BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Halbbildung»
von Holger Wyrwa
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Souverän spielt der deutsche Kleinbürger auf der Tastatur seiner Halbbildung. Die ‹Basis›, von der er aus denkt und fühlt, ist das Banale an sich, weil es auf wenigen auswendig gelernten Zitaten beruht. Der Kleinbürger reiht diese seine Wissens- oder Gefühlszitate unbekümmert aneinander und verbreitet sie nicht weniger unbekümmert.

Was der Kleinbürger zu sagen hat, ist ein zusammengewürfeltes Allerlei, ein soziales Quodlibet, ohne Substanz, ohne Zusammenhang, ohne ein einigendes Band, ohne Tiefe. Hat er zum Beispiel irgendwo und irgendwann einmal den psychologischen Begriff der ‹Verdrängung› gehört, wird der Kleinbürger über Nacht zum weltbesten Verdrängungsspezialisten, denn alles Menschliche erklärt sich ihm von nun an durch - «Verdrängung». Als selbstgeschulter Hobbytherapeut durchsucht er fortan akribisch das Leben anderer auf «Verdrängungen» aller Art.

Nicht anders hält er es mit anderen Splittern des «Wissens», die er tagein tagaus mit großer Aufmerksamkeit sammelt, mal aus dem Radio oder dem Fernsehen, selten aus einer Zeitschrift, fast nie aus einem Buch, und wenn doch, dann nur, wenn es sich wie ein Comicheft ohne Punkt und Komma lesen ließ. Sein so aufgeschnapptes Wissen wird von ihm jedoch immer nur ‹assimiliert›, das heißt, an die ihm bereits ‹bekannten› Wissenssplitter angepaßt. Niemals würde der Kleinbürger ‹akkomodieren›, das heißt, sein vorgebliches Wissen angeblichen Gegebenheiten anpassen.

Der Kleinbürger begnügt sich also mit dem einmal ‹Gewußten›. Er lernt nicht mehr weiter, denkt nicht mehr weiter und bewegt so in seinem Kopf nur das, was er schon immer gedacht hat, auch wenn es scheinbar variiert. Von ihm aus gesehen herrscht in seinem Kopf die beste Ordnung. Denn er kennt sich aus. Selbstverständlich fühlt er auch nur das, was er schon immer gefühlt hat. Mehr will er auch gar nicht.

Im Vollbesitz dieses umfassenden Wissensschatzes, den er nie wieder antastet und in Frage stellt, fühlt er sich der Welt gewachsen. Alles erklärt sich ihm mit den von ihm aufgegriffenen Versatzstücken der Wirklichkeit, die an Verzerrungen nicht zu überbieten und an Dummheit nicht zu unterbieten sind. Aber all' seine Wahrheits- und Wirklichkeitssplitter zusammen geben ihm das Gefühl, alles Wichtige zu wissen - und jederzeit etwas Wichtiges zu sagen zu haben. Möchte man sich eine lebendige Vorstellung von einem prototypischen Kleinbürger verschaffen, so muß man nur an bestimmte Politiker denken.

Kommt der Kleinbürger mit anderen Kleinbürgern zusammen, freut er sich königlich, wenn es ihm gelingt, einen komplizierten und mit Fremdwörtern gespickten Satz auszusprechen. Er weiß natürlich nicht, was der Satz bedeutet, aber angesichts der Reaktion seiner Mit-Kleinbürger auf seine Wissensgaukelei klopft er sich vor Vergnügen auf die Schenkel. In solchen Situationen und Runden fällt der Kleinbürger nicht aus seiner Rolle heraus, sondern er findet in sie hinein. Ja, hier, in seinem ihm gemäßen sozialen Raum, läuft er zur Höchstform auf. Denn nur hier kann er ungestraft weit unter seinem vorgetäuschten Niveau bleiben.

Dem Kleinbürger gelingt es sehr gut, seine Halbbildung vor sich selbst zu verstecken. Doch für jeden, der Augen und Ohren hat, ist sie offenbar.

Und damit haben wir schon alles über die «Bildung» des Kleinbürgers gesagt.



Erstellt: 3. September 2003 – letzte Überarbeitung: 3. September 2003
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