BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Mal so, mal so: Ursachensuche im Alltag»
von Albertine Devilder
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Ich war schon ein wenig irritiert, als sich in letzter Zeit im Skepsis-Reservat einige Beiträge über den Wirtschaftszweig des ‹Fußballsports› einfanden. Da ich jedoch im Laufe meines Lebens ganz zwangsläufig und ohne besonderes Streben zu einer großen Männerversteherin geworden bin und mittlerweile weiß, daß das gemeinschaftliche Verfolgen der Richtungsänderungen eines runden Balles für sehr viele Männer eine – vermutlich auf einer genetischen Aberration beruhende – unvermeidbare Urgenz hat; und da ich mir deswegen schon oft von durchaus interessanten und klugen Männern habe erklären lassen, Betrachtungen des ‹Fußballsports› in vivo oder im TV seien so attrahierend, weil dessen ritualisierte Dramatik nicht nur an das ‹Leben› erinnere, sondern eben gar wie dieses selber sei, möchte ich mich – eingedenk dieser anmutigen männlichen Argumentation – zu Beginn dieser kleinen Suada eben gerade auf den ‹Fußball› beziehen, um an ihm und mit seiner Hilfe eine kleine Marotte des gesunden Menschenverstandes darzustellen und auszubreiten, die ich im weiteren dann als ein populäres Sprech- und Argumentationsmuster unserer spektaklistischen Kultur dekonstruieren möchte.

Ein ‹Fußballspiel› also. Das hat drei Ausgänge. Sieg, Niederlage, Unentschieden. Wir betrachten im folgenden den mittleren Fall. Da geht also ein «Fußballspiel» verloren. Das ist nichts besonderes. Nur wenige Kapitalgesellschaften können dies mit einem erheblichen finanziellen Aufwand zu einem seltenen Ereignis machen. Andere Unternehmen trifft dieses Ereignis häufiger. Aber darum geht es jetzt nicht. Denn unabhängig davon, ob ein Fußballunternehmen reich oder arm ist, interessant und aufschlußreich ist, was die an einem Fußballspiel direkt oder indirekt beteiligten Personen zu dem Ereignis eines verlorenen Spieles sagen. Klar, da wird viel erzählt, in einem spezifischen Deutsch, außerhalb jeglicher PISA-Kategorien – also ohne Konjunktiv, ohne Präteritum, ohne Perfekt, ohne Plusquamperfekt, ohne Futur I, und ohne Futur II. Ein Beispiel? Wir schalten uns in die laufende Übertragung ein: «Wie war das denn in der 60. Minute, was haben Sie da gefühlt?» «Ja gut, der wo die Ecke macht, macht die auf den langen Pfosten, ich geh rein, komm aber nicht hoch, normal ist der drin, aber so ist das, wenn man unten steht, die einfachsten Dinger kriegt man nicht rein.»

Schön gesagt, aber ich möchte in diesem Traktat gar nicht den besonderen sprachlichen Möglichkeiten einzelner Angestellter einzelner Unternehmen dieses Wirtschaftsraumes nachspüren. Bevor Sie, lieber Leser und liebe Leserin, nun langsam die Geduld verlieren, da Sie meinen, sich in einer Laurence Sterneschen Digression zu verlieren, möchte ich schnell die beiden Worte vorstellen, um die es mir in diesem bescheidenen Traktätchen geht: Nach einem verlorenen Fußballspiel wird in der letzten Zeit von denjenigen, die die ‹Verantwortung› für dieses verlorene Spiel tragen, überaus häufig ein ganz bestimmter Attributionsort herangezogen. Das ist spannend. Das schauen wir uns an:

«Am Anfang stehen wir hinten gut und räumen dem Gegner keine Chance ein. Leider kassieren wir dann in der zweiten Halbzeit durch einen «individuellen Fehler» doch noch ein Tor.»

Ach! Ein «individueller Fehler» war es! Jetzt haben wir's! Und: Das ist nicht nur so dahingesagt. Da verbirgt sich eine nette Alltagslogik. Schauen wir uns mal an, auf was diese Sprachfigur vom ‹individuellen Fehler› verweisen soll:

Gehen wir noch einmal und vielleicht zum letzen Mal auf den ‹Fußballsport› ein: Da ist ein Verein, der hat eine Mannschaft, einen Trainer, und viele andere, die die oben schon erwähnte ‹Verantwortung› auf ihren Schultern tragen. Der Verein hat nun ein Spiel verloren. Wie wird dieses Ereignis bewältigt? Welche Standardrituale des Urteilens werden herangezogen? Die «Ursachensuche in der Person». Genauer: Das Beenden der Ursachensuche im Aufspüren eines ‹individuellen Fehlers›. Und auf was zeigt gerade das Sprachskript vom ‹individuellen Fehler›? Nun, das liegt nahe, denn nach der Niederlage und nach der erfolgreichen Ursachensuche läßt sich eines mit der in diesen Kreisen üblichen ‹Sicherheit› sagen: Der Verein war und ist in Ordnung, die Mannschaft war und ist in Ordnung, der Trainer war und ist in Ordnung, das vom Trainer verordnete und von der Mannschaft ausgeführte taktische System war und ist in Ordnung. Alles war und ist in Ordnung. Nur, leider, einer hat gepatzt. Ganz individuell.

Ganz nebenbei: Zum Glück verstehe ich nichts vom Fußballsport, deswegen kann ich hier die schlichte und einfache Frage stellen, ob nicht ganz grundsätzlich ein Stürmer nur dann ein Tor schießen kann, wenn er daran nicht von einem Verteidiger gehindert wird? Oder anders: Agierten die Verteidiger einer Mannschaft fehlerlos, könnten die gegnerischen Stürmer doch gar keine Tore schießen. Ist das klar? Oder ist das zu weiblich, also zu logisch gedacht?

Aber weiter, weg vom ‹Fußball›. Diese Attribution von Ereignissen in komplexen Systemen auf einzelne Systemangehörige ist in unserer Kultur sehr beliebt:
  • Lesen wir in einer Zeitung, daß irgendwelche Ärzte jahrelang den Krankenkassen Behandlungen von Leuten in Rechnung stellen, die schon längst gestorben sind, oder daß irgendwelche Zahnärzte sich den von ihnen einzubauenden Zahnersatz äußerst preiswert in China herstellen lassen, dann aber bei den Krankenkassen die Preise für deutsche ‹Qualitätsware› abrechnen, kurz, lesen wir wieder einmal von irgendwelchen ärztlichen Betrügereien, dann ist eine Reaktion so sicher wie das Amen in der Kirche: Die für den Betrug zuständige «Kassenärztliche Vereinigung› beteuert, daß es sich hier um einen Einzelfall handele und daß man nun nicht die hart und beinahe ohne jedes Entgelt arbeitenden Ärzte in einen Topf der Diffamierung werfen und eine «Hetzjagd» beginnen dürfe. ‹Individuelle Fehler› waren das also. Na dann. Gut zu wissen.
  • Lesen wir mal etwas von Schmiergeldzahlungen von Müllentsorgern und -verbrennern an lokale Politiker, was hören wir da an Urteilen und Attributionen? Genau! Das waren ‹individuelle Fehler›. Einzelfälle. Gut zu wissen.
  • Lesen wir mal etwas über Finanzbetrügereien im großen Stil und lernen dabei eine Menge über die Gier reicher Leute, was hören und lesen wir dann über final-kapitalistische Bereicherungssysteme an sich? Genau. Hier spielten ‹individuelle Fehler› eine Rolle.

  • Lieber Leser, liebe Leserin, die Logik dieser Attributionsweise ist klar: Die Ursachenerklärung durch das Heranziehen eines ‹individuellen Fehlers› soll dazu führen, daß niemand auf den Gedanken kommt, in lokalen, familialen oder größeren sozialen Systemen sei irgendetwas nicht in Ordnung. Wir sollen nicht merken, daß auch etwas strukturell falsch sein könnte. Durch die Attribuierung auf ein einzelnes (Fehl)verhalten wird eine einzelne Person abgewertet und damit das soziale System, welches den einzelnen doch diesen individuellen Fehler machen ließ, nicht gefährdet. Das System – die Familie – darf niemals verteufelt werden. Also: Exkulpierung der Systemstrukturen durch Blamierung des Einzelnen. Geht doch. Was sagen Männer immer? ‹Fußball› sei wie das Leben? Hm, könnte stimmen.

    Und jetzt kommt noch eine schöne Pointe. Denn die Schonung sozialer Systeme durch die Attribution von Systemproblemen auf ‹individuelle Fehler› eines einzelnen Systemangehörigen funktioniert umgekehrt zur Logik der Ein-Personen- und Einzelfall-Statistik (siehe den Punkt 2.2 im 5. Teil der «Kleinen Psychologie des Urteilens»). Bei den überaus populären Urteilen, die einer Ein-Personen-Statistik folgen, wird ja von einem lebendigen konkreten Einzelfall aus auf eine Grundrate, eine Grundhäufigkeit in einem sozialen Raum geschlossen. Das Motto ist hier: Kennst du einen, kennst du alle. Hier schließt man also gerade aus der Beobachtung eines Einzelfalls auf Strukturen und Prozesse innerhalb eines Personen- oder Sozialsystems. Überfällt beispielsweise ein Angehöriger einer ethnischen Minderheit in Deutschland eine Tankstelle, dann wird dieses Einzelereignis, dieser Einzelfall, dieses individuelle Verhalten als typisch für das Verhalten aller Systemangehörigen, also aller Angehörigen dieser ethnischen Minderheit angesehen.

    Aus einem individuellen Fehler heraus wird beim eingangs erwähnten Beispiel aus dem Bereich des Fußballs also keineswegs auf Strukturen in einem sozialen System geschlossen, in dem der Fehler zu beobachten war. Im soeben geschilderten Beispiel, in dem ein Angehöriger einer ethnischen Minderheit einen kriminellen Akt vollzieht, wird aber mit Hilfe dieses individuellen Fehlers ganz locker auf die Grundgesamtheit eines ethnischen Raumes geschlossen und damit dieses soziale System denunziert.

    Also, noch einmal: Mal ist ein Einzelfall ein individueller Fehler, der nicht typisch für die Gesamtheit der Systemangehörigen ist; und mal ist ein Einzelfall ein individueller Fehler, der typisch für die Gesamtheit der Systemangehörigen aus diesem sozialen Genre ist. Das ist schon ganz nett. Mal so, mal so. Der gesunde Menschenverstand nimmt es eben wie es kommt. Geht doch.

    Und wie kommen wir nun aus diesem Traktätchen wieder heraus? Wie finden wir nach diesen überaus klaren und scharfen Analysen zurück zu unserer Eutonie? Was verschafft uns nach diesen Disturbationen wieder einen zarten inneren Frieden? Nun, da kommen nur wenige Geister in Frage. Zaubern wir diesmal Karl Kraus herbei! Und wenn wir das nächste Mal wieder hören oder lesen, daß irgendjemand einen ‹individuellen Fehler› begangen habe und wir uns darüber ärgern, wie einfach und billig man soziale Systeme exkulpieren kann, dann sagen wir zu uns selbst den folgenden kleinen Aphorismus, den wir zu diesem Behufe tunlichst auswendig lernen und immer parat haben sollten:

    «Es ist eine schreckliche Situation, dazuliegen, wenn die Pferdehufe der Dummheit über einen hinweggegangen sind, und weit und breit keine Hilfe.» [1] Aus der Fackel Nr. 259, vom 13.7.1908, S. 46.



    Erstellt: 4. März 2003 – letzte Überarbeitung: 4. März 2003
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