BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Phrasen»
von Holger Wyrwa
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Wenn Kleinbürger sich unterhalten, dann gibt es nur ein Ziel: Gespräche über das Leben, den Sinn des Lebens, die Abgründe der eigenen Person und über alles, was ernsthaft ist oder werden könnte und das eigentliche Menschsein anrührt oder anrühren könnte, andauernd und routiniert zu vermeiden. In einer Gesellschaft des Spektakels ist es außerordentlich wichtig, daß die regierten Kleinbürger «nie, in keiner Hinsicht, den Rahmen durchstoßen können, den andere für sie [...] geschaffen haben.» (Vgl. dazu die Einführung zu dieser Reihe von Traktaten.) Es geht dem Kleinbürger also immer darum, den Gesprächsball möglichst flach zu halten und bloß keine Tiefe oder Intensität aufkommen zu lassen, die ihn völlig überfordern und erschrecken würde. Kleinbürger haben in ihrer Halbbildung ein untrügliches Gespür dafür, sich aus allem herauszuhalten, was ihre Welt in Frage stellen könnte. Die Etablierung einer Beziehung mit sprachlichen Mitteln, die außerhalb der jeweiligen kommunal definierten «Zentralrede» (Botho Strauß) liegen, ist beim Kleinbürger nicht möglich. Wer es dennoch versucht, wird ausgelacht - oder geächtet.

In welchem Rahmen bewegt sich der Kleinbürger, wenn er mit anderen Kleinbürgern spricht? Über was redet er? Über Fußballergebnisse oder Kochrezepte, über die Funktionsvielfalt von Handys, Computern und anderen technischen Geräten oder Kosmetik- und Diät-Tips, über Kollegen, Männer und Frauen im besonderen und im allgemeinen, aber all dies nur, solange es an der Oberfläche und damit im einmal Ausgesprochenen gefangen bleibt. Das Niveau der «schlimmsten Lichtquelle der Welt» sowie gewisser Zeitungen und Zeitschriften darf nicht überstiegen werden: «Da der Kleinbürger bedingungslos angepaßt ist, ist ihm prinzipiell alles suspekt, was er nicht versteht.» (Vgl. dazu den kleinen Text über den Charakter des Kleinbürgers.)

Also erzählt ‹man› sich Tagesereignisse, schmückt sie aus, und übertreibt dabei zuweilen, um sich die Aufmerksamkeit der anderen Kleinbürger zu sichern. ‹Man› erzählt, daß ‹man› beim Arzt gewesen sei, in einem ‹Stau› gestanden, ein Schnäppchen gemacht oder irgendjemandem, der einem nicht gefährlich werden kann, mal so richtig die Meinung gesagt habe. Mit der ihm eigenen Theatralik bauscht der Kleinbürger dabei Banalitäten zu Ereignissen auf. «Neulich habe ich wegen meines ALDI-Computers bei der Hotline angerufen, weißt Du, wie lange ich in der Warteschleife war?! Unglaublich!!» Nur nebenbei: Kultur ist Reichtum an Erregung.

Das ist die Welt des Kleinbürgers: Phrasen und Floskeln über sich selbst wie über andere zu dreschen und sich dabei den Anschein von Tiefsinnigkeit zu geben. Wenn er wenigstens ehrlich zu seiner Unfähigkeit in allen wichtigen Belangen des Lebens stehen könnte! Wenn er doch wüßte, was er alles nicht weiß! Wenn er doch wüßte, was er alles nicht ausdrücken kann! Doch nein, er weiß es nicht. Ahnt er es? Nein. Denn selbst sein Lebensschmerz-Geraune unter Alkoholeinfluß ist nur Pose, nicht Philosophie.

Wenn zwei Kleinbürger sich unterhalten, so ist der jeweils andere immer nur Statist im Kommunikationsgeschehen, bestenfalls Souffleur von Stichworten. Und trotzdem trennen sich beide Kleinbürger, nachdem sie perfekt aneinander vorbei geredet haben, in dem Bewußtsein voneinander, ein gutes Gespräch geführt zu haben. Wie kann das sein? Eben weil beide in der zwischen ihnen gleichgeschalteten Welt der Phrasen und Floskeln zu Hause und gefangen sind. Sie würden nie begreifen, daß es eine sprachliche Welt - und damit eine Vorstellungswelt - jenseits ihres Phrasen-Gestammels gibt. Vereint im Sprachkosmos ihres sozialen Raums verstricken sie sich in den Fesseln ihrer sprachlichen Defizite. Jedes Interview mit einem Sportler oder Politiker, jede Sequenz in einer Soap, legt darüber Zeugnis ab:

«Ich denke, daß wir unter dieser Regierung nichts zu lachen haben!»
«Jaja. Die Lage ist ernst!»

Oder:

«Ich vermisse meinen Mann!»
«Ja. Das kenne ich. Ich habe meinen Mann zuerst auch vermißt. Aber dann ging es mir besser!»
«Er hatte auch seine guten Seiten!»
«Ja, die hatte meiner auch!»
«Was er jetzt wohl macht?»
«Was Kerle schon so machen!»

Der Stumpfsinn des kleinbürgerlichen Dialoges, der eigentlich nur ein versteckter Monolog ist, zeigt aber auch deutlich, daß der Kleinbürger nicht wirklich ein Interesse an der Person des anderen hat. Durch unzählige Gespräche darauf trainiert, bezieht der Kleinbürger jeden Satz, den ein anderer sagt, auf seine eigene Erfahrung, so daß zwei Kleinbürger nur von sich selbst sprechen, wenn sie miteinander zu sprechen glauben.

Aus diesem Grund - und weil der Kleinbürger, wie wir gesehen haben, in der Welt der Phrasen zu Hause ist - darf man sich in der Not niemals an ihn wenden, denn seine sprachlichen Reaktionen bewegen sich ausschließlichen im Sagbaren, nicht Überraschenden. Mit abgeleierten Standard-Formulierungen, mit sinnleeren Sprachskripten, kurz, mit Phrasen behelligt er das ästhetische Sensorium des in Not Geratenen:

«Kopf hoch, das wird schon wieder!»
«Da müssen wir alle durch!»
«Stell' Dich nicht so an!»
«Ich habe das auch schon mal erlebt!»

Diese Phrasen dokumentieren auf plastische Weise die Größe und Ausstattung der kleinbürgerlichen Scheuklappen und seine Unfähigkeit, ein über Phrasen und Floskeln hinausgehendes Gespräch zu führen. Gefangen in seiner Oberflächenwelt - die selbst durch gelegentliche Momente einer gewissen Oberflächentiefsinnigkeit nicht erschüttert werden kann - bewegt sich der Kleinbürger allzeit im Kreis seiner sprachlichen Möglichkeiten.

Das Gefühl, das Leid des anderen mittels Empathie zu erspüren, es anzusprechen, die Situation aus der Sicht des anderen zu sehen, im positivsten Sinne sich in diese andere Person hineinzuversetzen und ihm eben keine Ratschläge und Rezepte zu geben, die auch bei einem selbst nicht funktionieren würden, ist dem Kleinbürger nicht möglich. Dafür ist sein Horizont zu klein:

«Geh doch einfach nicht mehr hin!»
«Gib ihm den Laufpaß!»
«Trenne Dich!»

Je weniger an Möglichkeiten-Vielfalt herrscht, um so einfacher gestrickt sind die Lösungen. Für den Kleinbürger gibt es deshalb nur Lösungen innerhalb der Konvention. So würde ein Kleinbürger einem Kollegen immer empfehlen, eine Beförderung anzunehmen, weil sein Vorrat an Möglichkeiten ihm sagt, daß eine Beförderung nur gut sein kann: Sie hat ein höheres Prestige zur Folge und bringt natürlich auch ein höheres Einkommen mit sich. Daß sie mehr Arbeit beinhalten, letzte Reste von Wertvorstellungen korrumpieren, ja, daß eine Beförderung dem Kollegen letztlich Schaden zufügen könnte, das kann ein Kleinbürger nicht verstehen. Das ist nicht Bestandteil seiner Welt. Sein Vorrat an Sprachfiguren - und damit an geistigen Denkbarkeiten - ist begrenzt und überschaubar. Und genau aus diesem Grunde ist die Welt des Kleinbürgers so berechenbar, so bar jeder Überraschungen. Unsere finale Merkatokratie benötigt viele viele Kleinbürger.



Erstellt: 4. September 2003 – letzte Überarbeitung: 4. September 2003
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