich habe auch nicht bewußt oder absichtlich in irgendeiner Form getäuscht und mußte mich natürlich auch selbst fragen, meine Damen und Herren, wie konnte das geschehen, wie konnte das passieren. Das sind selbstverständlich Fehler. Und ich bin selbst auch ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Und deshalb stehe ich auch zu diesen Fehlern. Und zwar öffentlich zu diesen Fehlern, meine Damen und Herren, und bin auch ganz gerne bereit, dies in die hier stehenden Kameras zu sagen.» (Auszüge aus der Rede des Idols in Kelkheim am 21.02.2011.) als Minister [3] «Und wenn es gelegentlich etwas absurd wird, dann hält man die Dinge einfach auch aus. Auch das ist eine Erwartungshaltung, die Sie, glaube ich, an jemanden haben, der in Verantwortung steht. Und so soll's auch sein.» (Siehe Fußnote 2) verhindern wollte. Nun, zum einen hat das mit der Rücktrittsverhinderung nicht geklappt, zum anderen sind die Exkulpations-Argumente wirklich hinreißend, das heißt hinreißend dumm. Lesen Sie sie, lieber Leser und liebe Leserin, und dieser Tag wird zu Ihrem Freund.

In diesem kleinen Traktätchen möchten wir uns nun nicht mit den Entschuldigungsbemühungen ‹einfacher› Bürger beschäftigen, sondern statt dessen mit Exkulpations-Argumenten von Profis. Wobei es unnötig sein wird, so differenziert vorzugehen, wie im oben beschriebenen Fall. Denn uns geht es hier eher um das als Systemreaktion Erwartbare bei eben der automatisierten Exkulpation sozialer Systeme. Fangen wir an.


Der Angriff

Stellen wir uns vor, es gäbe noch Autoren, die sich in einer großbürgerlichen Zeitung wie der ‹Süddeutschen› – oder in einer beliebigen Fachzeitschrift – der Aufgabe annähmen, irgendeiner herrschenden Lehrmeinung zu widersprechen oder gar eingeschliffene Praktiken ihrer Nutzlosigkeit zu zeihen. Gibt es diese Autoren oder Autorinnen noch? Ja, gelegentlich. Kaum noch. Und was geschieht, wenn ein solcher Autor einen Angriff startet gegen eine Lehrmeinung oder Praxis? Es gibt ganz überraschend ähnliche Reaktionen! Egal aus welchem Lager. Also wirklich völlig unabhängig davon, ob sich ein Angriff gegen eine spezifische ärztliche Praktik wie die Prostatabehandlung richtet, überflüssige ärztliche Untersuchungen, das Ekel erregende Elend der Massentierhaltung (unter tatkräftiger Unterstützung von Veterinärmedizinern), die kapitalistische Ausbeutung unserer Wälder, oder ob es sich um die Überlegung eines Autors handelt, daß Texte zur Psychotherapieforschung praktizierende Psychotherapeuten weder instruieren, noch informieren, noch inspirieren. Es ist wirklich gleichgültig, gegen wen oder was sich ein wohl überlegter Angriff richtet. Die Reaktion fällt immer gleich aus. Und genau das hat uns bewogen, dieses Traktätchen zu schreiben.


Verteidigung und Exkulpation

Kurz nach einer öffentlichen Attacke melden sich also Funktionäre, Pressesprecher oder gar Vorsitzende von Berufsverbänden, Sportverbänden, Kammern, Interessengruppen, Vereinigungen, Selbsthilfegruppen etc. etc. zu Wort und versuchen, den Angriff abzuwehren. Bei dieser gleichsam automatisierten Exkulpation zeigen die Profis viel Erfahrung und eine stupende Geübt- und Gewandtheit. Daß sie sich im Interesse ihrer Organisation Angriffen widersetzen, ist zu einer vertrauten und blinden Gewohnheit geworden.

Und worum geht es in der Exkulpation? Nun, es muß ganz deutlich gemacht werden, daß es nicht sein darf, daß ein Verband oder eine Organisation beschuldigt wird, unsinnige Praktiken (meist kapitalistischer Art) oder Lehrmeinungen zu unterstützen und zu propagieren. Wir können sagen, daß es gleichsam die gesellschaftliche Aufgabe von Berufsverbänden und Interessengruppen ist, hier sofort einzugreifen und ihre Ordnung der Dinge wiederherzustellen.

Und wie funktioniert das? Nun, in einer ersten kurzen Stellungnahme macht ein Profi klar, daß die Vorwürfe nicht nur völlig übertrieben, sondern auch völlig haltlos seien. Wenn dem Vorwurf überhaupt eine gewisse Berechtigung zuzuschreiben sei, dann handele es sich hier um einen bedauerlichen Einzelfall, wobei man berücksichtigen müsse, daß die absolute Mehrheit der Ärzte (Forstwirte, Hühnerzüchter, Discounter etc. etc.) sich völlig korrekt verhalten würde. Denn im Mittelpunkt aller Bemühungen der Menschen, für die der jeweilige Verband gerade spricht, stehe der Mensch, das Huhn, der Wald, der Patient, der Klient etc. etc.

Und sehr bedauerlich sei es nun, daß durch diesen unzulässigen und, ja, verleumderischen Angriff auf eine ganze Berufsgruppe das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, Psychotherapeut und Klient, Bauer und Huhn, nein stop, Bauer und Endverbraucher massiv gestört werde, und dies schade ja wohl letztlich allen. Interessant ist noch, daß bei Vorwürfen gegen die Ärzteschaft – wie schwer sie auch sein mögen – grundsätzlich kein Funktionär den Gedanken aussprechen darf, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient werde wohl eher durch ein aktuelles Fehlverhalten oder eine systemimmanente kapitalistische Gier der Ärzte gestört. Nein, das Vertrauensverhältnis wird ausschließlich gestört durch den Überbringer einer unerfreulichen Botschaft. Herrlich! Und wie mittelalterlich!


Finale

Die Logik sozialer Systeme und sozialer Räume fordert zum einen die Aufrechterhaltung und Bewachung von Grenzen zu anderen Räumen, und zum anderen, eine sich ständig perpetuierende Begründung dafür, warum eben dies soziale System einen Sinn hat. Wird dieser Sinn nun von irgendjemand bezweifelt, muß sogleich widersprochen und der Sinn vehement erneut etabliert werden. Denn die Welt, hier vertreten durch Verbände und Organisationen aller Art, darf nicht so schlecht, ungeordnet, unvollkommen oder korrupt erscheinen, wie sie offensichtlich ist.

Die automatisierte Exkulpation sozialer Systeme durch Systemsprecher erfüllt somit eine wichtige Aufgabe in unserem Gemeinwesen: Denn es geht nicht nur darum, die eigenen Systemangehörigen zu befrieden und zu beruhigen (denn das können diese wohl von ihren Sprechern erwarten), sondern auch zusätzlich und wesentlich darum, die Nicht-Systemangehörigen zu tranquilieren, zu sedieren und zu kalmieren. Offensichtlich fühlt sich der ‹Gesunde Menschenverstand› wohl, wenn ihm eine Ordnung der Dinge vorgegaukelt und versprochen wird, die nicht existiert. Und die Skeptikerin amüsiert sich über die Heucheleien.



Erstellt: 20. August 2012 – letzte Überarbeitung: 20. August 2012
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
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