BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Türme des Schweigens»
von Stefan Bärnwald
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«Pay your respect to the vultures,
for they are our future.»
Coil, The Last Amethyst Deceiver

Vergnügte Selbstbeschimpfung hier mal wieder als durchsichtiges, bigottes Stilmittel. Das Gejammer nervt. Schweigen? Im Spektrum von Cage, Duchamp, ungefähr. Dabei, sensu Beuys, natürlich vollkommen überbewertet.

Wenn die geschätzte Mitwelt nun meint, es sei wieder einmal Zeit, dort unten das vollumfängliche persönliche Versagen besonders deutlich vor Augen zu führen, sehr gerne. Wie immer freundlich weglächeln und einen letzten Rest Selbstachtung behaupten, irgendwo. Irgendwo ist aber nicht mehr. Implodiertes Vakuum leerer Phrasen. Wände eingebrochen. Trümmer geschliffen. Selbstachtung enthauptet.

Keine Sorge, nichts passiert. Ein letzter Zug bleibt. Was passiert sei? Es gibt diese Dinge, die geben einen letzten Rest, was? Auf die sich schauen lässt und, ja, das ist so in Ordnung. In einer Art Haltung und mit, was? Sinn vielleicht. Beispiel. Selbstachtung behaupten, indem zumindest versucht wird. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen irgendwas bla bla bla was auch immer. So halt. Die Sache mit dem ästhetischen, kreativen, fröhlichen Scheitern. Hülse, Fassade. [Nichts: desto trotz]. Eben. Eigentlich. Und nun.

Heiter Scheitern in geschliffenen Trümmern? Fröhliche Wissenschaft des Scheiterns ist nicht mehr. Scheitern ist jetzt Wirtschaftsfaktor. Schon lange eigentlich, nur yours truly hier war dumm genug, es nicht zu merken. Da tanzt die Selbstachtung, wenn eine Ihrer letzten Quellen nicht nur versiegt. Wenn die Quelle schon lange vergiftet war.

Note to self: Sich aus Weltekel übergeben und an dem eigenen Erbrochenen ersticken auf die Liste der bevorzugten Ablebeoptionen setzen. Ja, weit oben.

Natürlich war das Scheitern als Lebensstil schon lange keine glaubwürdige Chance mehr. Aber das Scheitern aufgeben? Volltextsuche boag.de: «Ihre Suche nach ‹Scheitern› hat Treffer auf 67 Seiten ergeben.» Und nun?

Was machen mit diesen Treffern, in der Rückschau, wenn gewahr wird: Das Scheitern als Prinzip war schon lange vereinnahmt, in den ewig falschen, für immer siegreichen endzeitkapitalistischen Händen. Nur eine weitere, aber vermutlich die perfideste, Waffe der M3-Klasse. MenschenManipulationsMethode. Für den Hirnvollwaschgang. Inklusive Agenturen für ‹gescheites Scheitern› zum Selbstmarketing. Und dem kreativen Scheitern als Chance für Personalführung und Organisation. Wir haben’s nur nicht bemerkt und besingen es noch, ach so herzensverblendet, in 67stimmiger Polyphonie. Wie peinlich.

Also Aufgeben, das Scheitern? Obige Ablebeoption wird auch für den Multiplayer-Modus angeboten, sollte Interesse bestehen, nebenbei. Nur für den Fall, vielleicht, dass die Kultur des Scheiterns ähnlich dümmlich, naiv, albern gepflegt wurde, wie von yours truly, hier. Wie lächerlich. Und nun? Retour zu Sisyphos trallalla? Nö. Nicht schon wieder, um auch einmal Evo Präkogler zu zitieren.

Alternativen. Sterben als Chance. Oder anders. Kulturen des Sterbens. Türme des Schweigens. Ein letzter Zug bleibt.

Szenenwechsel. Mumbai, Indien. Zoroastrischer Bestattungsritus: Im Moment des Todes fährt das Böse in die Sterbenden, Leichnam wird unrein, unberührbarer Leichnam darf niemals mit den guten Elementen Feuer, Wasser, Erde in Verbindung treten. Bringt Verderben, sonst. Beerdigen, verbrennen, dem Wasser übergeben also leider ausgeschlossen. Bleibt nur die luftige Himmelsbestattung, in Türmen des Schweigens. Freiluftauditorien, Leichname in konzentrischen Kreisen, der äußere Ring den toten Männern, der Mittlere den verschiedenen Frauen, der Innere den verendeten Kindern. Hoch oben, in den Türmen des Schweigens.

Ein letzter Zug bleibt.

Und wer freut sich? Genau. Die Geier werden satt, in den Türmen des Schweigens, und die Elemente bleiben schön sauber. Auch sonst gutes Leben für die Geier, in Indien. Heilige Kühe rennen frei rum, heilige Kühe sterben, Geier freuen sich über ihre Kadaver. Homöostase überall, ökologisch und spirituell, alles in guter Ordnung, irdisch und astral und so.

Leider nicht mehr so richtig. Die Geier sterben, in Indien. Heilige Kühe und Menschen halten es ohne Schmerzmittel nicht mehr aus. Analgetika für die heiligen Kühe gibt es, in Indien, seit 20 Jahren. Diclofenac vor allem, vulgo Voltaren. Nur, die Geier vertragen keine Schmerzmittel. Die Geier vergiften sich an den Leichnamen, der heiligen Kühen und der Menschen. Mensch und heilige Kuh sterben schmerzbetäubt, Kadaver voll mit Medikamentenrückständen, Geier verenden an Nierenversagen. Ergebnis: Keine Geier mehr, für die Himmelsbestattung, oben, in den Türmen des Schweigens.

Ökologisch-spirituelles Fließgleichgewicht endgültig aufgehoben. Elemente verunreinigt. Terminal verseucht.

Um das festzuhalten: Die heiligen Kühe ertragen dieses Dasein nur noch betäubt. Und die Geier vergiften sich an unseren Kadavern.

Braucht Ihr noch weitere Zeitansagen?

Letzter Zug: Sucht mich auf den Türmen des Schweigens. Einfach immer der Spirale des Irrsinns folgen.



Kommentar:

Liebster Stefan,

da ist mir gestern der Glücksfall wiederfahren, mich mit einem Amtsarzt über die Bestattungskultur in unserer schönen Heimatstadt unterhalten zu dürfen. Und natürlich konnte ich nicht anders, als dabei Deinen Abschiedstext mitzudenken. Wenn Du dies vielleicht doch irgendwo liest, hier ein neues Wort, das Dir ganz sicher gefallen würde: Die Leichenrunde.

Die Präferenz der Mitmenschen in dieser unserer Monokultur geht heute offenbar deutlich Richtung Feuerbestattung. In Bochum lassen sich bereits sieben von zehn Menschen verbrennen. Was es mit Deinem Blick von den Türmen des Schweigens aus der zorastrischen Perspektive bedeuten mag, wenn das heilige Element Feuer derart verdorben wird, glaube selbst ich nachvollziehen zu können. Gnade unserem befohlenen Dasein. Was nun die Leichenrunde ist? Nach einer Feuerbestattung können die Toten natürlich nicht mehr obduziert werden. So muss der Amtsarzt, im Falle ihrer Crematio, rechtlich verbindlich ein letztes Mal die Leichen beschauen, ob sich nicht vielleicht doch Anzeichen für eine fragwürdige Todesursache finden. Und so dreht der Arzt jeden frühen Morgen als erste Amtshandlung seine Leichenrunde zum Krematorium. Im Sonnenaufgang wägt er dort die Toten äußerlich ein letztes Mal ab - einem Anubis gleich, der in der entseelten Welt kein Herz mehr findet zum Wiegen für sein Totengericht.

Das ist schön, nicht? Vorgestern waren in Bochum übrigens 33 Tote zu beschauen, gestern 28. Da sich seiner Erfahrung gemäß nun bei einem von fünf Verstorbenen die Putrefaktion im fortgeschrittenen Stadium befindet, müssten dies bei gerundeten sechzig Verstorbenen ungefähr zwölf Leichen gewesen sein, deren Verwesungsgeruch der Amtsarzt auch heute noch - nach all den Tausenden von Toten - kaum ertragen kann. Musste ich auch dabei an Dich und Dein Lieblingslieblingsschlusskapitel aus Krasznahorkais Melancholie des Widerstands denken, dass Du mir in den Letzten Jahren so oft vorgelesen hast? Natürlich musste ich, Stefan.

Ich vermisse Deine Worte.
Bettina



Ins Netz gestellt am 25. November 2014
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