BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
Zur Psychologie des Kleinbürgers - Eine fortgesetzte Polemik: «Denken»
von Holger Wyrwa
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Schon in der Einführung zu dieser kleinen Reihe von Polemiken wurde eine besondere Eigenart des kleinbürgerlichen Denkens beschrieben: «Er geht den Dingen niemals auf den Grund, sondern schwimmt statt dessen lieber vergnügt an der Oberfläche aller Erkenntnisse herum.» In diesem Traktätchen, in dieser Suada werden wir nun einige weitere Facetten des kleinbürgerlichen Denkens näher betrachten. Springen wir deswegen gleich mitten ins kleinbürgerliche Leben hinein und stellen fest: Der Kleinbürger denkt nur insofern, als es für den Hausgebrauch reicht. Punkt.

Alles, was jenseits des eigenen Oikos liegt - also auch alles Künstlerische, Philosophische, Ästhetische, ‹Höhere› - ist dem Kleinbürger zutiefst suspekt. Wittgensteins Satz aus dem Tractatus «Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können als auch nicht sagen was wir nicht denken können.» [1] Ludwig Wittgenstein (1984): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. § 5.61.beschreibt in seiner Radikalität nicht nur sehr gut den geistigen Raum des Kleinbürgers, nein, der Kleinbürger würde sich über diesen Satz, würde er ihn irgendwo aufschnappen, köstlich und anhaltend amüsieren. Nur nebenbei: Die Tragik des Nicht-Kleinbürgers, des Skeptikers, des Sisyphos des Großen und Ganzen liegt darin, daß dieser die Wahrheit des oben zitierten Satzes intuitiv fühlt und die Grenzen seiner geistigen Möglichkeiten schmerzvoll erahnt. Der Kleinbürger ist ahnungslos, guter Dinge gräbt er sich in seinen Meinungen und Urteilen ein und schaufelt - Sand.

Der Kleinbürger favorisiert stets das Unzweideutige, das Klare, das Offensichtliche, das, was auf der Hand liegt, und nicht das, was hinter dem Offensichtlichen verborgen sein könnte. Deswegen ist er mit medialen Offensichtlichkeiten und politischem Geschwätz auch so leicht zu beeinflussen und zu lenken. Zeig ihm schöne Bilder von der Welt, und da er diese ja mit seinen ‹eigenen› Augen gesehen hat, glaubt er, etwas gesehen oder gar verstanden zu haben. Anschließend spricht er über das Gesehene. Und was er sagt, hat immer folgendes Grundmuster: «Die Aufteilung allen Geschehens in schwarz-weiß oder richtig-falsch, die Zweifelsfreiheit aller Äußerungen, die Linearität aller Betrachtungen.» (vgl. das Traktätchen über den «Charakter» des Kleinbürgers.) Denn das Leben muß für den Kleinbürger eindeutig sein, und alles, was ihm im Leben widerfährt, muß eine Ursache haben. Der Kleinbürger liebt also den binären Code, das zweiwertige Denken, bei dem alles gut oder schlecht, richtig oder falsch, schwarz oder weiß ist. Wir können auch sagen, daß sich sein Denken auf endlos geraden Schienen bewegt, die keine Abzweigung, keine Weichen, keine Abweichungen kennen. Dabei hilft ihm seine besondere Vorliebe für Tautologien, insbesondere dann, wenn er damit Ursache und Wirkung vereinen kann: «Harald lügt, weil er ein Lügner ist.» So geht das.

Ausgerüstet mit diesem Denk-Instrumentarium baut sich der Kleinbürger seine Welt und hält sich damit das Leben vom Leib. Es gibt für ihn keine Überraschungen mehr. Und wenn doch, dann sperrt er diese rasch in eine seiner hermetisch verriegelbaren Denk-Schubladen ein und dreht ihr solange die Luft ab, bis sie sich in eine ihm genehme Vertrautheit verwandelt.

So ist ihm von allen Zeichen und Satzzeichen auch der Punkt das Liebste, der das Ende einer jeden Bewegung symbolisiert. Ist dieser Punkt einmal von ihm gesetzt, läßt er keine weiteren Denk- oder Erkenntnisbewegungen mehr zu. Denn das Denken des Kleinbürgers wird von der prinzipiellen Überzeugung getragen, daß er - von gelegentlichen Ausfallerscheinungen natürlich einmal abgesehen - stets das Richtige und Wahre zu treffen in der Lage ist: «So ist es!»

Kleinbürger zementieren gerne ihre Aussagen und geben ihnen das Aussehen einer Statue, die sich nicht bewegt. Die Geschmeidigkeit und Anmutigkeit einer gedachten Differenz, das Denken in einer Funktion des ‹Sich-selbst-Reflektierens› oder gar Lust und Qual ständiger Denk-Bewegungen gehören nicht zu seinem Repertoire, unabhängig davon, ob er nun Hochschulprofessor, Generalsekretär oder Klofrau ist. Wir können in diesem Traktat über das ‹Denken› des Kleinbürgers auch schlicht sagen: Der Kleinbürger denkt nicht, weil er das, was denken eigentlich sein könnte, sträflich verkürzt und vereinfacht. Selbstverständlich glaubt er das Gegenteil, da er in seinem Denken letztlich doch nur das tut, was alle tun, und da er in seinen Denkergebnissen doch immer die Sagbarkeiten seines sozialen Raumes ausspricht, die alle anderen auch aussprächen, dächten sie.

Das Denken des Kleinbürgers biegt sich beim Vorwärtsbewegen gleichsam wieder zurück. Diese rudimentäre Art des Denkens - die nur eine Kreisbewegung im Banne zweiwertiger Ausschließlichkeiten ist - befriedigt ihn vollständig und läßt ihn mit zunehmendem Alter immer träger werden. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß sich der Kleinbürger irgendwann einmal in seinem Leben von seinem Denken in die Höhe oder in Stücke reißen ließe. Aber es kommt vor. Das ist dann eine Sternstunde. Da kann alles passieren.

Zufrieden mit seinem ihm überschaubaren Denkvermögen läßt der Kleinbürger einem Gedanken, der ihm zugetragen wird, prinzipiell zu wenig Zeit, als daß dieser ihn ernstlich verunsichern oder betroffen machen könnte. Diese geistlosen Schnellschüsse des ‹Verstehens› beherrscht der Kleinbürger auf das Vortrefflichste. Er räumt ‹befremdlichen› Gedanken einfach keine Chance ein: «Nein, nein, nein, das ist nicht so!» So ‹versteht› der Kleinbürger im Diskurs mit anderen alles im Mitgeteilte auf seine Weise - viel zu schnell. Dies tut er, damit er nichts ‹verstehen› muß. Ansonsten liefe er Gefahr, seine gut sortierten Schubladen mit einem säurehaltigen Mittel auflösen zu müssen. Ganz konsequent gibt sich der Kleinbürger vorwiegend solchen sozialen Situationen hin, in denen von ihm nichts Geistiges gefordert wird und in denen er sich bequem einrichten kann.



Kommentare:


9. Oktober

Hallo Holger,

Lobhudelei liegt mir eigentlich ebenso fern, wie Werbung in eigener Sache. Hier mache ich mal beides.

Deine kleinen Abhandlungen der Kleinbürgerei lesen sich wirklich erfrischend. Mir selbst den Spiegel vor die Nase zu halten, indem ich so tue, als würde ich auf andere zeigen, ist auch eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Manchmal gibt es bei solchen Reflexionen tatsächlich etwas über sich und damit die Welt zu verstehen. Womit ich beim eigentlichen Thema meiner Anmerkung wäre, dem Verstehen. In unserer leider noch nicht allzu gut gefüllten Rubrik «Kunst des Verstehens», wollen wir ja eben das Verstehen verstehen. Und Du beschreibst meinem Verständnis nach in Diesem Text sehr schön, dass der typische Verstehensreflex gefräßig die größte Vielfalt bis auf die persönliche Kleingeistigkeit zusammenfaltet, um sie dem schmalen Raum zwischen den Scheuklappen zu assimilieren. Verstehen als Abwehrreaktion, das ist immer die Gefahr, wenn uns Menschen Verständnis entgegenbringen. Die Kunst des Verstehens beginnt für mich bei der Öffnung der persönlichen Kleingeistigkeit gegenüber den vielfältigen Ungereimtheiten, die uns unsere Welt so darbietet. Akkomodation also. Lernen vielleicht. Oder gar Transformation. Auf jeden Fall aber eine Art Wandel in den persönlichen Voreinstellungen. Aber da haben wir Kleinbürger ja dann doch meist zu viel Bammel vor, denn Offenheit gegenüber Wandel würde uns unseres Kleinbürgerdaseins entheben. Deswegen schließen wir uns darin mit unseren vorschnellen Urteilen lieber ganz tief ein.

Viele Grüße,

Betty

PS: Weil er so schön zu Deinem Schlußabsatz paßt, wärme ich den guten Spruch einfach noch mal auf: «Bitte verstehen Sie mich nicht zu schnell» (André Gide).



Erstellt: 8. Oktober 2003 – letzte Überarbeitung: 9. Oktober 2003
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