BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Postdemokratie, Postjournalismus, Hoffnung»
von Helmut Hansen & Albertine Devilder
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Postdemokratie
«Die primäre Aufgabe des Staates ist es,
Ungleichheit zu gewährleisten.
Also den armen Teil der Bevölkerung daran zu hindern,
den Wohlhabenden das Geld abzunehmen.»
(Boris Groys) [1] Zitiert nach: Süddeutsche Zeitung vom 10.11.2009, Seite 12.

In unserem Sammelreferat ‹Pólis und Postdemokratie› – nebst den Zusätzen und Ergänzungen zu ‹Wählen und Abwählen›, ‹Schamlosigkeit› und ‹Häme› – haben wir ein dunkles Bild unseres Gemeinwesens entworfen: Wir haben insbesondere skizziert, auf was wir uns in unserem postdemokratischen spektaklistischen Gemeinwesen in den nächsten Jahren einzustellen haben: Unser Staat wird in der Spätmoderne zur leeren Hülle werden, die sozialen Unterschiede werden noch größer und schärfer werden, die sekundäre Analphabetisierung wird durch eine verantwortungslose Müll-Presse, die immer mehr der größten Schmierlappenzeitung dieses Landes nacheifert, weiter voran getrieben werden, eine unabhängige Wissensproduktion in den Universitäten wird für eine bezahlte Auftragsforschung aufgegeben werden, spätmoderne Studierende werden mit sinnlosen Lernereien und Abfragereien vom Denken abgehalten werden und auf eine alberne Statistenrolle im großen Theaterstück vorbereitet, und das Theaterstück, das auf der politischen Bühne gespielt wird, der finale Kapitalismus also, dessen neoliberal-naives Programm wir bereits in einem Film von John Ford von 1939 bewundern dürfen, wird ‹alternativlos› sein, denn alle anderen gesellschaftlichen Modelle seien ja, wie es uns sogenannten Wirtschaftsjournalisten und weitere Sonnenhütern des Spektakels als Prostituierte des Kapitals täglich erklären, angeblich gescheitert. Ab und zu werden Star-Schauspieler für dieses Theaterstück gewählt oder, seltener, abgewählt, das Stück selbst aber bleibt auf dem Programm: En suite. Auf Dauer. Bis zum bitteren Ende.

Eines der hervor stechendsten Symptome einer Postdemokratie ist der überaus und überall beklatschte Versuch, auf der einen Seite den Einfluß des Staates zurückzudrängen – was immer das heißen mag, obwohl es meistens bedeutet: Abbau des Sozialstaates, Verzicht auf Kulturförderung und Verkauf des letzten Tafelsilbers – und auf der anderen Seite Kapital, Wirtschaft und insbesondere die Banken mit Milliarden an ‹Transferleistungen›, ‹Wirtschaftsförderungen› oder ‹Rettungsprogrammen› bei Laune zu halten und dabei vor allem keine Gesetze zu beschließen, die Kapital und Wirtschaft mißfallen könnten. Wenn ein Unternehmer zum Beispiel Millionen Hühner und Puten pro Monat quälen möchte, dann ist das seine freie Entscheidung. Da sollte der Staat sich raushalten. Wenn einer meint, Tiere sollten nicht gequält werden, so zeige dies nur, daß er ein linker Ideologe oder – noch schlimmer – ein Gutmensch sei.

Staat und Demokratie haben kapituliert. Sind ohnmächtig, und gefallen sich darin. Wohlstand, Bildung, Sozialversicherung und Sicherheit für alle, das war einmal. Die Republikaner in den Vereinigten Staaten von Amerika sind da sehr konsequent, sie können überhaupt nicht verstehen, warum sich der Staat um die Gesundheit, die Bildung oder die Unversehrtheit seiner Bürger kümmern sollte, dies müsse doch jeder für sich tun. Mit der Waffe in der Hand. Eigenverantwortung nennen das die ‹Herren des Wörterbuchs›, und sie ignorieren die Frage, wie man ‹Eigenverantwortung› übernehmen soll, wenn man trotz eines ‹Vollzeitjobs› nicht genug Geld hat, um ein Leben in Würde führen zu können.

Fassen wir die Aufgaben des Rest-Staates im postdemokratischen Neoliberalismus zusammen, so bleibt nur, allen Unternehmenden ihre Unternehmungen zu ermöglichen. Das ist alternativlos. Wobei die Gewinne der Unternehmenden privatisiert werden dürfen, und die systemrelevanten Verluste, Finanzkrisen und Überschuldungen von allen getragen werden müssen. Noch einmal: Das ist alternativlos. Erst kommen die Banken, dann die Bürger. Und dazu gibt es die unglaubliche Meinung, daß, wenn alle Bürger, Bürgerinnen und Unternehmenden nur an sich selbst dächten und für sich selbst sorgten, sei dies gut für die Pólis insgesamt. Darauf sind die ‹Herren des Wörterbuchs› schon vor längerer Zeit gekommen.


Postjournalismus
«Die Presse kann ihre Macht nur erhalten,
wenn sie den geistigen Tiefstand der Masse faktisch verkörpert. [...]
Die Popularität der Presse ist wirkliche Gemeinheit,
die Presse ist des Pöbels.
Was der Zeitungsleser in den Blättern sucht und findet,
ist der Abklatsch seiner eigenen Niedrigkeit.»
(Karl Hauer) [2] Zitiert nach: Karl Kraus: Die Fackel Nr. 230-231, vom 15.Juli 1907. Seite 7.

Geschichtsbücher erzählen uns die Mär, es habe mal vier Gewalten gegeben: Legislative, Exekutive, Judikative und – die öffentlichen Medien, die die drei zuerst genannten kritisch begleiten und kontrollieren sollten. Nun, davon ist in der Spätmoderne nichts mehr geblieben. Denn daß in den Provinzblättern und fast allen anderen Medien vom Kapital oder einer Regierung vorgefertigte Nachrichten verbreitet werden, ist mittlerweile akzeptiert. Die Berichterstattung ist auf Nachrichten des sogenannten Boulevards bezogen.

Aber fragen wir uns: Gab es wirklich mal eine sogenannte vierte Gewalt, eine unabhängige Presse also? Vermutlich nicht. Vermutlich gab es mal hier und da aufrechte Journalisten, die die unbequeme Aufgabe übernahmen, tatsächlich etwas Unbequemes für die jeweils Herrschenden zu recherchieren oder gar aufzudecken. Mit allen persönlichen Konsequenzen. Schon zu Zeiten von Karl Kraus, unserem Leitstern, war die Presse eng mit Kapital und Regierung verbandelt, sie war korrupt. Sie wollte niemanden ‹informieren›, sondern sie druckte die Verlautbarungen der Herrschenden und Mächtigen, denn jede Nachricht ist und bleibt eine Gelegenheit der Regierung. Ein kluger und wichtiger Satz.

Wie sieht es heute aus? Gibt es noch eine vierte Gewalt? Gibt es noch Zeitungen, die ein Niveau haben und haben wollen? Ja, vielleicht zwei. Der Rest läßt sich als Müll-Presse bezeichnen. Hier werden Verlautbarungen gedruckt und allfällige Gegner des Neoliberalismus täglich beleidigt, verleumdet und verspottet, das ist alles. Braucht man dazu Journalisten? Nein. Das ist Postjournalismus. Ist das bitter? Ja.


Hoffnung
«Woran wir sind, daran denken wir,
weil wir dabei gestört wurden, nicht daran zu denken. -
Nachdenklichkeit heißt:
Es bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.»
(Hans Blumenberg) [3] Rede anläßlich der Verleihung des Sigmund Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt 1980.

Doch es gibt Hoffnung, denn die Kritik an den jeweiligen Machthabern ist in das Internet gewandert. Klar, das Internet ist eine riesengroße bekritzelte Klotür, eine unübersichtliche Meinungs-Müllhalde. Besonders schlimm sind die vielen Kommentatoren und Foristen in der postdemokratischen Müll-Presse, die ohne jede Ahnung von einem Sachverhalt, ohne jede Bildung und ohne jede Ethik auf die geschickt vorbereiteten Stimuli (Sexismus! Doppelpass für Ausländer! Homo-Ehe! Klima!) ihres Müll-Blattes hereinfallen und in ihrem von der Zeitung erwünschten Schimpfkanon grobe und böse Dummheiten ohne Stil, ohne Verantwortung und ohne die Beherrschung von Rechtschreibung oder Grammatik absondern. Man muß sich das nur einmal in der untersten Kategorie der Müllpresse zu irgendeinem Thema anschauen. Wir empfehlen hier Blätter, die die gesamte Welt im Titel tragen oder auf rein gar nichts fokussieren.

Genau so schlimm sind die beinahe täglichen ‹Talkshows› im ‹öffentlich-rechtlichen› TV, in denen jedes Thema von den immer gleichen alten Leuten zerredet, nivelliert und vaporisiert wird. Auf keinen Fall darf die ‹Talkshow› irgendeine Konsequenz, irgendein Ergebnis oder gar irgendeinen Impetus haben. Ach, es ist zum Fremdschämen.

Aber – und darauf wollen wir hinaus – es gibt auch einige wenige gute, ja exzellente Websites und Blogs zur Geschlechterdifferenz, zum Fall Mollath, zum Schavanismus und vielem mehr, die die Aufgabe einer kritischen und fundierten Berichterstattung von der Müll-Presse übernommen haben. Hier könnte eine neue vierte Kraft und Gewalt entstehen, die die vergangene – und von ihren eigentlichen Aufgaben ohnehin kaum zu bemerkende – ‹Gewalt› ablöst. Wie schön!

In der Redaktion des Skepsis-Reservates gingen die Meinungen auseinander, ob wir hier Blogs angeben sollten, die vorbildlich sind im obigen Sinn. Wir denken nein. Gehen Sie auf die Suche, lieber Leser, liebe Leserin, befreien Sie sich von den Analphabetisierungsprogrammen unserer Medien, lesen und verstehen Sie, was unsere Welt im innersten zusammen hält. Und denken Sie nach. Dann bleibt nicht alles so selbstverständlich, wie es war.



Ins Netz gestellt am 2. März 2013
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