BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Der Kompaß der Mittelschicht - Eine Feldstudie» von Albertine Devilder
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«Es gibt Menschen,
die es zeitlebens einem Bettler nachtragen,
daß sie ihm nichts gegeben haben.»
(Karl Kraus) [1] Die Fackel Nr. 279/80, vom 13.5.1909, Seite 5.

Die Fragestellung

Stellen wir uns vor, wir besuchen eine kleine Party, eine kleine Feier aus Anlaß einer Pensionierung oder Berentung. Einer braucht nicht mehr zu arbeiten, er wird in Zukunft seinen Ruhestand genießen. Er lädt ein. Da sind also nun zehn Menschen versammelt, alle sind gebildet, alle haben studiert, alle haben immer gut verdient, alle halten sich für eher links-orientiert, und alle nähern sich nun langsam dem Rentenalter, welches einer von ihnen soeben erreicht hat.

Unsere Fragestellung: Worüber sprechen diese Mitmenschen den ganzen Abend im kleinen Kreis? Welche Lebensthemen, welche Weltsicht, welchen Kompaß haben sie? Was ist für sie wichtig? Interessieren sie sich als Kulturinsassen etwa für irgendetwas kulturelles? Also: Bücher, Filme, Theaterstücke, Ausstellungen? Beschäftigen sie sich vielleicht mit Kulturkritik? Interessieren sie sich für Politik im Allgemeinen? Also, noch einmal: Worüber sprechen sie den ganzen Abend?

Unsere Methode: Einer unserer besten Undercover-Agenten besucht diese Veranstaltung und zeichnet im Nachhinein die wichtigsten diskurrierten Themen auf.


Die Feldstudie

Im folgenden werden wir zum Teil Originalzitate unseres Agenten wiedergeben, zum anderen Teil aber auch die getreulichen Aufzeichnungen paraphrasieren und Einordnungen vornehmen. Beginnen wir mit der allerersten Aufzeichnung a posteriori:

  • «Ich bin schockiert, entsetzt und fassungslos. Wie kann es sein, dass 10 erwachsene Menschen, die alle eine Menge Geld verdienen oder verdient haben dürften in ihrem Leben, egal welches Thema ihren Weg kreuzt, über nichts anderes reden als über Geld oder wie und wo man es sparen kann? Ich hätte es nicht für möglich gehalten!»

  • Über was wurde nun im einzelnen gesprochen? Welchen Möglichkeitsraum gab es?

  • Ein großes Thema waren Billig-Airlines, und die Frage, welche die billigste sei. Sehr wichtig in diesem Diskurs war, daß man immer aufpassen müsse, von den Billig-Airlines nicht mit versteckten Kosten über den Tisch gezogen zu werden.
  • Ein zweites wichtiges Thema waren ‹Schwerbehindertenausweise›. Keiner der Partygäste war offensichtlich ‹schwerbehindert›. Es ging in diesem Diskurs um die Fragen, wie und auf welchem Wege man einen solchen Ausweis erhalten, wie viel ‹Prozent› man wie erreichen und vor allem wie viel und wie vielfältig man damit sparen könne.

  • Dazu etwas aus der Originalaufzeichnung:

  • «Ich kann es nicht wirklich richtig beschreiben, ich hätte die Diskurse akustisch aufzeichnen müssen, was nun wirklich nicht erlaubt ist. Aber, dies ist meine Interpretation: Dieser Tonfall, diese immer wieder sich vordrängelnden, besserwisserischen und auch schrillen Stimmen, diese paralinguistischen Merkmale, die alle auf etwas Frustriertes, vom Leben enttäuschtes hinwiesen.»
  • Ein weiteres Thema waren Urlaube, was nach dem Diskurs über die Billig-Airlines zu erwarten war. Hier ging es in erster Linie darum, wie man an das günstigste Angebot mit Vorbucher-Rabatt gelangen und wie man nach dem Urlaub Mängelrügen plazieren könne, um ein Teil des Geldes wieder zurück zu bekommen.
  • Ein sehr wichtiges Thema war die ‹Überwinterung›. Etliche Bekannte und Freunde dieser zehn Kulturinsassen überwinterten bereits in südlichen Gefilden. Es ging nun darum, wo es am günstigsten sei, wo es besondere Vorteile gebe. Auf Lanzarote etwa könne man sich zum ‹Fußball-Gucken› sehr einfach in ein bestimmtes All-Inclusive-Hotel einschmuggeln, und dort seien die Getränke dann ja umsonst. Florida sei auch eine sehr gute Adresse, weil dort viele alte und sehr geizige Menschen überwinterten und somit die Preise günstig beeinflußten, also eher reduzierten.
  • Ein weiteres wichtiges Thema waren günstige Kreuzfahrten. Das Schöne daran sei, daß nicht nur alles super organisiert, sondern eben auch alles inclusive sei. Unser Agent hat diesbezüglich auf einer einschlägigen Internetseite dieses für die hier beobachtete Zielgruppe bezeichnende und überaus passende Zitat gefunden:
  • «All Inclusive Urlaub hat den entscheidenden Vorteil, dass man schon vor dem Urlaub die Kosten sehr genau abschätzen kann. Wenn man keinen All Inclusive Urlaub bucht, dann muss man immer noch die zusätzlichen Aufwendungen für Essen und Trinken und so manches andere berücksichtigen. Das ist teilweise gar nicht so einfach, da man diese Kosten im Vorfeld nur ungefähr schätzen kann.»
  • Ein sich daran anschließendes Diskursthema waren Trinkgelder. Im Rahmen von Kreuzfahrten wurde festgestellt, daß die Arbeitsbedingungen der Leute auf dem Schiff schon nicht so gut seien, dennoch sei die Entlastung, ihnen keine Trinkgelder geben zu müssen, spürbar. Es wurde auch erwähnt, daß diese Kreuzfahrtschiffe ökologisch gesehen schon sehr schlecht da stünden, daß es aber noch größere Schiffe gebe, und die seien der wahre Umweltskandal.
  • Ein sich wiederum an die Trinkgelder anschließendes Thema waren Bettler, wobei Trinkgelder und Gaben an Bettler zusammen gehörten. In wenigen Sätzen wurde dieses Thema übereinstimmend abgeschlossen, daß Bettlern ganz grundsätzlich niemals etwas zu geben sei. Der Hauptduktus in der Argumentation war die These, daß man letztlich von Bettlern betrogen werde.

  • Abschließende Anmerkung unseres Agenten:

  • «Wenn ich hier die gebildete und eher ‹linksorientierte› Mittelschicht beobachten durfte, wie dunkel wird es denn jenseits dessen aussehen?»



  • Kommentar:

    Sehr geehrte Frau Devilder,

    wie traurig Ihre Studie ist. Und wie überaus zutreffend! Ich versuche ja, solche Kongregationen unbedingt zu meiden, wenn das denn möglich ist. Aber ich weiß, welche Themen meine Mitmenschen beherrschen und in welche ungeahnten Niederungen sie sich leichtfertig begeben.

    Das schlimmste, das bitterste, erwähnen Sie am Ende Ihrer Feldstudie. Da heißt es, daß sich alle einig gewesen seien, daß Bettlern niemals etwas zu geben sei. Das ist schon schlimm genug. Aber nun die Begründung: «Der Hauptduktus in der Argumentation war die These, daß man letztlich von Bettlern betrogen werde.» Das ist wirklich schockierend. Denn die wohl situierte ‹Mittelschicht› erwartet am Ende von einem Bettler, ja, letztlich vom Elend per se!, jene moralische Integrität, welche sie selbst doch so offenkundig zur Gänze vermissen läßt; erwartet jene geläuterte Ebenmäßigkeit mit der anmaßenden und geradezu bizarren Rechtschaffenheit derer, die von ihrer eigenen moralischen Havarie, von ihrer kleinlichen Verkommenheit nichts wissen wollen. Oh je.

    Wie brachte es Ihre ‹Agentin› nur fertig, in dieser ‹Runde› nicht handgreiflich zu werden und mindestens Püffe, Knüffe und Kopfnüsse – wo nicht Nachhaltigeres – auszuteilen? Welche Selbstbeherrschung!

    Mit finsterem Dank für Ihren bitteren Einblick,
    herzlichst,
    Ihr Simp L.



    Ins Netz gestellt am 18. August 2015
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