BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Zur sozialen Konstruktion eines ‹unabhängigen› und ‹parteilosen› Kandidaten» von Helmut Hansen
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«Politik: die Führung öffentlicher Angelegenheiten zu privatem Vorteil.»
(Ambrose Bierce, 1842 - 1914)

Wie darüber gesprochen wird

Auch wenn wir in unserer Postdemokratie nun wirklich mit fast allem rechnen müssen, waren das schon nervige Wochen. Denn die ‹eingebetteten Journalisten› dieses unseres Landes schrieben bei jeder sich bietenden Gelegenheit, daß ein bestimmter Kandidat, ein Mann, ein ‹Werbefachmann›, ein Privatier, ein ‹Bürger unter Bürgern›, der sich für irgendein Amt im Süden der Republik bewarb, ‹unabhängig› und gar ‹parteilos› sei, also auf keiner politischen Seite stünde, nur auf seiner eigenen; daß er sozusagen als Privatmann sich zum Wohle der Stadt und der Menschen ‹in die Pflicht nehmen› lassen wolle, um Gutes zu tun. Für alle.

Um wen ging es? Wie immer ist es in den Analysen unseres ‹Skepsis-Reservates› überflüssig, Namen zu erwähnen. Es geht um das Prinzip, es geht darum, welche gesellschaftlichen Umstände einen solchen Kandidaten hervorbringen und mit welchen Mitteln und vereinten Kräften der Journaille ein Bild von diesem Kandidaten sozial hergestellt wird. Genauer: Es geht in unserem Land nie darum, was geschieht, wer jemand ist, was er tut oder läßt, sondern wie über all dies gesprochen wird.

Die ‹Herren des Wörterbuchs› wissen das genau, sie beherrschen den sog. ‹Schwarzen Konstruktivismus› perfekt. Selbstverständlich kann es ihnen nicht gleichgültig sein, wer in den Parlamenten sitzt, nur seinem eigenen Gewissen verantwortlich ist und deswegen gegen Bezahlung alle Aufträge der Herren des Wörterbuchs treulich erfüllen wird. In diesem speziellen Fall, bei diesem speziellen Kandidaten, ging es dazu noch um sehr viel Geld, um ein Projekt, das Milliarden an Steuergeldern vernichten und dadurch das Einkommen diverser Unternehmen und Baugesellschaften erhöhen wird. Das ist für die Herren des Wörterbuchs ein ganz wichtiger Punkt: Im finalen Kapitalismus werden Projekte gemacht, damit irgendjemand privat, nicht der Staat, daran verdient. Die öffentliche Konstruktion eines ‹unabhängigen› und ‹parteilosen› Kandidaten ist in diesem Zusammenhang also schon ein geschickter Schachzug, verbürgt er doch scheinbar, mit den ‹Herren des Wörterbuchs› nichts zu tun zu haben und mit der erforderlichen Plünderung von Steuergeldern nichts im Schilde zu führen.

Dieser ‹unabhängige› und ‹parteilose› Kandidat wurden nun von einer christlichen Partei, einer neoliberalen Partei und von sog. ‹Freien Wählern› [1] Auf der Webseite der ‹Freien Wähler› ist dies zu lesen: «An dieser Stelle bedanken wir uns herzlich bei unserem Kandidaten […]. Er hat mit viel persönlichem Engagement einen sehr sachorientierten und bürgernahen Wahlkampf geführt.» Nach der von uns entdeckten ‹Lehre vom Gegenteil› heißt ‹sachorientiert› das Verleumden des politischen Gegners, und ‹bürgernah› das Aufstellen von Plakattafeln, auf denen er mit Kindern zu sehen ist. Sei es. aufgestellt, mit einem erstaunlichen Werbeetat versehen – so hatte er in der bewußten Stadt die meisten und die größten Plakatierungen; das war wichtig, denn, siehe oben, es ging um Milliarden – und von der mit der Flugbereitschaft der Bundeswehr herbei geeilten Bundeskanzlerin hofiert und unterstützt. Dennoch wurde von der Journaille paradoxerweise immer weiter und immer wieder gebetsmühlenartig betont, der Kandidat sei ‹unabhängig› und ‹parteilos›. Ist das nicht erstaunlich?

Nur nebenbei, damit wir das nicht vergessen: Neben den Neoliberalen sind die christlichen Parteien in Deutschland die einzigen, die noch voll und ganz und alternativlos hinter dem Kapital stehen und permanent für das Kapital arbeiten. Egal ob es um Steuerabkommen, Verbraucherschutz, Tierschutz, was auch immer geht, geschützt wird das Kapital. Bei den sog. Sozialdemokraten ist das nur geringfügig anders. Christen denken und sprechen also ausschließlich für die Herren des Wörterbuchs. Gleichzeitig verleumden sie bei jeder Gelegenheit den politischen Gegner, das Schreckgespenst, die Teufelei, also die ‹sozialistische Weltherrschaft› von Rot/Grün/Links.


Eine Wirklichkeitsprüfung

Nun schauen wir uns den Kandidaten an, auf den die Wahl der Christen und der ‹Herren des Wörterbuchs› fiel. Wir erwähnen nur einige wenige Punkte. [2] Wir halten uns hier an den ausgezeichnet recherchierten Artikel in der Kontext-Wochenzeitung vom 3. Oktober 2012.

  • Zunächst einmal ist der Kandidat Multimillionär. Wie wird man das? Nun man hat einige ‹sehr gut gehende› Werbeagenturen und verkauft diese.
  • Von wem bekam der Kandidat Werbe-Aufträge, als ihm die Agenturen noch gehörten? Nun, etwa von einer sehr mächtigen Arbeitgeberorganisation, die unter dem Tarnnamen ‹Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft› den Deutschen endlich erklären wollte, daß es ohne ‹Privatisierung› von staatlichen Aufgaben, ohne ‹Flexibilisierung› auf dem ‹Arbeitsmarkt› und ohne Niedriglöhne einfach nicht mehr weiter gehen kann. Zig Leute arbeiten für die ‹Initiative›, instrumentalisieren die ‹eingebetteten› rechten Medien und organisieren Talkshows und Internetauftritte. Noch einmal: Wer hinter dieser ‹Initiative› steckt, soll möglichst verborgen bleiben.
  • Doch auch von der großen christlichen Partei gab es Millionen-Aufträge, etwa vom christlich geführten Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem christlich geführten Bundesministerin für Bildung und Forschung oder dem christlich geführten Ministerium für Landwirtschaft. Man kennt sich. Und das führt schon mal zu einem ‹freihändigen› Vergabeverfahren.
  • Unsere Bundeskanzlerin hat mal im Internet einen ‹Zukunftsdialog› geführt. Wer hat den betreut? Genau.
  • Zur Finanzierung seines Wahlkampfes gründet der Kandidat einen ‹Wahlverein›, der sich nicht an die Vorschriften des Parteiengesetzes halten muß und anonyme Spenden ermöglicht. Der Kandidat ist ja auch ‹parteilos›.
  • Der Kandidat wird hofiert, vorgestellt, herumgereicht und umworben von genau dem einen Prozent der Bevölkerung, vor dem sich die anderen neunundneunzig Prozent fürchten: Also von Chefredakteuren und Verlegern von ‹Wirtschaftszeitungen›, von Bankern, Unternehmern und Politikern, die vereint sind unter einem Ziel, daß sich etwas ändern muß! Sie wollen also Gutes tun. Naturgemäß nicht für alle. Wir nennen diese Vereinigung ja nicht ohne Grund die ‹Herren des Wörterbuchs›.


  • Finale

    Verblüfft uns das wirklich, daß – mit ganz wenigen Ausnahmen – die soziale Konstruktion eines unabhängigen› und ‹parteilosen› Kandidaten so glatt, so unbehelligt funktionieren kann? Daß die ‹Herren des Wörterbuchs› es schaffen, daß kaum ein ‹eingebetteter› Journalist es wagt, die ‹Unabhängigkeit› zu bezweifeln oder gar den Kandidaten danach zu fragen? Nein, uns wundert das nicht. Überrascht sind wir allerdings, daß die von den ‹Herren des Wörterbuchs› geplante ‹Revolution von oben› nicht funktioniert hat, daß der ‹unabhängige› und ‹parteilose› Kandidat und Multimillionär nicht in die Fußstapfen des so bewunderten Vorbildes Michael Bloomberg, des Bürgermeisters von New York, treten konnte. Gibt es in dieser in einem Talkessel gelegenen Stadt Bürger, die nachdenken? Ach, das wäre ja mal was!



    Erstellt: 7. November 2012 – letzte Überarbeitung: 7. November 2012
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